Hannelore Kleinschmid

Adoption


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      Die Eltern sprechen viel mit dem kleinen Sohn. Auf Deutsch, Winnys Mutter- und Vatersprache. Er beginnt zu verstehen und zu antworten. Recht bald scheinen sich aus dem Plappern Wörter zu entwickeln. Zur Freude der Eltern, die jedoch zunächst nur „Bahnhof“ - daadn oder daadndn - verstehen. Winny liebt das a so sehr, dass es über einige Zeit sein ausschließlicher Vokal bleibt, den er mit dn kombiniert, freudig, kommunikativ, durch die Nase schnaubend.

      Im Laufe der Monate beginnt die Mutter, ihn herauszufordern: Als sie mit dem Auto über eine Brücke fahren, unter der ein Schiff laut tutet, sagt sie: Winny, hör mal, das Schiff macht tuuut! Tuuut!.

      Ohne Zögern antwortet er: Anner Jaff a tatt.

      (Die Übersetzung: Das andere Schiff macht auch tut.)

      Seine Zukunft bringt Wortreichtum und gelegentlich Rekord verdächtiges Sprechtempo. Doch in der Londoner Zeit sagt er:

      Dadn und daadndn, was in beiden Sprachen alles benennt, das ein Kleinkind interessant findet.

      Es wird eine vorläufige Adoption (provisional) werden, rechtskräftig erst später in der Bundesrepublik.

      Für die Vertreter der Adoptionsgesellschaft erscheint der Fall kompliziert, denn der Vater ist ein Österreicher, der aber in Deutschland leben will mit seiner Frau.

      Das heißt: Ein Rechtsanwalt in London, der sich mit dem österreichischen Adoptionsrecht auskennt, muss gefunden werden und ein Papier erstellen und beglaubigen. Und sie müssen dafür bezahlen.

      Anne Martin nennt den 11. Februar als das entscheidende Datum für die vorläufige Adoption.

      Doch es gibt kein Ergebnis, sondern neuerliche Bedenken.

      Beate und Benno werden blass, die Sozialarbeiterin tröstet: Es handele sich ja nur um ein paar zusätzliche Fragen. Sie müssten das verstehen bei einer Adoption mit ausländischen Eltern.

      Das farbige Mitglied des Komitees der Adoptionsgesellschaft möchte noch einmal Näheres über den Rassismus in Deutschland erfahren. Der Mann sieht das farbige Kind möglicherweise bedroht. Die Grimms sollen noch einmal eine Antwort darauf finden, ob sich der deutsche Rassismus gegenwärtig von britischen Verhältnissen unterscheidet und wie weit sich Deutschland vom Nationalsozialismus entfernt hat.

      Sie nehmen Walter Scheel, den späteren Bundespräsidenten, zu Hilfe. Als Beispiel. Der Außenminister hat mit seiner Frau Zwillinge aus Bolivien adoptiert.

      Zudem haben viele Kinder aus Vietnam eine deutsche Familie und eine deutsche Heimat gefunden.

      Beim zweiten Anlauf reichen diese Argumente, und die provisorische Adoption wird ausgesprochen.

      Irgendwann halten Grimms zwei Geburtsurkunden in den Händen: eine mit dem Namen der jungen Mutter, die Kopie der ursprünglichen Urkunde, und eine neue kleinformatige, auf das Wichtigste beschränkt, mit dem Namen Winston Grimm.

      Da ihr kleiner Junge noch britischer Staatsbürger ist, was er sein Leben lang bleiben kann, braucht er jetzt einen Reisepass.

      Das Schwierigste dabei wird es sein, ein Passfoto aufzunehmen. Schnell steckt ihm die Fotografin einen Bonbon in dem Mund, und das Foto gelingt. Ordnungsgemäß.

      Die kleinen Hürden werden im Galopp überwunden. Und dann kommt auch noch Glück hinzu.

      Fast alle Mitarbeiter des Deutschen Dienstes der BBC träumen von einer Redakteursstelle beim bundesdeutschen Radio. Als sie Benno angeboten wird, fällt die Entscheidung schnell, auch wenn sie London mit einer Träne im Auge verlassen, und eine lebenslange Sehnsucht zurückzukehren die Träne ablöst.

      Fast schon zu viert landen sie in Berlin (West), das zwei Jahrzehnte lang zum Lebensmittelpunkt wird.

      Winnys sechzehnjährige Mutter schreibt an Anne Martin:

      Ich bin so froh, dass Winston sich eingelebt hat mit seiner neuen Mutter und seinem neuen Vater. Nun kann er endlich in eine sichere und glückliche Zukunft blicken. Ich bin so erleichtert, die gute Nachricht zu hören, dass ich gar nicht sagen kann, wie glücklich mich das macht. Als immer mehr Zeit verging, fing ich schon an zu glauben, er werde nie Eltern bekommen.

