Moment die Entdeckung. Doch es geschah nichts.
"Deckung", raunte Evroul. In diesem Moment bemerkte auch Gis, dass sich jemand von einem der mit zerborstenen Krügen übersäten Tische erhob und in seine Richtung torkelte. Der Dolch, wo ist der Dolch, fragte er sich mit rasch wachsender Unruhe. Er musste ihn verloren haben. Viel zu spät bemerkte Gis seinen Fehler. Er wollte schon aufspringen, dem Trunkenen die Kehle zudrücken, bevor dieser das mit der seinen tat, da fiel der Mann der Länge nach hin, blieb fast vor seinen Füßen liegen.
"Weiter", rief Evroul mit unterdrückter Stimme. Gis hingegen handelte, wie von einer fremden Macht getrieben, griff dem vor ihm Liegenden an den Gürtel, ertastete dort einen Dolch mit lederner Scheide, zog diesen, durchtrennte den Gürtel und nahm Scheide und Dolch an sich. Er wusste selbst nicht, wie er das alles schaffte, wusste nicht einmal, wie er auf den Gedanken kam, so zu handeln. Er hatte an Kaya gedacht. Sie lenkte seine Hand. Nie wurde ihm so klar wie in diesem Moment, dass sie eine Hexe war, dass er sich mit dunkelsten Mächten einließ. Und nie zuvor wurde ihm so klar, dass es kein Zurück gab.
"Wird ja Zeit", grummelte Evroul, als Gis neben ihm ankam, stolz sein Diebesgut, Bögen und Pfeile, präsentierte.
"Kannst du mit dem Bogen umgehen?", fragte er, nun schon mit deutlich zufriedenerer Stimme.
"Natürlich", antwortete Gis und zog zur Untermauerung seiner Behauptung die Bogensehne aus ihrem Beutel, spannte einen der beiden Bögen und legte einen Pfeil auf.
"Hervorragend", lobte Evroul. "Du wirst mich schützen, jedem einen Pfeil in die Brust jagen, der mir gefährlich wird. Ich sammle uns was zu essen, dann hau‘n wir ab."
Evroul stand langsam auf. Er war inzwischen sicher, dass ihm von den Dorfbewohnern keine Gefahr drohte.
"Gib mir den Dolch", sagte er dennoch. "Nur zur Vorsicht, kriegst ihn ja wieder."
Gis reichte ihm die eben gestohlene Waffe. Evroul warf einen verwunderten Blick darauf. Er hatte eine ganz andere Erinnerung.
"Hab ich getauscht", flüsterte Gis, was Evrouls Verwunderung nur anfachte. Die Zeit jedoch drängte und erlaubte keine Fragen. Mit wenigen einigermaßen schnellen Schritten erreichte Evroul die beladenen Tische, schnürte ein großes Bündel und lief in Richtung der Pferde, Gis zuwinkend, er möge ihm folgen. Rasch noch die Beute verstaut, dann ritten zwei glückliche Diebe in die Nacht, in den schützenden Wald, in eine ihnen rosig erscheinende Zukunft. Sie suchten sich einen versteckten Lagerplatz, bauten einen neuen Unterstand und ließen es sich gut gehen. Evroul sprach den Dolch nicht noch einmal an, ahnte Gis Missgeschick, bewunderte, wie er die Situation löste, wurde durch die gewonnenen Speisen seit langer Zeit wieder richtig satt und zufrieden. Auch Gis labte sich am Erntedankmahl und dachte nicht an die Zukunft. Hätte er gewusst, dass im gleichen Moment auf dem Sonnenhof ein junger Mann unter Mordverdacht festgenommen, aufgrund eindeutigen Beweises, man fand bei ihm den Dolch des Opfers, den Folterknechten des Herzogs übergeben und mit guter Aussicht auf den Tod am Galgen ins Verlies geworfen wurde, er hätte sich weit weniger wohl gefühlt.
Das Wetter meinte es gut mit den beiden Ausgestoßenen. Die Herbsttage blieben warm, der Regen fern. Sie konnten ernten, was die Natur ihnen reichlich bescherte, Früchte, Beeren, Wurzeln und fette Jagdbeute. Die Sonnenhofbögen, wie Evroul sie nannte, entsprachen nicht so ganz seinen Vorstellungen von dieser Waffe. Er hätte sich Eibenholz gewünscht. Die verbaute Esche war zwar leichter zu beschaffen, erfüllte jedoch weder vom Gewicht noch von den Wurfeigenschaften her den Anspruch an ein herausragendes Material. Dennoch waren es zwei annehmbare, in geübter Hand bis auf mittlere Entfernung treffsichere Stücke, die Gis erbeutet hatte. Und Gis erwies sich als guter Schütze, konnte seine Scheu, Lebewesen umzubringen, im Angesicht der Realität weitgehend unterdrücken. Evroul, nichts vom Problem seines kleinen Freundes ahnend, half ihm unbewusst bei dieser Entwicklung. Obwohl er selbst den Glauben an die Götterwelt verloren hatte, glaubte er doch an den Geist in einem jeden Ding, egal ob lebendig oder unbelebt. Und so dankte er jedem Vogel, jedem Hasen, jedem anderen Tier, dass es sein Leben gab, damit er weiterleben konnte, jedem Stein, der ihm Deckung bot und sah sich als Teil des großen Kreislaufs aus Wachsen und Vergehen, in dem der Stärkere vom Schwächeren nahm, manchmal auch dessen Leben, nie jedoch so viel, dass er die Existenz der anderen Art bedrohte. Viel hatte Evroul nachgedacht in den langen Nächten am Krankenlager der Unheilbaren, vielen Erzählungen gelauscht, gerade im Südlande von alten Lehrern und Philosophen gehört, deren Wissen nördlich der Alpen kaum verbreitet war. Er tat es aus Neugierde. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, damit einmal das Herz eines Sachsenkindes zu gewinnen. Und doch geschah genau dieses.
Als schließlich der Winter vor der Tür stand, hielt Evroul die Zeit für gekommen, in einer menschlichen Siedlung Unterschlupf zu finden. Unter entsprechender Kleidung sah man ihm den Aussatz nicht an. Und mit Gis Hilfe könnte er sein Handwerk wieder aufnehmen. Amuthon, die Siedlung im Mündungsbereich der Oamse, wie die Friesen den Fluss nannten, von dem die Alten meinten, sein Name sei Tamesis, das aufstrebende Hafenstädtchen im Lehen der Cobbonen, erkor er als Ziel. Dort wurde seine Kunst gebraucht, denn selbst nachdem man sie im Schlachtengetümmel von Norditi bezwang, blieben die Wikinger eine stete Gefahr, hieß es, die Truppen kampfbereit zu halten. Dort war Gis weit genug von seinen Peinigern entfernt und Evroul kannte man dort nicht. Alles was dieser von Amuthon wusste, sprach für diesen Zufluchtsort. Dort sollte es gut gelingen, die Winterkälte zu überstehen.
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