Frans Diether

Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt


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beenden konnte. Um ein Hemd, eine Hose und ein paar Stiefel gaben sie Kaya an Tahnker. Die Verbindung der beiden sollte auf dem kommenden Fest geschlossen werden. Und während Frysunth einen kräftigen Schluck des kräftigen Trankes durch die Kehle rinnen ließ, stand sein Weib hinter ihm, massierte sie mit kräftigen Händen seine muskulösen Schultern, sein Wohlgefühl in schwindelnde Höhe treibend. Bald wuchs in beiden das Verlangen, sich ohne die Beobachtung durch die Kinder, man wusste ja nie, ob sie wirklich schliefen, aufs innigste nahe zu kommen. Heiß hämmerte die Sonne gegen das Haus. Heiß waren die Körper der Eheleute, so heiß, als trugen sie alle Sonnenstrahlen des langen Sommers in sich. Bald kannten sie nur noch einander, sahen und hörten nichts als ihr lustvolles Stöhnen, ihre animalischen Schreie. Erschöpft und glücklich lagen sie auf dem Boden. Sie sollten das Spiel der Liebe viel öfter pflegen, auch wenn es keine Leibesfrucht mehr erwecken konnte. Gis Arbeitseifer würde ihnen die nötige Freiheit schenken, ihnen viel von der Mühsal des Tages nehmen.

      "Das sind die letzten Ähren. Die Speicher sind voll, die deinigen wie die deines Bruders Odas, meines Vaters." Stolz klang aus Tammos Worten und Ärger über die Bevormundung durch den Stiefvater, über die fehlende Würdigung seiner herausragenden Position, über die schmachvolle Gleichstellung mit dem dahergelaufenen Sachsenbastard, der noch immer fast nackt wie ein ungebildeter Heide umherlief, dessen schlechter Einfluss bereits auf die Brüder abfärbte. Tammo musste sich zwingen, nicht verächtlich auf den mit entblößtem Oberkörper vor ihm stehenden Stiefvater zu schauen. Fehlte es denn allen hier an Standesgefühl und Sitte? Frysunth nahm das alles wohl wahr, gab sich jedoch große Mühe, ruhig und freundlich zu wirken, auch wenn ihn der Ton reizte, er innerlich über die zwar standesgemäß wirkende, allerdings bis auf den letzten Faden durchgeschwitzte Tracht des Ziehsohnes lächelte, Tammo die eingenommene, über seine Brüder erhobene Position nicht zugestand.

      "Gib deiner Schwester alles, was du auf der Haut trägst, dass sie es wasche, du in reinem Kleide auf das Fest gehen, deiner zukünftigen Würde als Herr des Odas-Hofes gerecht wirst."

      Frysunths Worte ließen Tammo erst staunen, dann jubeln, innerlich nur, dafür umso heftiger. Nach außen blieb er gefasst. Zu lange staute sich Ärger in ihm, durchflutete Hass seine Gefäße, als dass er sich vor dem Onkel, dem weniger begüterten Bruder seines verehrten Vaters Odas zu überschwänglicher Äußerung seiner Gefühle hinreißen lassen wollte.

      "Ich meine es ernst", sprach Frysunth weiter. "Gib deine Kleidung zum Reinigen und reinige dich auch selbst. Wir, deine Mutter", er nahm Altje, die schon einige Zeit neben ihm stand, bei der Hand, "und ich trafen gute und weitreichende Entscheidungen. Wir wollen sie in würdigem Rahmen verkünden."

      Inzwischen war auch Kaya herbeigekommen, von den Worten des Stiefvaters nicht minder überrascht.

      "Nun zieh dich schon aus", forderte sie so nachdrücklich, dass Tammo, noch immer unter dem freudigen Schock der großartigen Ankündigung stehend, sich des Hemds, der Hose und der Stiefel entledigte und seinen Brüdern zum nahen Waldbach folgte.

      Die Abenddämmerung versprach sie, der aufkommende Wind brachte sie, die lang ersehnte Abkühlung. Die Tür des Hauses stand weit offen. Frysunth, der Hausherr, saß davor, mit seiner Familie einen Kreis bildend. Entsprechend der Aufforderung der Eltern trugen sie ihre besten Gewänder, die, welche sie für das Erntedankfest vorgesehen hatten. Nur Kaya ging wie immer in grobem Stoff und ohne Schuhe. Es war doch Sommer. Sie konnte doch die Göttin nicht durch widernatürliches Verhalten erzürnen. Lieber erzürnte sie Frysunth und Altje und Tammo. Erwartungsvoll blickten alle auf Frysunth. Er musste Großes zu sagen haben. Allein Kayas Blick wanderte in Gis Richtung. Wie lange konnte sie nicht mit ihm sein, wie lange ihn nicht mehr sprechen. Die harte Arbeit verschlang sie beide völlig. Des Nachts verfielen sie in herbeigesehnten, viel zu tiefen, weil viel zu kurzen Schlaf, getrennt durch eine hölzerne Bank, welche Frysunth zwischen den Lagern der Jungen und Mädchen und als mahnendes Zeichen aufgestellt hatte. Sie sollten sich wie Geschwister verhalten, sagte dieses Zeichen unbarmherzig. Gut sah er aus, der fremde Junge. Woher kam das mit Rehfell verzierte Hemd? Woher kam die lederne Hose? Woher kamen vor allem die guten Stiefel, mit denen so mancher Winter zu überstehen wäre? Kaya befiel eine Ahnung, eine grausame Ahnung. Gis trug doch nicht etwa die Früchte der gemeinsamen Jagd? Er sollte sie doch erst nach dem Fest erhalten, sie durch harte Arbeit auf Tahnkers kleinem Hof verdienen, auf diese Weise einen Grund haben, dem sinnlosen Besäufnis der Erwachsenen fern zu bleiben.

