R. B. Landolt

Eine Schlange in der Dunkelheit


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Zeit zu Zeit streicht er vorsichtig über die Schläfe, verzieht schmerzhaft das Gesicht.

      Wer bist du?

      Der Mann hebt den Kopf, blinzelt aus erschöpften Augen. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln streicht um seinen Mund. Du weißt es, murmelt er durch zusammengebissene Zähne …

       Ein kurzes Flackern, das Bild verdunkelt sich, zerfließt … Eine Eruption aus Licht, Sonne, Farben … Der Mann steht am Wegrand, immer noch bleich, dünn, doch deutlich kräftiger. In seinen Augen steht neue Hoffnung. Er trägt ein schmales Bündel über der Schulter. Eine kleine zarte Frau steht neben ihm, die Hand auf seinem Arm. Du wirst sie finden, murmelt sie nach langem Schweigen. Geh in den Süden … Der Mann wendet den Kopf , nickt.

      Pass auf, flüstert sie. Der Schatten ist nahe … Er ist böse …

      Jaco erwachte langsam und widerstrebend aus seinem Traum. Etwas hatte ihn geweckt, ein Geräusch, eine Stimme in weiter Ferne. Mit der Hand langsam über seine Augen streichend, versuchte er, sich zu erinnern, doch da war nichts mehr. Alle Einzelheiten, die Momente zuvor noch klar und lebendig gewesen waren, hatten sich verflüchtigt. Missmutig streckte er einen Arm unter der Decke hervor und zog den Vorhang zur Seite. Mit den Zeigefingern strich er sich den Schlaf aus den Augen und blinzelte in die verschmutzte Fensterscheibe, wo sich verschwommen sein Gesicht spiegelte. Ihm schien, dass das, was ihm entgegenblickte, nicht besonders attraktiv war. Das Gesicht war zu schmal und zu eckig, die Wangen zu mager, das Haar zu lang und hätte längst geschnitten werden sollen. Von der dunklen Haut gar nicht zu sprechen. Kein Wunder, dass ihn die Einheimischen Zigeuner nannten. Wahrscheinlich hatten sie sogar recht. Ein paar Sekunden betrachteten sich Original und Spiegelbild voller Argwohn, dann streckte er sich selbst die Zunge heraus, zog das Fenster auf und beugte sich hinaus.

      Der Nebel war überall. Durch die weiße Brandung schimmerte, wie ein runder kraftloser Klecks, die Sonne. Nur einige Felstürme leuchteten am Horizont, und in der Ferne ragte das Gebirgsmassiv empor, hell und wuchtig in der Morgensonne glänzend. Von der Stadt war nichts zu erkennen; sie schien versunken zu sein, hatte vielleicht nie existiert, und das wäre wohl auch besser gewesen. Eine Bö zerzauste die weißen und grauen, sich unablässig bewegenden und zerfließenden Schwaden, trieb sie vor sich her wie eine Herde weißer Schafe. Aus dem Nebel stachen nun, versunkenen Galeeren gleich, die Umrisse der obersten Häuser, und dazwischen, hell und spitz, der Kirchturm, daneben der Friedhof, der sich an die Kirchenmauern klammerte.

      Seine Gedanken wanderten zu einer moosüberwachsenen Mauer, an deren Fuß die Gräber der Fremden lagen, die das Pech gehabt hatten, ausgerechnet an diesem ungastlichen Ort ihren letzten Seufzer zu tun. Inmitten der Erdhügel ragte ein Stein hervor, schimmernd wie schwarze Seide, doch namenlos, ohne Widmung oder Jahreszahlen. Ichabod hatte ihm vom Vorschlag erzählt, dass er die Verzierung des Grabsteins hatte bezahlen wollen, aber auch vom Widerstand der Behörden, die sich auf den Standpunkt gestellt hatten, dass man einer Fremden, einer Zigeunerin, keine spezielle Ehre erweisen wolle.

      Er blickte noch ein paar Minuten gedankenverloren in die farblose Einöde hinaus, dann schloss er das Fenster, zog die Decke bis zum Hals hoch und dachte nach. Im Ofen knackte verglühendes Holz, der Geruch nach Feuer und Rauch kräuselte in der Luft.

      Die Ereignisse des Vorabends ließen ihm keine Ruhe. Er konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, was sich im Zirkuslager abgespielt hatte. Was war mit der Frau los? Warum hatte sie bei seinem Anblick geschrien? Es war nicht schwer sich vorzustellen, dass sein unerwartetes Auftauchen mitten in der Nacht wie ein Schock gewirkt haben musste. Hatte sie ihn mit jemandem verwechselt? Es musste so sein, denn eine andere Erklärung fiel ihm auch nach langem Nachdenken nicht ein. Auf jeden Fall hatte ihm seine Neugier wieder mal einen bösen Streich gespielt. Während er verdrossen über seine Brauen strich, musste er plötzlich lachen. „Du bist immer noch der gleiche Idiot“, brummte er. „Mitten in der Nacht in einen Wagen –“

      „Hallo!“, rief jemand.

