R. B. Landolt

Eine Schlange in der Dunkelheit


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ja unser verehrter Herr Zauberer selbst vergessen abzuschließen. Wo ist dein Schlüssel?“

      Caligari griff in seine Manteltasche. Es entstand eine Pause, während die Leute gespannt zusahen, wie er in den Tiefen seines Wamses suchte, schließlich mit geröteten Wangen den Inhalt der Taschen auf den Boden kippte. „Er ist weg“, sagte er schließlich ungläubig. Mit dem Zeigfinger über die Nasenspitze streichend, dachte er angestrengt nach. „Moira!“, murmelte er halblaut. „Sie muss ihn mir in der Nacht aus der Tasche genommen haben.“

      „In der Nacht?“, fragte der Direktor erstaunt.

      „Sie benahm sich sehr eigenartig, also ging ich nachsehen. Ezechiel glaubt, dass jemand hier war. Ein Fremder. Vielleicht war das der Grund.“

      Ein überraschtes Raunen ging durch die Leute. „Ein Fremder?“

      „Du meinst während der Vorstellung?“

      „Blödsinn!“, sagte Shi-Sha. „Das ist doch dummes Zeug! Wahrscheinlich spinnt sie mal wieder. Das geschieht doch andauernd. Ein Fremder, so ein Scheiß!“

      „Also hör mal!“, rief Caligari aufgebracht. „Wie redest du über sie? Sie ist immer noch meine Frau, auch wenn sie –“

      „Ist doch wahr!“, unterbrach Shi-Sha seine wütende Entgegnung. „Und überhaupt – ich kann sie verstehen. An ihrer Stelle wäre ich längst abgehauen. Ich hoffe, dass es ihr diesmal gelingt. Das ist doch kein Leben in diesem grässlichen Wagen. Hinter Gittern, verdammt nochmal!“

      Caligari musste tief Luft holen, bevor er antworten konnte. „Sie ist nicht bei Verstand, das weiß doch jeder. Man muss sie zu ihrem eigenen Schutz einsperren. Wenn wir sie nicht finden, wird sie erfrieren oder verhungern.“

      „Vielleicht ist es genau das, was sie will. Alles ist besser als dieser Wagen. Und überhaupt – man sollte es dir endlich sagen, dass wir es leid sind, zuzusehen, wie Moira vor die Hunde geht.“

      „Was meinst du mit ‚wir‘?“, murrte Agatha. „Seit wann spielst du den Sprecher für uns alle?“

      Serafina drückte Shi-Shas Arm, doch es war zu spät. „Das sagst ausgerechnet du, du falsche Schlange!“, schrie er. „Du hast doch behauptet, dass Caligari und seine Frau nicht zu uns gehören. Dass man Moira besser in eine Anstalt bringen sollte.“

      „Was?“, rief Agatha entrüstet. „Sowas habe ich nie gesagt! Du bist ein Lügner!“

      „Lügner!“

      „Beruhigt euch endlich!“, befahl der Direktor.

      „Elender Wicht!“, murmelte Agatha, doch gerade laut genug, dass es jeder hörte. Shi-Sha sauste so schnell auf sie los, dass sie unwillkürlich einen Schritt nach hinten machte und über eine Kiste stolperte. Mit einem dumpfen Laut krachten die geschätzten hundert Kilo auf den Boden, das Vogelnest flog in hohem Bogen durch die Luft und kullerte weg.

      „Geschieht dir recht, dumme Kuh!“, rief Shi-Sha. Er zitterte am ganzen Körper. Jähe Stille trat ein. Das war zuviel für Ezechiel. Mit erstaunlicher Wendigkeit preschte er nach vorne. Bevor Shi-Sha reagieren konnte, war der Knecht über ihm.

      „Ezechiel!“, schrie Agatha, als ihr Ehemann, getroffen von einem gemeinen Tritt zwischen die Beine, nach hinten stürzte.

      Serafina stieß einen Schrei aus. „Gorgon!“

      Gorgon, der ungeachtet der lautstarken Diskussion seelenruhig beim Feuer gesessen hatte, stand gemächlich auf, packte Shi-Sha um den Nacken und hob ihn hoch. „Das genügt!“, herrschte er ihn an.

      „Was?“, schrie der Zwerg. „Ich bin nicht schuld! Warum gehst du auf mich los und nicht auf Ezechiel? Er hat angefangen, also lass mich los, verdammt!“ Gorgon schüttelte ihn noch etwas, dann ließ er ihn wie eine heiße Kartoffel zu Boden fallen.

