Hannelore Kleinschmid

Adoption


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Sie ausgerechnet dieses Kind und kein anderes haben wollten. Fangen Sie damit an, sobald Ihr Kind diese Geschichte verstehen kann, also mit drei oder vier Jahren. Es sollte ein besonders schönes Märchen sein, das oft wiederholt wird. Und das auf der Wahrheit fußt.

      Fotos vom Neugeborenen gibt es nicht.

      Als er mit acht Wochen zu Mrs. Keen in Pflege gegeben wird, macht sie im Laufe des Jahres einige Bilder von ihm. Sie berichtet, dass sie zunächst alle zwei Stunden, Tag und Nacht, füttern musste. Nur langsam habe er das Fläschchen getrunken. Viel Zeit hätten sie beide dafür gebraucht.

      Trotz dieser engen Beziehung musste sie von Anfang an wünschen, er möge so bald wie möglich Eltern finden, sie folglich wieder verlassen.

      Leider sei er schon zweimal abgelehnt worden. Sie wisse nicht warum. Wo doch alles in bester Ordnung sei mit dem Kleinen!

      Auf einem Foto sitzt Winny mit sechs Monaten angelehnt in einer Sofaecke. Mit neun Monaten sieht er rundlich und fröhlich aus und planscht mit zehn Monaten in der kleinen Badewanne.

      Zum ersten Geburtstag gibt es fünf Glückwunschkarten von der Pflegemutter und ihren erwachsenen Töchtern. Und darauf jede Menge „little kisses“. Auf dem Papier. Im wirklichen Leben kann der Kleine mit 13 Monaten noch kein Küsschen geben.

      Traditionell werden die Glückwunschkarten England gesammelt, denn wer viele vorweisen kann, gehört zu den beliebten Menschen. Wer einen Kamin hat, stellt sie auf den Sims, so dass Besucher sie sehen und auch zählen können.

      Winnys Karten wurden sorgsam aufgehoben und an die Adoptiveltern weitergegeben.

      Gut einen Monat nach seinem ersten Geburtstag sahen Grimms ihr zukünftiges Familienmitglied zum ersten Mal, und a bit slow (ein bisschen langsam, wie angekündigt) erschien es ihnen nicht.

      Als Beate Jahre später die Fotos des kleinen Jungen betrachtet, die im neuen Zuhause aufgenommen wurden, erkennt sie, was sie im ersten Glück übersehen hat. Erst nach mehr als zwei Monaten verschwindet zusammen mit der senkrechten Stirnfalte die Skepsis aus Winnys Augen, er blickt entspannter in die Kamera. Wie es die Eltern vormachen, macht auch er schon bald einen Buhmann, indem er die Backen kräftig aufbläst und die Unterlippe vorschiebt. Doch ein zaghaftes Lächeln zeigt sich erst nach einem halben Jahr, und ein Lachen, auf den Film gebannt, bleibt die Ausnahme.

      Wenn man bedenkt, dass der kleine Junge fast zwei Monate allein im Brutkasten und ein Jahr bei der Pflegemutter neben wechselnden fremden Kindern hinter sich hat und dann von einer Stunde auf die andere in eine neue Umgebung zu noch fremden Menschen gegeben wurde, erkennt man seine Skepsis als das natürlichste Gefühl der Welt.

      Benno und Beate ahnen, wie groß der Einschnitt im jungen Leben ihres Sohnes sein würde, und hoffen, dass sie ihm mit weit geöffneten Armen und viel Zuwendung bei dem Schritt ins neue Leben helfen können. Wie tief seine bisherigen Erfahrungen sitzen, weiß keiner von ihnen. Trotz der vorbereitenden Gespräche mit der Sozialarbeiterin, trotz kluger Bücher.

      Auch als Kindergarten- und Schulkind zeigt Winston selten ein fröhliches Gesicht, meist nur ein Grinsen, wenn der Fotograf Lachen verordnet. Es fiel den Eltern nicht auf, als sie die Bilder ins Album klebten. Sie hatten ein lebhaftes und neugieriges Kind, so dass sie nicht merkten, wie wenig es zu lachen fand.

      Fasching mochte Winny nicht, das heißt er wollte sich nicht verkleiden. Während seine Schwester Jana als Clown fröhlich in die Kamera grinst, blickt der siebenjährige Bruder, als Ritter verkleidet, von unten herauf sehr ernst, beinahe missmutig. Seine Mutter hatte angenommen, der Ritter mit Pappschwert oder ein Jahr später der Pirat werde ihm viel Freude bereiten. Sie erkannte nicht, wie schwer es ihm fiel, seine Identität zu finden und daran festzuhalten. Er ist Winston, niemand sonst.

