Frans Diether

Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt


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auch der eigenen Leute. Er konnte sie nicht heilen, konnte ihnen jedoch helfen, als er verstand, dass die schrecklichen Entstellungen nicht durch böse Gase, nicht durch falsche Körpersäfte, sondern allein durch fehlendes Gefühl und damit verbundene Verletzungen entstanden.

      "Achtet auf eure Hände. Schützt eure Füße", gab er seinen Schützlingen mit auf den Weg, versuchte er Nicola täglich neu beizubringen. Doch sie war noch so jung, war noch so voller Freiheitsdrang, prahlte damit, über glühende Kohlen laufen, ein erhitztes Messer mit bloßen Händen aus dem Feuer nehmen zu können. Evroul musste alles verwerfen, was er lernte, konnte nicht von dem wundervollen Weibe lassen, musste bei ihr liegen, nächtelang, wochenlang, musste sehen, wie er sie nicht retten, dem Würgegriff der Schwindsucht nicht entreißen konnte. Und er musste erfahren, dass seine Theorie falsch war. Er kam Nicola so nahe, übermannt vom Verlangen, anfangs nur nach Bier im Übermaß, später auch völlig nüchtern, dass er nach seinem Wissensstande vom Aussatz erfasst werden musste. Doch ihm konnte die Krankheit nichts anhaben. War er in Gottes Augen unschuldig, in den Augen eines Wesens, an das er den Glauben lange verlor? Es musste ihm unbekannte Ursachen geben, die aus den einen Aussätzige machten, die anderen gesund bleiben ließen. Sein gesamtes bisheriges Gedankengebäude stürzte ein. Er sah sich nicht mehr vor im Kontakt mit den Kranken, kehrte zurück in den Schoß der christlichen Kirche, spendete Kraft und Trost aus Psalmen und fand irgendwann, Nicola war ein Jahr zuvor gestorben, diesen hellen tauben Fleck auf seiner sonnengebräunten Haut, bemerkte irgendwann den nachlassenden Tastsinn in Händen und Füßen, begriff sehr spät, dass er doch recht hatte, dass sich seine Theorie an seinem Körper bestätigte. Er verfluchte seinen, verfluchte alle Götter, zog mit Karls Truppen nach Norden, konnte nicht jede Verletzung vermeiden, wurde nicht mehr als der Heiler, wurde selbst als Kranker wahrgenommen, mit der üblichen Tracht, einem langen Mantel, Hüllen für Hände und Füße und der hölzernen Klapper versehen. Mittellos jagten sie ihn davon, überließen ihn der Mildtätigkeit anderer und seiner eigenen Geschicklichkeit, wenn es darum ging, zu nehmen, was man ihm nicht geben wollte, oft davongejagt, oft dem Tode nahe, immer allein, allein bis zu jenem Tage, als er sich hinter einen halbnackten Jungen auf ein edles schwarzes Pferd schwang, nachdem er den Mantel, das Zeichen der Schande, auf seine Verfolger geworfen, ihnen den Schrecken bis ins Mark gejagt, sie von weiterer Verfolgung mindestens zeitweise abgehalten hatte. Er konnte kaum glauben, dass dies erst vor wenigen Stunden geschah, so vertraut schien ihm das schweigsame Kind bereits.

      "Lass uns schlafen. Morgen ist ein neuer Tag. Ausgeruht werden wir einen Plan für unsere Zukunft schmieden."

      Gis sah den nicht mehr fremden Mann an. Er hatte ihn schon eine Weile angesehen, das flackernde Schattenspiel beobachtet, welches ihr kleines Feuer auf seine nackte Brust warf. Er besaß nichts als seine Hose und die Stiefel, welche Gis ihm mehr aus Not denn Überzeugung überließ. Er war noch ärmer als Gis selbst, der sich doch in sein fellbesetztes Hemd hüllen, gar ein Pferd sein eigen nennen konnte. Und doch besaß er etwas, was Gis in seinen Bann zog. Er strahlte Ruhe und Liebe aus. In seiner Nähe fühlte sich Gis geborgen, obwohl er ihm nicht einmal nahe sein durfte, obwohl sein Geist noch immer vor Angst gefror, wenn seine Augen auf die hässlichen Flecken, die Ungelenkigkeit der tauben Finger, die Unsicherheit in Evrouls Gang blickten. Er war nicht mehr allein. Das gab ihm Kraft. Am kommenden Tag würden sie einen Plan schmieden. Das gab Hoffnung. Saxnot stand ihm bei.

      So wie ehemals bei Kaya musste Gis auch von Evroul Abstand halten, als sie ihr Nachtlager einnahmen. In seinem Traum lag er wieder unter Frysunths Dach, auf Frysunths Stroh, neben der Geliebten und doch so fern von ihr. Im Traum kamen sie allerdings erneut zusammen, wurden sie wieder eins. Schweißüberströmt erwachte Gis. Sie durften sich nicht berühren. Aussatz, Aussatz hämmerte es in seinem Kopf. Doch niemand war da, der rief. Ruhig und dunkel lag der Wald. Ruhig lag Evroul gut vier Fuß entfernt. Ruhig lag Alitiksok. Das Mondlicht ließ ihr Fell glänzen. Morgen würden sie einen Plan schmieden. Alles würde gut werden. Gis beruhigte sich, dachte an seinen neuen, so erfahrenen, so freundlichen Begleiter, dachte an Kaya, die wohl Tahnkers Lager teilte. Ein Stich ging durch sein Herz. Er hatte sie nicht vor der Bosheit Tammos bewahren können. Er hatte versagt, erneut versagt. Doch er würde noch eine Chance bekommen. Saxnot hatte ihn nicht verlassen. Ruhig ging sein Atem. Das leise Rascheln der Blätter schickte ihn in den Schlaf zurück. Nur der Mond beleuchtete das Lager der zwei Ausgestoßenen. Ihr Feuer war längst niedergebrannt, die Kälte des Morgens ein guter Weckruf.

