es auch war, den Jäger nie hätte erfassen können. Frysunth war ein guter Jäger, sein Pfeil schon fast auf dem Flug. Es kam anders. Ein Fremder störte die Idylle. Es musste ein Fremder sein. Wer sonst sollte um diese frühe Stunde zum Dorf reiten. Frysunth hätte es gewusst, er war der Vorsteher von allen. Denn obwohl sie als freie Bauern lebten, übertrugen sie doch einem die Führerschaft. Frysunth nahm die Beine in die Hand. Er kannte den kürzesten Weg, konnte vor dem Reiter im Dorf sein, die anderen warnen, mögliche Gefahr bannen.
Keuchend erreichte Frysunth die erste Hütte, genau in dem Moment, in dem der Reiter angeflogen kam. Er stellte keine Gefahr dar, bemerkte Frysunth, als er die edle schwarze Stute und den weder vom Anzug noch von der Haltung dazu passenden Jungen auf ihrem Rücken sehen konnte. Der Pfeil durfte im Köcher bleiben. Dennoch war die Situation alles andere als beruhigend.
"Woher …", Frysunth konnte seine Frage nicht aussprechen, denn der Reiter hielt direkt auf ihn zu.
Mit erhobenen Armen gelang es dem Vorsteher, dass verängstigte Tier zu stoppen. In diesem Moment kamen ein gutes Dutzend Bauern angerannt, allen voran Odas, der Besitzer des größten Hofes, Frysunths Bruder und ewiger Widersacher, der sich aufgrund seiner Erstgeburt als legitimer Führer der Ansiedlung sah und noch immer anzweifelte, dass Frysunths Wahl durch die stimmberechtigten freien Männer mit rechten Dingen zuging.
"Holt den Jungen von dem Pferd. Hat auf solch edlem Tier nichts verloren", rief Odas lachend. Und wirklich, auf der Stute saß kein furchteinflößender Streiter, dort saß ein Kind, das sicher noch vor der Pueritia stand, welche die Friesen auf das vierzehnte Lebensjahr datierten, dessen bloße Füße Halt am Leib des Tieres suchten, dessen Hände auf den Rücken gebunden waren. Es war wohl selbst Opfer. Die Gefahr käme vermutlich noch, dachte Frysunth. Mitleid erfasste ihn, ließ ihn das Messer aus der Scheide ziehen, um die Fessel des Kleinen zu durchtrennen.
"Lass das", sagte Odas scharf, während er der Stute eine Schlinge um den Hals legte, da er sie als sein rechtmäßiges Eigentum betrachtete. Schließlich stand sie auf seinem Grund.
"Lass seine Hände verschnürt und jage ihn davon. Sollen seine Verfolger mit ihm tun, was sie wollen. Wir brauchen hier keinen Streit." Odas meinte es ernst. Die Körperbemalung des nur mit einem Schurz bekleideten Jungen und das Amulett auf seiner Brust zeigten es deutlich, er war Sachse, einer vom Volk derer, die die Friesen über lange Zeit bekriegten. Bestimmt legte sich seine Familie mit den fränkischen Herren an. Die heidnischen Motive auf seiner Haut waren beredtes Zeichen dafür, dachte Odas. Das war Teufelswerk, gefährlich für die neu gewonnenen Jünger des Herrn Jesus. Damit sollten sie hier im Dorf nichts zu tun bekommen. Mit kräftigem Griff zog er den Eindringling vom Pferd. Der Junge fiel vor Frysunths Füße, schien benommen, das aber nur für kurze Zeit. Mit einem Sprung stand er wenig später auf den Beinen, drehte Frysunth, in dem er offenbar einen Verbündeten vermutete, den Rücken zu und streckte ihm die Hände entgegen. Er irrte sich nicht. Scharf schnitt die Klinge des Vorstehers durch den rauen Strick, gerade noch rechtzeitig, bevor der Verfolger eintraf. Schnaufend und prustend, er musste wohl eine längere Strecke laufend zurückgelegt haben, stellte er sich in kaum hundert Fuß Entfernung auf, spannte seinen Bogen und zielte in Odas Richtung. Dieser erkannte den Grund sofort und ließ die Stute los.
"Wir wollen nicht, was euch gehört, edler Herr", rief er. Der Fremde zielte nun auf den Jungen.
"Komm her, bevor ich dein verräterisches Herz durchbohre", sagte er mit tiefer, fast wohlklingender, durch ihren scharfen Ton allerdings in der Aussage absolut ernst zu nehmender Stimme. Der Junge zögerte, blickte flehend zu Frysunth. Doch Odas ergriff wiederum die Initiative, hob den mit der Rechten fest umklammerten Speer und forderte den Jungen nachdrücklich auf, dem Befehl seines Verfolgers zu gehorchen, wolle er nicht sowohl von vorn, als auch von hinten durchlöchert werden. In diesem Moment stürmte Agur, Frysunths einziger Sohn und Erbe, aus der Mitte der wartenden Bauern hervor, auch er mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Er stellte sich zwischen seinen Vater und den Franken.
"Nein", schrie Frysunth. Was dann geschah, dauerte nur Sekunden und ließ dem entsetzten Vorsteher keine Chance zum Eingreifen.
