Frans Diether

Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt


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lehren, sie auf dem Pfad der Tugend begleiten, nicht in jugendlicher Wollust, sondern auf gottgefälligem Wege mit ihr gehen."

      "Ihr habt ja Recht." Aus Frysunths Worten sprach ehrliche Erleichterung. Der Gottesmann fasste sein und das Klagen seiner Frau zum Glück völlig falsch auf, führte es auf Kayas Heirat zurück, hatte offenbar weiterhin keine Ahnung von Gis Existenz. Und so schickte Frysunth sich an, mit brummendem Schädel, auch er hatte am Vorabend dem Bier sehr reichlich zugesprochen, die Hochzeit seiner Adoptivtochter wie vorgesehen zu feiern. Erntedank bildete einen würdigen Rahmen. Am Abend würden nicht nur alle Gäste, würden auch Braut und Bräutigam berauscht sein. Das schuf die beste Basis für den ersten Beischlaf. In solcher Nacht werden Helden gezeugt. Und obwohl Gis Flucht heftig schmerzte, dachte Frysunth bereits weiter, plante er bereits mit einem Enkel als Nachfolger. Seine leiblichen Töchter würden in andere Familien einheiraten. Tahnker hingegen hatte keine Familie. Das band Kaya für immer an ihn, ihren Ziehvater. Wenn nicht Gis den Hof übernahm, dann halt Kayas Sohn. So fand Frysunth die Lösung für eines seiner drängendsten Probleme, die Sorge um seine Nachfolge, um seinen Besitz. Das linderte die gekränkte Eitelkeit ein wenig. Daran, dass die angenommene Tochter ohne Kinder bleiben oder nur Mädchen gebären könnte, verschwendete der Vorsteher keinen Gedanken.

      3. Kapitel

      Als sei ihr ein böser Geist auf den Fersen, so lief Alitiksok durch den dichter werdenden Wald, in das Rot des Abends, in das Schwarz der Nacht, in das zarte Blau des jungen Morgens, über Wiesen und Felder. Gis lenkte sie nur wenig, wusste selbst nicht, wo sein Ziel lag, wusste nur, dass es weit weg, weit weg von Friesen und Franken, weit weg von allen Menschen sein musste. Eigentlich gab es für ihn nur einen guten Ort, das Reich der Toten. Doch von dort aus könnte er Kaya nicht helfen, könnte er die Schmach seines neuerlichen Versagens nicht tilgen. Andererseits konnte ihn der Tod noch immer einholen, jedenfalls wenn es ihm nicht gelänge, seine Fesseln zu lösen, das verängstigte Pferd von seiner Last zu befreien. Irgendwann würde es entkräftet zusammenbrechen und liegenbleiben. Und er würde unter ihm liegen, bis der Durst seinen Körper ausgetrocknet, das Licht seines Lebens ausgeblasen hätte. Wieder einmal befand sich sein Schicksal in den Händen der Götter.

      "Willst du, dass ich lebe, so hilf mir, die Fessel abzustreifen", schrie er zu Saxnot und zerrte heftig an den gebundenen Füßen.

      "Willst du, dass ich sterbe, so schenke mir ein rasches Ende", rief er weiter und klammerte sich noch fester an den dampfenden schwarzen Leib, seinen Todeswunsch Lügen strafend. Nein, sein Körper wollte nicht sterben, wollte nicht von Alitiksoks Rücken gleiten. Sterben wollte Gis gedemütigte Seele. Und sie ließ ihn weiter schreien, nach den Göttern rufen, diese, das Schicksal, das eigene Versagen verfluchen, bis noch lautere Schreie die seinen übertönten.

      "Erschlagt ihn."

      "Er bringt Unheil über uns."

      "Einem Toten den Tod."

      Gis verstummte. Alitiksok verlangsamte ihren Schritt. Eine wilde Horde jagte, vom Horizont kommend und auf dem abgeernteten Feld große Staubwolken aufwirbelnd, direkt auf ihn zu. Sie trugen Gabeln und Spieße, schienen bereit, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Gis verstand nicht, warum sie es auf ihn abgesehen hatten. Er verstand nur, dass sich der rasche Tod näherte. Hatten ihn die Götter erhört? Er zögerte zu fliehen. Die Götter hatten entschieden. Er sollte ihren Richterspruch annehmen. Doch es gelang ihm nicht, in Demutshaltung zu verharren. Sein Körper wollte leben. Er streckte seinen Hals, um in die Gesichter der Angreifer sehen zu können. Da erst erkannte er, dass nicht er, dass ein in raschem Schritt Hinkender, ein in langen groben Stoff Gekleideter, das offensichtliche Ziel der aufgebrachten Menge war. Er hatte solche Kleidung noch nie gesehen, gehört hingegen hatte er schon davon. Es war ein Aussätziger, der da um sein Leben rannte. Als dieser den Mantel abstreifte und auf seine Verfolger warf und die Getroffenen wie vom Schlag gerührt stehen blieben, wusste Gis, seine Vermutung traf zu. Er beeilte sich, Alitiksok zu wenden, der schrecklichen Szene zu entfliehen, hatte jedoch nicht mit Kraft und Schnelligkeit des Aussätzigen gerechnet, der sich just in dem Moment hinter ihm auf den Pferderücken warf, in dem die schwarze Stute lossprang. Wie das lebendig gewordene Böse klammerte sich der Mann an Gis, drückte er seine nackte Brust an dessen bloßen Rücken, jagte er ihm einen Schauer nach dem anderen über selbigen, schlimmste Gedanken von Verwesung bei lebendigem Leibe durchs Hirn. Gis hatte noch nie einen Aussätzigen gesehen. Jedoch erzählten die Alten von einem Krieger aus dem Südlande, der seine verkrüppelten Hände und Füße mit Lappen verhüllte, seinen ausgemergelten Körper in einem langen Mantel versteckte, eine hölzerne Klapper schlagend, um Wasser und Brot bat. Zum Dank für die Hilfe berichtete er, dass die Krankheit durch Berührung weitergegeben wurde, dass sie sich ja in Acht nehmen sollten, ihn oder seinesgleichen anzufassen. Wenig später starb der Mann, die Geschichte lebte jedoch weiter. War ein Kind unartig, drohte man oft mit dem Krüppel. Der Aussätzige wird dich holen, hieß es dann. All das ging Gis durch den Kopf, während Alitiksok einen guten Vorsprung herauslief, die Verfolger bald abschüttelte.

