Henning Marx

Mitgefühl kann tödlich sein


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während das zweite auf Höhe des hinteren Aufgangs zum Stehen kam. Der größeren Limousine entstieg kurz darauf ein Mann in dunkelgrauem Anzug, der gemessenen Schrittes die Stufen nach oben nahm, um daraufhin an der Haustür zu klingeln. Kurze Zeit später trat ein distinguierter Herr in das Licht der Portalbeleuchtung, der einen dunklen Mantel, einen Hut sowie einen Aktenkoffer trug. Bevor die beiden das vor dem Regen schützende Vordach verließen, spannte der Fahrer einen Regenschirm auf, so dass er seinen Begleiter trockenen Fußes bis zu der Limousine geleiten konnte, wo er diesem die hintere Tür auf der linken Seite öffnete. Aus dem zweiten Fahrzeug war hingegen niemand ausgestiegen.

      Bis die beiden Pkw sich der Grundstücksausfahrt näherten, dort für einen Moment stoppten und in die Bergstraße Richtung Süden einbogen, hatte sich der stark vermummte Mann die nächsten drei Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorgearbeitet. Der Austräger befand sich inzwischen in einem schlecht beleuchteten Teil der Straße, weil hier ein großer Baum die Straßenlaterne verdeckte und deren Licht weitgehend abschirmte. Aus der einmündenden Seitenstraße fiel an dieser Stelle ebenfalls nur ein schwacher Schimmer aus der parallel verlaufenden Brückenstraße.

      Der Vorstandsvorsitzende Brandner hatte sich bereits die Morgenzeitung vorgenommen, als sein Chauffeur direkt vor sich den Austräger zwischen den geparkten Autos auf die Straße treten sah und gezwungen wurde, abrupt zu bremsen.

      »Passen Sie doch auf, Weltke. Schlafen Sie noch?«, zog er sich umgehend den Ärger seines Chefs zu.

      »Entschuldigen Sie, Herr Brandner. Der Mann ist mir unmittelbar vor das Auto gelaufen«, versuchte der zu Unrecht Gescholtene sich zu rechtfertigen.

      »Ich weiß schon. Es sind immer die anderen. Das höre ich den ganzen Tag. Passen Sie gefälligst besser auf«, akzeptierte sein Insasse diese Erklärung nicht.

      Innerlich ärgerte er sich über diese Ungerechtigkeit, während er in stoischem Tonfall antwortete: »Selbstverständlich, Herr Brandner.«

      Der Austräger hatte mittlerweile die Straße mit seinem Bollerwagen überquert und dabei durchaus registriert, wie auf der Beifahrerseite des folgenden Pkw sofort nach der überraschenden Bremsung die Tür geöffnet worden und ein Mann neben den Wagen getreten war. Völlig gelassen entnahm die gebeugte Gestalt seinem Wägelchen einen weiteren Stapel mit Nachrichten, die er hier nun direkt am Gehweg in die Briefkastenschlitze einwerfen konnte.

      Gleichzeitig schaute er den beiden Limousinen hinterher, die am Ende der Bergstraße rechts abbogen und damit aus seinem Sichtfeld verschwanden. In aller Ruhe notierte er auf einem seiner Zettel: »5.45 Ankunft, 5.51 Treffpunkt. Fahrer, zwei Personenschützer.« Diesen Bogen steckte er in keinen Briefkasten, sondern verstaute ihn sorgfältig in seiner Manteltasche.

      Kapitel 16

      Kai hatte bei Ariane übernachtet, weil sie auf diese Weise zu Fuß in die Stadt gehen konnten. Ariane wohnte in der Bergstraße, während Kai immer noch in seinem Studentenwohnheim, Im Neuenheimer Feld 680, gewöhnlich nur INF abgekürzt, in einer WG lebte. Außerdem hatten sie derzeit Arianes Wohnung für sich alleine. Ihre Mitbewohnerinnen waren über Weihnachten zu ihren Eltern nach Hause gefahren. Weil einen Tag vor Silvester damit zu rechnen war, dass es in der Innenstadt gegen Mittag voll werden würde, hatten sie sich den Wecker sehr früh gestellt und beschlossen, im »Hemmingway´s« zu frühstücken. Sie verließen die Wohnung gut gelaunt, auch weil sie ihre Flugtickets nach Miami im Reisebüro des »Darmstädter Hofzentrums« abholen wollten.

      Als sie zur Haustür herauskamen, schaute Ariane noch schnell in den Briefkasten. Sie fand dort aber nur einen Handzettel, den sie bereits im Begriff war, in die Mülltonne zu werfen, bevor sie doch noch neugierig wurde. Irritiert stutzte sie und las beim Weitergehen vor: »Horoskop für die Bergstraße. Die Einkommen der Anwohner werden durchschnittlich im kommenden Jahr steigen. Trennungen und neue Partnerschaften werden sich in etwa die Waage halten. Die Gesundheit dürfte vor allem in den ersten Januartagen bei vorzeitigem Verlassen von Wohnung oder Haus leiden. Schlafen Sie daher lieber eine Stunde länger als gewöhnlich. Alles Gute für das kommende Jahr, Ihre Bergstraßen-Astrofee.«

      »Was soll das denn sein?«, schüttelte Kai verständnislos den Kopf.