"Er ist doch ein Kind", rief Agur und geriet sogleich ins Visier des Fremden. Odas hätte diesen vom Schuss abhalten können, hielt er doch den Speer bereit für seinen tödlichen Flug. Odas Gedanken kombinierten blitzschnell. Wenn Agur stirbt, hat Frysunth keinen männlichen Nachkommen, fällt sein Besitz an mich oder die meinen. Odas ließ den Speer enteilen, verfehlte das Ziel aber bewusst. Im selben Augenblick sank Agur röchelnd zu Boden. Während sein Vater wie gelähmt vor Schreck auf die fürchterliche Szenerie starrte, griff der fremde Junge Agurs Waffe. Tief in ihm schrie es, du sollst nicht töten. Er fing an zu zittern, doch der Pfeil schnellte los. Und bevor sein Verfolger das nächste Geschoss aus dem Köcher ziehen konnte, durchschlug eine scharfe Spitze seine Kehle, warf ihn die Wucht des Schusses auf den Rücken, hauchte er ohne ein weiteres Wort den letzten Atem aus. Ein rotgefiederter Pfeil steckte in seinem Hals, Agurs Pfeil. Nur langsam kam Gis zu sich. Er hatte es getan, hatte einen Menschen getötet. Die Stimme in seinem Inneren wiederholte immer wieder, du sollst nicht töten.
"Duckte sich weg", stammelte Odas. Ein Kind hatte ihn bloßgestellt, einen der besten Speerwerfer des Dorfs lächerlich gemacht.
"Schuld ist der.“ Er zeigte auf Gis.
„Bringt uns nur Unglück. Müssen ihn wegschaffen." Odas fuchtelte wie wild. Nichts hätte passieren müssen. Warum löste Frysunth die Bande des Jungen? Warum mischte sich Agur ein? Zeigte das nicht alles, dass die Vorsteherschaft in falschen Händen lag? Er sollte den Augenblick nutzen, die Machtfrage jetzt entscheiden.
"Du hast deinen Sohn auf dem Gewissen", griff er Frysunth an. "Bring den Sachsenjungen zu seinen Häschern, bevor wir alle sterben."
Frysunth hatte sich noch immer nicht gefangen. Sprachlos starrte er auf seinen am Boden liegenden Sohn. Er schläft nur, rief seine Seele. Gleich steht er wieder auf und springt über die saftigen Wiesen, die frisch bestellten Felder.
"Bist du zu Fels erstarrt", schrie Odas, griff erneut die Zügel der wie gelähmt wartenden Stute und machte einen Schritt in Richtung Frysunth, ihn zu rütteln, ihn aufzuwecken, ihn mit dem Jungen zu den fremden Herren zu schicken und in dieser Zeit selbst die Macht zu ergreifen. Er tat einen Schritt. Weiter kam er nicht. Die Bauern umringten ihn.
"Lass uns das in Ruhe besprechen. Wir sind freie Männer, keiner fremden Herrschaft untertan", sagte einer von ihnen. Odas blieb allein, gestand sich das Scheitern seiner Bemühungen ein, für den Augenblick jedenfalls. Es schien besser, sich zurückzuziehen, für den Augenblick jedenfalls. Eines jedoch wollte er sich sichern, das stolze schwarze Pferd. Von den Anderen ungestört, sie öffneten lautlos den Ring, führte er es zu seinem Hof.
Frysunth verharrte noch immer am Ort des schrecklichen Geschehens. Vor ihm lag sein toter Sohn, seine ermordete Zukunft. Er würde kein weiteres Kind zeugen. Das hatte ihm nicht nur die alte Heilerin gesagt, das spürte er selbst am besten. Seit er vor drei Jahren vom Pferd stürzte, kam sein Saft nur noch spärlich und wie Wasser, blieb der Schoß seiner Frau, der sich zuvor jedes zweite Jahr mit neuem Leben füllte, von jeder Leibesfrucht verlassen. Und obwohl er es nie aussprach, es lag an ihm, schaffte er es doch auch mit dreien der Mägde nicht, ein weiteres Kind zu zeugen. Bis dahin schenkten ihm die Götter sieben Töchter aber nur einen Sohn. Doch während die Mädchen kränklich blieben, nur zwei von Ihnen das fünfte Jahr überlebten, gedieh Agur prächtig, wurde der Junge kräftig von Wuchs und rasch in der Auffassung. Es schien, als vereinigten sich all die guten Eigenschaften der vielen Söhne, die Frysunth sich so innig wünschte, in dem Einem. Und da seine Geburt in das Jahr fiel, in dem Frysunth den neuen Glauben annahm, sich taufen ließ und den Göttern seiner Vorfahren abschwor, dankte er nicht nur dem Christengott im täglichen Gebet für die große Gnade, sondern fühlte er sich durchaus bestärkt in der Richtigkeit seiner Entscheidung, zweifelte er nicht an den Worten des ehrwürdigen Bonifatius, mit denen dieser ihm und dem ganzen Dorf den einzigen und wahren Gott ins Herz pflanzte. Für viele war der Fall der Lebensesche, die der Priester so einfach umschlagen konnte, ohne dass Wöda oder Frigga, nicht einmal Fosite sich erhoben, das machtvolle Zeichen. Doch Frysunth erfuhr die Gnade des neuen Gottes und seines Heilands Jesus durch die lang ersehnte Geburt des ersten Sohnes. Dieser Sohn starb nun durch