      Es dauerte nicht lange, bis ein kräftiges Klopfen erklang, gefolgt von einem neuerlichen „Hallo! Niemand da?“ Es war eine Mädchenstimme, diesmal lauter und spürbar ungeduldiger. Jaco lag völlig starr da und kämpfte mit der Versuchung, zur Tür zu rennen, doch er rührte sich nicht. Erleichtert hörte er nach einer Minute, wie sich langsame Schritte entfernten, und erst jetzt wagte er, wieder zu atmen und einen vorsichtigen Blick nach draußen zu werfen. Das Mädchen stand knapp hundert Meter vom Haus entfernt und schaute aufmerksam den Berg hinauf. An dieser Stelle stieg das Terrain steil an, es war voller Steine und Felsen, und man musste den Weg kennen, um ohne Gefahr zu den oberen Wiesen zu gelangen.

      Jetzt fiel ihm auch ihr Name wieder ein. Serafina. Dieser eingebildete Fratz vom Zirkus! Was zum Teufel hatte sie hier zu suchen in aller Herrgottsfrühe? Als hätte sie seine Gedanken gelesen, drehte sie den Kopf und sah in seine Richtung. Jaco glaubte, ihren forschenden Blick zu spüren, und schloss eilig den Vorhang.

      Verdammt, ich bin wirklich ein Idiot.

      Warum hatte er nicht geöffnet? Vielleicht brauchte sie Hilfe. Um diese Zeit musste ein besonderer Grund vorliegen. Wenn er sich nicht so saudumm angestellt hätte, wüsste er jetzt Bescheid. Noch während er auf der Bettkante saß, gellte in der Ferne ein Pfiff. Vorsichtig zupfte er am Vorhang. Seine Miene verdüsterte sich.

      Das Mädchen war verschwunden.

      Beim Frühstück spürte er eine eigentümlich gereizte Stimmung, die er nicht nur mit seinem mangelnden Schlaf erklären konnte, und auch der gekochte Schinken, den ihm Ichabod am Abend zuvor eingepackt hatte, vermochte seine Laune nicht zu bessern. Mit mürrisch verzogenem Mund knabberte er auf dem Brot herum, während er benebelt ins Leere starrte.

      „Idiot!“, brummte er immer wieder, denn im Nachhinein wäre es ihm um einiges lieber gewesen, wenn er die Tür geöffnet hätte, so wie es höfliche Leute tun. Als er sich auch noch an einem Bissen verschluckte, wurde es ihm endgültig zu bunt. Er stierte noch eine Weile finster auf die Kaffeetasse, als wäre sie die Ursache allen Übels, dann räumte er den Tisch leer und verzog sich mit trister Miene in die Küche. Während er die Pfannen schrubbte, ließ er seine Gedanken zum gestrigen Tag schweifen … zurück zur Olin und seinem Vater, dessen gnadenlose Verfolgung er von nun an fürchten musste … zur Frau im Käfig, die ihm einen derartigen Schrecken eingejagt hatte … aber auch zu Serafina, dem frechen Gör, das trotz allem eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn ausübte …

      Er seufzte, versorgte das Geschirr, überlegte ein paar Sekunden und traf eine Entscheidung.

      Ein paar Minuten später folgte er mit gewandten Schritten dem Fußpfad, der sich zwischen brusthohem Buschwerk den Berg hinauf schlängelte, und gewann rasch an Höhe. Schließlich versank der Nebel hinter ihm, das Sonnenlicht badete ihn in gleißender Helligkeit.

      Mit kräftigen Klimmzügen zog er sich auf einen Felsen hinauf und schaute sich um.

      „Wo zum Teufel bist du, Serafina?“, murmelte er mit einer Spur Ärger.

      Die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, blickte er missmutig in die brodelnde Nebelsuppe und fragte sich, ob er nach ihr rufen sollte. Als ein kehliger Laut an sein Ohr drang, schaute er auf. Eine Schar Dohlen kreiste, und weiter oben, nur erkenntlich an den breiteren Schwingen, zeichnete ein Raubvogel geschmeidige Schwünge, in seinem Schlepptau ein paar kleinere Vögel, die ihn verfolgten und einen schrecklichen Krach veranstalteten. Jaco grinste, hob die Zeigefinger an die Lippen und ließ einen schrillen Pfiff ertönen.

      Der Vogel zögerte kurz. „Tonto! Komm her, hier bin ich.“ Einen Augenblick befürchtete er, dass ihn der Adler nicht gehört hatte, doch dann ließ er sich in anmutigen Schwüngen und einem kaum sichtbaren Ausholen der Flügel in die Tiefe sinken, seine Verfolger wie einen flatternden Schleier hinter sich herziehend. Schon konnte Jaco den weißen Kopf erkennen, den gekrümmten gelben Schnabel, da flatterte der Adler mit seinen Schwingen, und mit einem zornigen Klijak schwang er sich wieder in die Höhe.

      Jaco schaute ihm enttäuscht nach, bis er in der Ferne verschwand.

      Und da war sie.

      Manchmal spielte der Nebel seltsame Streiche, und