      „Gut“, sagte der Direktor aufatmend, „macht euch auf die Socken, wir müssen schnellstmöglich Moira finden! Es wird immer kälter, und wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie wie letztes Jahr von selbst zurückkommt.“

      Während die Suche begann und sich die anderen in alle Himmelsrichtungen verteilten, saß Shi-Sha immer noch mit blassem Gesicht auf dem Boden. Niemand bemerkte den Blick, den er Gorgon hinterherwarf.

      Es war mehr als Wut. Es war blanker Hass.

      Serafina nickte Gorgon zu, der mit misslauniger Miene in Richtung des Waldes tappte. Shi-Sha ging in die andere Richtung, dorthin, wo die Straße zur Brücke hinaufführte, während Bruno und Matumbo in senkrechter Linie den Hang hinaufkletterten. Ihr Puls ging immer noch schnell. Mit einem letzten Blick zum Horizont, wo die ersten Sonnenstrahlen in einer Flut aus Licht die Bergspitzen zum Glänzen brachten, wollte sie sich selbst auf die Suche machen, da fiel unvermittelt ein langer Schatten über sie. „Guten Morgen, Jon“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, und lächelte.

      „Was ist denn los? Ich habe laute Stimmen gehört.“ Sie musste sich zurücklehnen, um dem Mann ins Gesicht blicken zu können. Der Mann war Jon Arboghast, der Riese, der größte Mensch auf Erden, größer als jedes andere Lebewesen, abgesehen von einem Elefanten oder einer Giraffe. Ein Riese, dünn und bleich, mit endlos langen Armen und einem viel zu kleinen Kopf, auf dem, leicht schief, ein Zylinder saß. „Ezechiel sieht mitgenommen aus“, sagte er. „Was ist passiert?“

      Serafina erzählte ihm, was geschehen war, und während er mit bekümmerter Miene zuhörte, pendelte sein langer Oberkörper hin und her. „Moira tut mir leid“, sagte er leise, als sie geendet hatte. „Kannst du dir ein Leben hinter Gittern vorstellen? Ich würde mich umbringen.“

      „Shi-Sha hat recht“, sagte sie. „Es ist ein unwürdiges Leben. Aber ich verstehe auch Caligari. Er hat keine Wahl. Der Wagen oder eine geschlossene Anstalt. Ich weiß nicht, was ich machen würde.“

      Nach einer Weile räusperte er sich. „Wir sind schon ein komischer Haufen, findest du nicht?“

      „Komisch? Wie meinst du das? Nur, weil einige von uns von der Norm abweichen, sind wir doch nicht komisch. Wir sind doch eigentlich ganz normal.“

      „Normal?“, seufzte Jon, „ganz sicher nicht.“ Er lächelte Serafina über den Rand seiner runden Nickelbrille an. „Wir sind ein Panoptikum. Ein Kuriositätenkabinett ...“ Seine Worte wirkten heiter, doch Serafina spürte die Traurigkeit dahinter.

      „Ich weiß, was du meinst“, sagte sie leise.

      „Du kannst von Glück reden, dass du nicht so bist wie wir. Du bist normal, jung und hübsch, du hast weder einen Buckel noch bist du ganzkörperbehaart oder zwergwüchsig wie Shi-Sha oder ein Riese wie ich ...“

      Und hier kommt der Riese aus dem Norden, pflegte ihn der Direktor anzukünden. Der größte Mensch auf Erden. Ein Wunder der Natur. Der einmalige Jon Arboghast.

      Ein Wunder der Natur.

      Serafina wusste, dass es nichts gab, was ihn mehr ärgerte.

      Während sie den Schal um ihren Hals legte und ihn auf der Brust verknotete, überlegte sie, wohin sich Moira gewandt haben könnte. Was hätte sie an ihrer Stelle gemacht? Oberhalb des Lagers erblickte sie einen Pfad, der den Hang hinaufführte, im Zickzack der steiler werdenden Anhöhe folgte und schließlich hinter einer Kuppe verschwand.

      Eine halbe Stunde später erreichte sie keuchend die Anhöhe. Ein kleines Haus, kaum erkennbar durch den plötzlich aufgezogenen dichten Nebel, duckte sich an den Abhang, umgeben von einer Hecke aus Feldsteinen und Weißdornsträuchern. Über dem Kamin, der notdürftig mit einer Drahtschlinge befestigt war, hing eine dünne Rauchfahne. Trotz Anzeichen des Verfalls strahlte das Haus eine gelassene Anmut aus, die Fenster blickten freundlich, und die Holzbank bei der Tür lud zum Verweilen ein. Serafina gab sich einen Ruck.

      Wer weiß, vielleicht hatten die Bewohner etwas gehört oder gesehen.

      Carlucci

      Wer bist du? flüstert eine Stimme in der Dunkelheit.

      Aus