      »Keine Ahnung«, blieb auch Ariane ratlos. »Womit sich die Leute so die Zeit vertreiben.«

      Sie schob den Zettel in ihre Manteltasche und nahm Kais Hand. Der Schneeregen des frühen Morgens war in einen Nieselregen übergegangen, als die beiden wach geworden waren, und hatte inzwischen ganz aufgehört.

      »Sag mal. Was ich dich schon lange fragen wollte: Wem gehört eigentlich diese riesige Villa da vorne?«

      »Die mit den Treppen und dem Eingangsportal?«, versicherte sich Ariane, weil es insbesondere auf der Ostseite der Straße nicht wenige Prachtbauten gab.

      »Ja.«

      »Dort wohnt ein Vorstand der BASF, Brandner«, erklärte sie ihm.

      »Nicht schlecht. Könnten wir auch gebrauchen, was?«

      »Nö, viel zu groß, da müsste ich dich andauernd suchen gehen«, scherzte Ariane und schmiegte sich nicht nur wegen der feuchten Kälte eng an ihren Freund. »Außerdem könnte ich mich nicht daran gewöhnen, wenn morgens der Chauffeur samt Personenschutz vorfährt, um uns abzuholen.«

      »Echt? Nee«, war Kai durchaus beeindruckt.

      »Doch. Lass uns lieber kleinere Brötchen backen. Ich möchte nicht immer Angst um uns und unsere Kinder haben«, war sich Ariane sicher, diese Art von Sorgen nicht zu wollen. »Letztens wurde erst ein Fürth-Sprössling entführt«, unterstrich sie die Berechtigung ihrer Bedenken.

      »Stimmt wohl«, gab Kai ihr recht. »Von wie vielen Kindern redest du im Übrigen?«

      »Was schlägst du vor, Prinzgemahl?«

      Zur gleichen Zeit saß Thomas Sprengel in seinem Büro und suchte im Internet nach einer Adresse. Lene hatte gestern in der Post die Einladung zu Professor Himmelreichs Beerdigung gefunden, die für den kommenden Dienstag angekündigt wurde. Dadurch war ihm wieder eingefallen, noch wegen der Ursache der Explosion auf dem Boot nachforschen zu wollen. Inzwischen hatte er eine Telefonnummer der »Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung« ausfindig gemacht.

      »Hansen, ›BSU‹«, meldete sich ein Mann mit norddeutschem Akzent ohne Hast.

      »Sprengel, Morddezernat Heidelberg«, fügte er als kompetenz- wie vertrauensbildende Maßnahme hinzu. »Können Sie mir sagen, ob bereits Erkenntnisse zu der havarierten Segelyacht vor Barbados vorliegen?« Er nahm jedenfalls an, dass es davon in letzter Zeit nicht noch mehr gegeben hatte.

      »Ich schau mal nach«, zeigte sich Herr Hansen hilfsbereit, »aber warum interessiert das einen Kommissar aus Heidelberg?«

      »Ich war an der Rettung der Überlebenden beteiligt und möchte wissen, ob ein Fremdverschulden vorliegt.«

      Herr Hansen zeigte keine Reaktion. »Moment, ... hier haben wir es. Da waren die Kollegen aber schnell.« Er lachte. »Wahrscheinlich war die Aussicht auf einen Flug in die Karibik sehr verlockend. Haben Sie auch so ein trübsinniges Wetter?«

      »In der Tat. Vermutlich wäre ich besser dort geblieben.«

      »Ich muss Sie leider enttäuschen. Das sieht nicht danach aus, als ob ein Fall für Sie dabei herausspringen könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist ein Ersatzkanister mit Schiffsdiesel undicht gewesen, so dass geringe Mengen davon ausgetreten sind und sich in der Backskiste verflüchtigt haben. Das erklärt ohne Zweifel den Zeitpunkt der Explosion. Als der Deckel der Kiste ins Schloss gefallen ist, muss es einen kleinen Funken gegeben haben, der das Diesel-Luft-Gemisch, das sich im Laufe der Fahrt dort angesammelt hatte, gezündet hat.«

      »Und das ist sicher?«, war Thomas Sprengel überrascht wie ungläubig.

      Der Andere atmete hörbar ein. »Was ist schon sicher in diesem Leben? Der Ort der Explosion lässt keinen anderen Schluss zu, zumal die Kollegen wohl noch ein kleines Stück eines Kanisters gefunden haben, das nicht komplett