Linda Große

Liebe, gut gekühlt


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bohrten das Licht mit glänzenden Nadeln in ihre Augen.

      Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Fahrzeuge standen. Irgendjemand spielte ungeduldig mit dem Gaspedal. Wie auf einen Startschuss hin fuhren die Wagen gemeinsam an und rollten mit zunehmender Geschwindigkeit über den Zebrastreifen.

      Das rote Männchen erschien erneut auf ihrer Netzhaut.

      Sie seufzte auf, trat von einem Bein aufs andere und prompt rutschten ihre Zehen in der beschädigten Sandalette wieder nach vorn. Ungeduldig wiederholte sie die Prozedur und schob den Fuß erneut zurück.

      Es schien unendlich lange zu dauern bis die Fußgängerampel auf grün sprang und dieses Mal überquerte sie die breite Kreuzung zügig, das rechte Bein etwas hinter sich herziehend.

      Auch auf dieser Seite war kein Mensch zu sehen, jedenfalls keiner der sich wie sie zu Fuß die Straße entlang bewegte.

      Knapp einhundert Meter nach der Kreuzung zweigte eine Nebenstraße ab. Sie bog rechts ein und registrierte aus den Augenwinkeln heraus die Leuchtziffern an einer Sparkassenfiliale. Im stetigen Wechsel zeigten sie Temperatur und Uhrzeit an: 9.15 Uhr, 21°C. Ein Seitenblick durch die breite Glastür zeigte einen Raum mit den typischen Automaten. Auch hier kein menschliches Wesen.

      Aufkeimende Nervosität beschleunigte ihren Schritt, den kaputten Schuh über den Bürgersteig schleifend. Sie war unendlich müde und wollte sich nur noch ausruhen.

      Da, endlich der Hauseingang mit dem Zahnarztschild auf der rechten Seite. Erleichtert stieß sie die Tür auf und erblickte den Eingang zur Praxis. In der Anmeldung saß eine Frau mit graumeliertem Kurzhaarschnitt am Computer. Ihre Finger glitten über die Tastatur, während ihre Augen auf den Bildschirm gerichtet waren. Die Frau ließ sich durch ihr Erscheinen nicht von der Arbeit ablenken.

      Erschöpft lehnte sie sich gegen die Theke aus Wurzelholz, stützte ihren rechten Unterarm auf und fühlte, wie ihr die Beine langsam wegsackten. In diesem Moment gab die Frau ein routiniertes “guten Morgen“ von sich, während sie endlich vom Bildschirm hochschaute.

      „Cora, meine Güte, Cora!“

      Die Stimme der Frau überschlug sich fast, während Cora aus ihrem Blickfeld verschwand und auf den Boden rutschte. Der Aufschrei drang unüberhörbar bis in das Wartezimmer sowie die angrenzenden Behandlungsräume.

      Bis auf einen Mann in mittleren Jahren war das Wartezimmer leer. Er blickte leicht verärgert über die Störung von seiner Illustrierten hoch und sah durch die offene Tür zwei lange, wohlgeformte Beine auf dem Teppich liegen. Verblüfft beugte er sich vor um besser sehen zu können.

      Eine ziemlich ramponiert wirkende junge Frau mit schulterlangem blonden Haar saß auf dem Teppichboden während ihr Oberkörper im Zeitlupentempo zur Seite rutschte. Der Mann unterdrückte den Impuls aufzuspringen, denn der Aufschrei alarmierte das gesamte Praxispersonal. Nur der Bohrer im benachbarten Behandlungsraum surrte unbeeindruckt vor sich hin.

      Zwei Arzthelferinnen hockten jetzt auf dem Boden. Eine hielt den Kopf der zusammengebrochenen Frau und jammerte laut: „Cora, Cora, sag doch was!“

      „Sie ist ohnmächtig“, meinte die grauhaarige Frau, während sie an Coras Rocksaum herumzupfte.

      „Was ist los? Was machen sie da, Frau Friedrichs?“, fragte der Zahnarzt, der unvermittelt die Behandlung seines Patienten eingestellt hatte.

      „Sie hat keinen Slip an, ist nackt unter dem Kleid“, erklärte Frau Friedrichs verlegen und zupfte erneut am Rocksaum des bunt bedruckten Minis, der nur knapp den Po der Frau bedeckte.

      Der Arzt bückte sich, suchte den Puls am Handgelenk und zog mit der anderen Hand die Augenlieder hoch.

      „Sie ist nicht ohnmächtig“, konstatierte er. „Wir sollten einen Krankenwagen rufen. Sie hat einen großen blauen Fleck am Oberarm.“

      „Cora, was ist mit ihnen passiert?“

      Der Arzt schaute seine Sprechstundenhilfe an, doch Frau Friedrichs machte in ungewohnter Weise keinen Vorschlag. Jetzt warf er einen Blick durch die Tür zum Patienten, der immer noch auf dem Behandlungsstuhl lag und ergeben auf seine Füllung wartete.