      "Meine lieben Kinder", hob Frysunth an. "Dieses Jahr brachte Trauer, große Trauer. Es brachte auch Freude, große Freude."

      Er hob den Bierkrug an die Lippen, nahm einen kräftigen Schluck, entließ die gleichzeitig eingesogene Luft mit kräftigem Geräusch und sprach weiter.

      "Ich verlor erneut ein Kind, meinen geliebten Sohn. Vier von euch verloren den Vater, meinen geliebten Bruder."

      Tammo räusperte sich, konnte ein zynisches Lachen nur mühevoll unterdrücken.

      "Doch die Götter zeigten ihre Gunst, offenbarten sich durch ein starkes Zeichen, schenkten meinem Weibe und mir fünf starke Kinder und euch Eltern, Vater und Mutter, die euch lieben, für euch sorgen, eure Zukunft aufs Beste planen." Frysunth war es gewohnt zu sprechen. Schließlich stand er dem Dorfe vor, musste er in Streitsachen urteilen und sein Urteil eingehend begründen. Doch was er an diesem Abend zu sagen hatte, ging ihm nahe, hatte Einfluss auf das gesamte weitere Leben seiner Familie. Er nahm einen weiteren, noch tieferen Schluck, rülpste erneut und noch lauter als beim vorherigen Mal, setzte den Krug mit Bedacht ab und sprach mit Bedacht weiter.

      "Auch der neue, der Christengott war uns gnädig." Er wollte den für sich wiederbelebten, den bei Gis vermuteten und von Kaya offensichtlich zur Schau gestellten alten Glauben nicht als die alleinige Wahrheit bezeichnen, die christlichen Gefühle seiner Frau und auch Tammos Gefühle nicht über Maß verletzen. "Er gab uns reiche Ernte und Frieden, hielt die Wikinger fern, bewahrte uns vor Krankheit und das Dorf vor Unglück. Wir bauten ihm eine neue Kirche. So zeigten wir unsere Ergebenheit. Und offenbar waren sich die Götter einig, uns für unser Tun zu belohnen, waren sich darin offenbar einiger als die Menschen, welche sich in ihrem Namen die Köpfe einschlagen."

      Wieder blieb Frysunth der Einzige, der in seinen Worten die absolute Wahrheit sah. Doch man widersprach dem Hausherrn nicht, weil man ihn fürchtete, so wie Tammo oder weil man keinen Sinn darin sah, so wie Kaya es tat.

      "Es ist an uns, die Zeichen der alten Götter richtig zu deuten und auch den Weg, den uns der Christengott weist, mit frohem Mut zu gehen. Und es ist an der Zeit, die Frucht, die mein hochverehrter Bruder Odas in seine Kinder legte, zu ernten." Frysunth blickte tief in Tammos Augen. Sah er eine kleine Träne? Gelang es ihm, das überhebliche Herz des jungen Mannes zu erreichen? Er wollte es gewinnen, ihn nicht zum Feinde haben. Er brauchte ihn als Verbündeten, wenn es zur nächsten Wahl kam. Tammo durfte dann wählen, und Frysunth wollte dessen Stimme. Er musste dafür einen hohen Preis zahlen, dem Sohn des ungeliebten Bruders den größten Hof des Dorfes überlassen, die Verhältnisse aus Odas Zeit fortschreiben. Doch das war immer noch besser, als einen Bruderzwist auszulösen, aus dem Gis, sein erwählter Erbe, als Verlierer hervorgehen würde. Und sein Blick wanderte weiter, glitt über die Gesichter von Tammos Brüdern, die sich in das Schicksal der Nachgeborenen zu fügen hatten, für die es sowohl auf dem Hofe ihres Ziehvaters, als auch auf dem von Odas hinterlassenen Hof nur die Knechtsrolle gab. An sie hatte er wenig zu verteilen. Sie müssten sich Tammo unterordnen oder fortgehen. Die Freiheit, dies zu entscheiden, wollte er ihnen zumindest einräumen. Mehr Gedanken widmete er den beiden nicht, dachte er doch bereits zu lange nach, unterbrach er seine Rede bereits zu lange, sah er bereits wieder Hass in Tammo aufkeimen. Doch bevor Frysunth weitersprach, sollten seine Augen noch die der Ziehtochter suchen. Kaya, sie war so anders, hatte im Aussehen nichts mit Odas gemein, hatte in ihrer ganzen Art nichts mit ihren Brüdern gemein, lief große Gefahr, ausgestoßen, gar als Hexe bezeichnet zu werden. Schön war sie anzusehen, fremdartig schön, so dunkel ihre Haut, so dunkel ihre Augen, so dunkel ihr Haar. War auch ihre Seele so dunkel? Odas hatte die Kleine geliebt, warum auch immer. Doch je länger Frysunth in das dunkle Braun unter den langen Wimpern blickte, desto mehr verstand er den Bruder, mit dem er ohnehin viel mehr gemeinsam hatte, als er zuzugeben bereit war. Vielleicht beruhte darauf ihre Feindschaft, auf ihrem gleichen Streben nach Macht und Einfluss?