      Liebe Mrs. Martin, ich danke Ihnen sehr für alles, was Sie getan haben, und werde stets dankbar bleiben.

      Mit besten Grüßen verbleibe ich

      Ihre Gail.

      Vor dem Start in den neuen Lebensabschnitt kündigt sich bei Grimms ein zweites Kind an, eine Schwester für Winston. Noch wird es fast neun Monate dauern bis zur Geburt in Berlin.

      Die Landung in Berlin-Tempelhof beendet Winnys ersten Flug. Mit der zweiten Passkontrolle.

      Ein neuer Alltag beginnt.

      Sie kennen niemanden im Westteil der Stadt, die ihre Heimat wird. Keine Menschenseele. Die Drei sind auf sich allein gestellt.

      So wird es länger bleiben, als ihr Lebensplan zu diesem Zeitpunkt vorsieht. Noch hofft Beate, in ihren Beruf als Redakteurin zurückzukehren, wenn die Kinder in den Kindergarten gehen.

      Der lebhafte kleine Junge fordert ununterbrochen Aufmerksamkeit von den Eltern. Sie wird ihm gern gewährt und macht bei aller Anstrengung Freude. Mit zweieinhalb Jahren gerät er in das Alter, in dem die Hände vieles können und wollen, dessen Gefahren der Kopf noch nicht versteht.

      In dem schlauen Buch des Amerikaners über Kindererziehung steht tröstend: „Better sailing ahead!“

      Eltern eines Kleinkindes sollten jetzt nicht verzweifeln, meint er. Wenn es drei Jahre alt werde, kämen wieder ruhigere Zeiten. Das Kind begreife dann mehr und protestiere weniger. Darauf hoffen sie und verstehen zunehmend andere Eltern, die berichten, sie gingen abends oft gleichzeitig mit ihrem Nachwuchs zu Bett.

      Die Skepsis der Großeltern gegenüber dem fremden Kind schmilzt beim ersten Besuch dahin. Für Beates Mutter wird Winny im Handumdrehen zum liebsten, klügsten und schönsten Enkelkind auf der Welt. Die andere Großmutter, die nur eine halbe Autostunde entfernt wohnt, äußert sich zurückhaltender. Zwar nimmt sie Winny häufig in Schutz, vor allem, weil er ein Junge ist. Aber vom Babysitten hält sie nicht so viel, wie sich die jungen Eltern wünschen.

      Wenn die Kindergartengruppe im Garten nebenan spielt, steht der Kleine am Maschendrahtzaun und zeigt mit dem Finger: da da da da!

      Die heiß begehrten Kindergartenplätze stehen jedoch erst für Dreijährige zur Verfügung, wenn die Eltern sie rechtzeitig angemeldet haben. Man schreibe sein Kind am besten schon lange vor der Geburt auf die Warteliste. Heißt es schon damals.

      Mit zwei Kindern wird eine Dreizimmerwohnung eng. Vor allem, wenn die Mutter auch noch versucht, zu Hause am Schreibtisch zu arbeiten. Ein Haus mit Garten – davon träumen Grimms.

      Benno hat in dieser Zeit zwei unvergessliche Erlebnisse, das heißt er macht zwei Erfahrungen, die zu seinem Erinnerungsschatz gehören werden.

      Als die Tochter geboren wird, fliegt er mit dem zweieinhalbjährigen Sohn für eine Woche aus Winterberlin nach Mallorca. Die neue Erfahrung beginnt im Flugzeug: Winny spielt ausdauernd mit dem Rollo am Fenster. Schnappschnapp. Monate später fragt er Benno, der von einer Dienstreise zurückkehrt: Papa, hast du schön mit dem Rollo gespielt?

      Benno hat eine Woche lang vorerst jedoch nichts anderes zu tun, als auf den Sohn aufzupassen, der blitzschnell verschwinden kann und viele Dinge entdeckt und anfasst, die ihn nach Ansicht anderer Menschen nichts angehen. Zudem bekommt er nach 24 Stunden Fieber und heftigen Husten. Beides wird ihn in den nächsten Jahren im Urlaub und bei irgendwelchen Veränderungen häufig begleiten.

      Auf Mallorca aber hat sein noch unerfahrener Vater das Problem, ein Zäpfchen an die richtige Stelle zu platzieren. Laut protestierend und weinend rennt Winny durchs Zimmer, der Erziehungsberechtigte hinterher, bis er den telefonischen Tipp von der Mutter bekommt, mit Creme fürs besseres Gleiten und weniger Wehtun zu sorgen.

      Ein hustendes Kind und ständig