      „Rufen sie Dr. Emmerich an, er soll kurz runterkommen!“

      Gehorsam griff Frau Friedrichs über die Theke hinweg zum Telefon und wählte die Nummer des Arztes, der seine Praxis in der 2. Etage über ihnen hatte. Es dauerte eine Weile bis jemand ans Telefon ging. Scheinbar hatten sie oben schon Hochbetrieb. Frau Friedrichs erklärte die Lage, doch ihre Kollegin am anderen Ende der Leitung hielt die ganze Angelegenheit wohl nicht für einen dringenden Notfall.

      „Wir sollen ihr die Beine hochlegen“, wiederholte Frau Friedrichs die telefonische Anweisung und schaute ihren Chef ratlos an. Der stemmte sich mit einer Behändigkeit hoch, die man ihm bei seiner Figur nicht zugetraut hätte, nahm ihr den Hörer aus der Hand und bellte verärgert hinein:

      „Dr. Kretschmer am Apparat. Schicken sie sofort Dr. Emmerich! Wir haben einen Notfall!“

      Ohne eine Gegenreaktion abzuwarten, schmiss er den Hörer auf den Apparat zurück. Er ging erneut in die Hocke. Sein Bauchansatz im weißen T-Shirt quoll über die viel zu enge weiße Jeans. Er spürte, wie der Hosenbund in seinen Magen schnitt und fluchte unterdrückt vor sich hin.

      „Halten sie ihr den Rock fest, wir wollen sie auf den Rücken legen“, wies er Frau Friedrichs an. Doch in diesem Moment erschien schon der Internist aus der 2. Etage mit seinem Notfallköfferchen. Mit einer Hand am Reißverschluss seiner Jeans stemmte der Zahnarzt sich hoch, überließ seine ramponierte, drei Wochen spurlos verschwunden gewesene Arzthelferin erleichtert dem Kollegen und kehrte zu seinem Patienten zurück.

      Der Internist wirkte gestresst und ungeduldig. Er reagierte mit Erleichterung, als die blonde Frau ihre Augen aufschlug.

      „Wo bin ich?“, fragte sie.

      Ihre Freundin Sabrina beugte sich über sie.

      „Du bist in der Praxis, Cora. Wo warst du die ganze Zeit? Was ist passiert?“

      Die Frau schaute sie an mit einem Gesichtsausdruck, als habe sie ihre Freundin noch nie gesehen.

      „Welche Praxis?“, fragte sie.

      Der Internist hatte inzwischen seine kurze Untersuchung abgeschlossen und wies Frau Friedrichs an sofort den Krankenwagen zu rufen.

      „Auf jeden Fall Gehirnerschütterung“, diagnostizierte er, „aber da ist auch noch irgendetwas anderes.“

      Kapitel 3

      Theo Emmerich musterte sein schlaftrunkenes Spiegelbild. Der schmale rechteckige Spiegel hing hochkant über dem Ausguss in der Küche. Das zerkratzte, vergilbte Porzellanbecken hatte, seiner schmuddeligen Patina zum Trotz, im Laufe der Jahre nichts von seiner Stabilität eingebüßt. Nach wie vor hielt es Theos Körpergewicht mühelos. Seine Hände umschlossen den wulstigen Rand der Spüle während er sein Gewicht nach vorne verlagerte, um die Spuren der letzten Wochen genauer zu erforschen. Spätestens mit Fünfzig hat jeder das Gesicht, das er verdient. Er war vor kurzem sechsundfünfzig geworden und doch sah man ihm die regelmäßigen Aufenthalte in seiner Lieblingskneipe normalerweise wirklich nicht an. Was wohl auch Rosis hervorragender, zwölf Jahre währender fürsorglicher Pflege zu verdanken war. Er vermisste sie und ihre beträchtliche Witwenrente schmerzlich.

      Die Unzufriedenheit mit seinem morgendlichen Aussehen machte ihn wach, obwohl er sich lieber wieder in seinem Bett verkrochen hätte, das direkt neben der Spüle stand, gegenüber dem schmalen Küchentisch aus Weichholz mit den gedrechselten Beinen. Die letzten Wochen hatten enorme, stark sichtbare Spuren hinterlassen. Sichtbar und fühlbar. Seine Knochen schmerzten, er fühlte sich steif und ungelenk. Sein müder Körper kapitulierte und ließ ihn auf die durchgelegene Matratze zurück sinken. Das Bett ächzte und knarrte aufdringlich unter seinem Gewicht, stimulierte sein Gehirn, seine erlahmte Willenskraft.

      „Verdammt, du lässt