      "Wasch dich und besorg was zu essen." Evrouls Stimme klang mürrisch. Das karge Mahl des Vorabends füllte seinen Magen längst nicht mehr. Auf der Flucht hatte er seinen Mantel weggeworfen. Nicht nur, dass dieser ihn nicht mehr wärmen konnte, er fehlte auch als mitleiderregendes Symbol. Nicht jeder jagte einen Aussätzigen davon. Viele fühlten auch mit ihm und erbarmten sich des Bettlers.

      "Und beeile dich. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns."

      Gis fiel der Ärger in Evrouls Stimme kaum auf, war er es doch nicht anders gewohnt, als morgens zur Arbeit geschickt und zu besonderem Fleiß ermahnt zu werden. Doch als er zurückkehrte, war auch er niedergeschlagen. Viel mehr als einige Beeren bot die Umgebung nicht an Nahrung. Ohne entsprechende Ausrüstung gab es auch kaum eine Chance, Vögel oder anderes Getier zu fangen. Im Frühjahr hätte er wenigstens Nester leeren können. Doch es war Herbst. Die Bauern feierten Erntedank. Für seinen Freund und ihn hingegen gab es nichts zu feiern. Und käme erst der Winter, müssten sie elendiglich hungern. Auch für Alitiksok würde es dann knapp werden. Selbst in den Dörfern wurden im Winter Pferde geschlachtet, weil man kein Futter für sie hatte. In der Wildnis war dieses Risiko noch größer. Trotz des flauen Gefühls im Magen breitete Gis das Tuch mit den Beeren vor Evroul aus und blickte traurig zu Alitiksok. Und den kranken Mann überkam Mitleid. Er sollte nicht so herzlos mit dem Jungen umgehen. Er sollte nicht die eigene Unzufriedenheit an dem Kleinen auslassen. Vor allem sollte er ihn nicht ängstigen.

      "Hab keine Angst. Wir finden einen Weg, finden ein Lager und Essen für uns und auch für dein Pferd", sagte Evroul und blickte Gis freundlich an. Er wusste nicht, was dieser durchgemacht hatte, ahnte nur, dass es schlimm war. Allein das Mal auf seiner Brust sprach Bände.

      "Lass uns teilen, was du gesammelt hast. Lass uns dann unsere Geschichten erzählen, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, bevor wir unseren ersten gemeinsamen Beutezug starten."

      Gis sah Evroul fragend an.

      "Du hast schon richtig verstanden", sprach dieser weiter. "Heute wird nicht mehr gesammelt, heute wird eingesammelt. Ich kenn mich hier aus, weiß, wo was zu holen ist. Wir nehmen, was wir kriegen können, müssen ohnehin weiter, können nicht zu nahe bei denen bleiben, die mich fast auf dem Gewissen haben. Doch um den besten Weg zu wählen, muss ich wissen, wo du herkommst und vielleicht nie wieder hin willst."

      Gis dachte nach. Wo kam er denn her? Wo wollte er denn nie wieder hin? Sein Dorf gab es nicht mehr. Ob er wollte oder nicht, dorthin durfte er nie mehr. Er kam auch nicht von dort. Er kam aus Frysunths Dorf. Dort wollte er auch wieder hin, irgendwann. Es hing aber nicht am Wollen, es hing am Dürfen. Evroul sollte entscheiden, ob es gut war, sich dem friesischen Weiler nochmals zu nähern. So erzählte Gis seine Geschichte, jedenfalls den Teil, der ihn nicht beschämte, berichtete vom Überfall der Franken, von der ersten Flucht, von der Aufnahme in Frysunths Familie, von Kaya und der Vertreibung durch ihre Brüder.

      "Das macht mir manches klar", lachte Evroul. "Wenn es um Frauen geht und wenn es um Land geht, wird mit harten Bandagen gekämpft. Dem Tammo sollten wir besser nicht auf die Pelle rücken, noch nicht."

      Gis musste ebenfalls lachen. Eines Tages würde er Tammo auf die Pelle rücken, ihm die Pelle ebenso verbrennen, wie der es mit seiner Haut getan hatte. Eines Tages käme die Zeit. Bis dahin schien es allerdings geboten, sich von ihm fernzuhalten.

      "Wir brauchen eine Bleibe, wo uns niemand kennt", breitete Evroul seinen Plan aus. "Dort lehre ich dich, wie man die besten Bögen baut, die es gibt. Du musst wissen, ich verstehe dieses Handwerk. Ich bin Bogenmacher."

      Dann erzählte auch Evroul seine Geschichte.

      "Du siehst, auch bei mir war es eine Frau, die erst Glück dann Unglück brachte. Doch du bist jung, wirst noch viele Frauen haben, während meine Zeit abläuft", schloss er seine Erzählung. Gis wollte bereits aufbrausend widersprechen,