      Nach etwa einer Stunde scharfen Rittes brachte der Fremde die Stute zum Stehen. Er konnte offenbar gut mit Pferden umgehen, stellte Gis fest. Das nahm ihm nicht die Angst, weckte aber so etwas wie Hochachtung.

      "Ich steige jetzt ab", sagte der Fremde und setzte dies sogleich in die Tat um. Da stand er nun, nackt bis zum Gürtel, Hände und Füße mit grauem Stoff umwickelt. Prüfend lag sein Blick auf Gis, der so gern ebenfalls vom Pferd gestiegen, sich so gern in einem Bach oder Tümpel, wenigstens in einer Pfütze gewälzt, den bösen Atem von seinem Körper gewaschen hätte. Sollte er fliehen, den Mann seinem Schicksal überlassend die eigene Haut retten? Oder trug er den Aussatz bereits in sich? Schließlich hatte der Kranke ihn eng berührt. Gis blieb. Krankheit hin oder her. Wenn er nicht bald die Fesseln loswürde, müsste er ohnehin sterben. So sah er voller Erwartung zu, wie der Fremde die Hüllen von Händen und Füßen entfernte. Sie waren nicht so entstellt, wie Gis fürchtete, sahen eher ganz normal aus. Hatte der Kerl sich nur verkleidet? Jagte er Gis nur einen Schrecken ein?

      "Dachtest wohl, ich sehe aus wie ein Gespenst? Hast wohl noch nie einen mit der Miselsucht gesehen? Bist wohl schlechter dran als ich, aber hast mir den Hals gerettet." Der Fremde spuckte aus, griff nach seinem Gürtel, zog ein kleines Messer hervor und durchtrennte Gis Fußfessel, worauf dieser völlig erschöpft vom Pferd rutschte. Wie ein hilfloses Bündel lag er auf dem duftenden Waldboden, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Dankbarkeit. Zögerlich streckte er die Hände aus. Ein Schauer lief über seinen Körper, als der Fremde ihn berührte.

      "Halt still", sagte dieser ganz ruhig, "oder soll ich dir eine Hand abschneiden?"

      Natürlich sollte er ihm nicht die Hand abschneiden. Gis schüttelte den Kopf und hielt still.

      "Gute Arbeit", brummte der Fremde. "Hätte dich noch einige Zeit gekostet, die loszuwerden. Hätte durchaus zu spät sein können. Gut, dass du mich getroffen hast."

      Langsam, sehr langsam kehrte Leben in Gis Finger zurück. Vorsichtig bewegte er seine Zehen, drehte er die Füße hin und her. Sie sahen schrecklich geschwollen aus. War er doch schon von der Krankheit befallen? Und wie nannte der Fremde die Krankheit? Miselsucht? Aussatz war es, schrecklicher Aussatz, die Strafe für ungehorsame Kinder. Gis konnte sich nicht aus seiner Tradition lösen. Es dauerte jedoch nicht allzu lang, da schwollen seine Füße bereits ab, konnte er seine Hände bewegen, gar einigermaßen sicher auf den Beinen stehen. Die Angst schwand ein wenig. Er sah den Fremden an. Dessen Bewegungen wirkten unsicher, so als habe er kein rechtes Gefühl im Körper.

      "Lass uns eine Bleibe für die Nacht bauen", beendete der Mann das Schweigen. "Und berühre mich nicht, dann musst du dich auch nicht vor mir fürchten."

      "Aber …"

      "Ich habe dich berührt." Der Fremde schnitt Gis das Wort ab, wusste er doch selbst am besten, in welche Gefahr er den Jungen brachte. Er tat es aus purer Todesangst. Die Dörfler hätten ihn aufgespießt und verbrannt. Und die kurze Zeit, in der er hinter dem Jungen saß, würde kaum ausreichen, das böse Gas in diesen strömen zu lassen.

      "Du musst dennoch keine Angst haben. Ich sah viele, die an Aussatz, wie ihr es nennt, litten. Die Krankheit geht nicht so schnell von einem zum anderen." Der Fremde atmete