      Fröhlich lachend schaut er nur neben seiner Schwester beim Start ins Teenagerleben. Zwei eigene Porträtfotos gefallen ihm so sehr, dass er sich als junger Erwachsener Abzüge wünscht. Auf dem einen Bild steht er in London Knightsbridge vor dem Kaufhaus Harrods neben einem Rolls Royce, einen Fuß lässig nach vorn gesetzt, mit stolzem Lächeln. Die Familie befindet sich auf der Heimreise nach einem Bootsurlaub in England. Das andere Foto dürfte ein Jahr später geknipst worden sein, wiederum beim Bootfahren: Winny sitzt am Steuer, die Lässigkeit in Person, ein Fuß hochgestellt, eine Hand am Lenkrad, die andere locker im Schoß, eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase. Und natürlich konnte er das Kajütboot so fehlerlos steuern, mit dem die Grimms auf dem irischen Shannon unterwegs waren, wie er vieles vom bloßen Zuschauen lernte.

      Beate klebte die ersten Bilder von Winny in sein Fotoalbum, das sie fortsetzte bis zum 18. Geburtstag, neben den Alben der ganzen Familie.

      Benno und Beate hatten der Sozialarbeiterin von Anfang an gesagt, sie würden in einigen Jahren nach Deutschland zurückkehren. Daraus ergab sich ein weiteres Problem. In England vertrat man in den 1970er Jahren Vorstellungen über den Rassismus in Deutschland, die noch aus der Hitler-Zeit herrührten. Deswegen wurde der kleine Winston für die Deutschen ausgesucht. Er war bei der Geburt so hellhäutig, dass man seiner sehr jungen Mutter, einer blauäugigen Weißen, kaum glauben wollte, der Vater, ebenfalls 15 Jahre alt wie sie, sei ein Schwarzer.

      Dark brown hat sie ihn beschrieben.

      Doch der Sohn ist dunkelblond.

      So wird er das Kompromisskind, das die Adoptionsgesellschaft auswählt. Für die Ausländer.

      Verabredungsgemäß fährt Beate zur Pflegemutter in den Südosten Londons. Sie werden einen Vormittag gemeinsam mit dem kleinen Jungen verbringen. Doris Keen lebt in einem achtgeschossigen Wohnblock mit Sozialwohnungen. Sie ist verwitwet und seit einigen Jahren Pflegemutter. Während Winny schläft wie jeden Vormittag, erzählt sie von den anderen Kindern, die sie aufnimmt und die – meistens nur wochenweise – bei ihr leben. Der vierjährige Peter etwa, der häufig seiner Mutter weggenommen werden muss, weil sie zu viel trinkt. Oder der kleine Ian, der manchmal vom Freund der Mutter geschlagen wird. Kein Wunder, sagt Doris Keen, wenn die Kinder nach solchen Erfahrungen schreien oder um sich schlagen. Ein Baby wie Winny bleibe davon nicht unberührt, sagt sie weiter.

      Beate fragt nach. Aber die Frau antwortet nur, es sei nicht einfach, einen jähzornigen Vierjährigen und ein Baby wie Winston gleichzeitig zu versorgen.

      Als der kleine Junge aufwacht und sich durch Meckern bemerkbar macht, lässt die Pflegemutter Beate den Vortritt. Unsicher nimmt sie ihn hoch, wickelt und füttert ihn unter den Augen der erfahrenen Frau. Sie spielt mit ihm und denkt wie beim ersten Besuch, dass dieses lebhafte Kind nicht zurückgeblieben sein kann. Es wurde zu früh geboren und braucht einfach noch Zeit, bis es läuft und erste Worte spricht.

      Beim Abschied suchen sie gemeinsam einen Termin, zu dem Mrs. Keen mit Winston zu Grimms zu Besuch kommen wird.

      Derweil fragt Anne Martin, die Sozialarbeiterin, wie sie in der Drei-Zimmer-Wohnung Platz für Winny schaffen wollen. Sie haben sich schon überlegt, dass sie das Kinderbettchen bei sich im Schlafzimmer unterbringen werden, um so viel Nähe wie möglich herzustellen zu einem Kind, das die ersten Wochen seines Lebens ganz ohne Bezugsperson verbracht hat, ohne Mama oder Papa, die das kleine Wesen hätten streicheln und zärtlich mit ihm sprechen können. Mrs. Martin nickt zustimmend.

      Aber Doris Keen findet die Idee nicht so gut, als sie sich in der Wohnung umschaut. Zögernd gesteht sie, dass der Kleine zum Einschlafen und häufig auch während der Nacht heftig Headbanging macht, auf dem Bauch liegend mit der Stirn auf die Matratze schlägt. Er habe sich das wohl von den anderen Kindern abgeschaut, fügt sie hinzu. Ihr Blick bittet, Winston nicht aufzugeben.

      Deswegen doch nicht, sind sich Benno und Beate einig, planen aber, das kleine Esszimmer zu einem Kinderzimmer umzugestalten. Sie ahnen, dass es sich wohl um ein Anzeichen für Hospitalismus handeln könnte. Kinder, die zu viel allein gelassen werden, entwickeln solche Angewohnheiten.

      Der Deutsche Dienst der BBC verabschiedet die künftige Adoptivmutter mit einem Blumenstrauß und dem Hinweis, freiberuflich könne sie nur in Ausnahmefällen hier tätig werden, denn die Honorarkasse sei dürftig ausgestattet.

      So