Anna Bloom

Sophies Erwachen


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und ich hatten in der ersten Stunde zusammen Mathe. Wir gingen in den Raum, wo mich Stephanie der Lehrerin vorstellte. Ab jetzt begann die unheimlich peinliche Vorstellungsrunde durch die Lehrer, die ich in jedem Kurs über mich ergehen lassen musste. Die Schüler taten meistens ein wenig interessiert, aber waren dabei höflich zurückhaltend. Das machte es mir einfacher. Der Einstieg in Mathe war ziemlich leicht. Es war noch nichts Neues für mich dabei. Vielleicht würde sich das ja im Laufe des Jahres noch ändern. Da Stephanie auch gut in Mathe war, würde sie mir helfen können, wenn ich etwas doch nicht verstehen sollte. Im Englischkurs war es ähnlich. Jessica und Paula belegten den gleichen Kurs wie ich. Auf dem Programm stand englische Literatur. Angefangen von Beowulf über Shakespeare bis Oscar Wilde war alles dabei, was die englischsprachige Literatur zu bieten hatte. Wir fingen gleich mit der trockenen Theorie an und bekamen die Hausaufgabe, im Textbuch einen Aufsatz dazu zu lesen. Erst morgen würden wir mit dem ersten richtigen Text anfangen. Das hörte sich alles gut an, irgendwie war ich euphorisch. Alle diese Texte im Original lesen zu können. Mit Jessica und Paula an meiner Seite fühlte ich mich nicht so allein. In Geschichte sah das schon etwas anders aus. Keiner, den ich kannte, war im gleichen Kurs und so wie ich den Lehrer verstand, stand englische und Kolonialgeschichte auf dem Lehrplan. Viele Begrifflichkeiten, geschichtliche Ereignisse und Personen, die er erwähnte, kannte ich gar nicht. Das konnte noch heiter werden. Nachdem mich der Lehrer kurz vorgestellt hatte und gleich die Gelegenheit nutzte, den Schülern eine kleine Lektion über Deutschland zu erteilen, das für viele am anderen Ende der Welt war und das sie lediglich als Gegner im zweiten Weltkrieg und als Fußballnation kannten, setzte ich mich in der letzten Reihe neben dem Fester in die freie Bank, hinter dem einzigen Gesicht, das ich kannte. Christina schien etwas verblüfft, dass ich nach Stephanies Aktion von heute Morgen, die Nähe zu ihr suchte. Es gab immerhin ein paar alternative Sitzgelegenheiten, die ich aber ignorierte, um sie kennenzulernen. Sie drehte sich kein einziges Mal zu mir um und wahrte den Sicherheitsabstand, auf den Stephanie zuvor bestanden hatte. Erst als Mr. Harris die Bücher austeilte, kam mir der Zufall zur Hilfe. Er hatte ein Buch zu wenig dabei. Da ich die letzte in der Reihe war, ging ich leer aus und er bat Christina darum, mich während des Unterrichts in ihr Buch schauen zu lassen. Nach der Stunde würde ich von ihm im Lehrerzimmer ein eigenes Buch erhalten. Christina und ich nickten zustimmend und sie drehte sich zu mir um, als Mr. Harris uns den Aufbau des Buches und die Lerninhalte in der Übersicht erläuterte. Christina hatte eine warme und beruhigende Ausstrahlung. Ein sanfter lieblicher Duft ging von ihr aus, der mir sehr gefiel. Obwohl sie sich auf das, was Mr. Harris sagte konzentrierte, blickte sie ab und zu auf und schaute mich an. Sie lächelte freundlich, wenn ich ihren Blick erwiderte. Irgendwie fühlte ich mich ihr sehr nah. Es war, als ob unsere Freundschaft vorprogrammiert war. Nachdem die Glocke klingelte, bedankte ich mich bei ihr. Sie bot mir ihr Buch an und sagte, sie würde mit Mr. Harris zum Lehrerzimmer gehen, um das andere zu besorgen. Dann müsste ich nicht durch das Schulhaus irren auf der Suche nach dem nächsten Raum. Ich nahm ihr Angebot dankbar an und sah sie den ganzen Tag nicht mehr.

      Biologie war eine Sache für sich. Der Bioraum war auf Experimente ausgerichtet, das sah man sofort. Jeder Tisch war mit einem Waschbecken und einem fest installierten Mikroskop ausgestattet. Die Tischplatte bestand aus einem steinernen Material, von dem man verschüttete Flüssigkeiten leicht wegwischen konnte. Die Tische und Bänke waren wie im Kino nach oben hin aufsteigend gebaut. Als erstes stellte ich mich dem Lehrer vor - er hieß Mr. Stewart, war alt, unsympathisch, unrasiert, etwas zittrig und ich bezweifelte, dass er die Klasse in Zaum halten konnte, die im Vergleich zu den Stunden die ich vorher hatte, sehr laut war. Mir wurde ganz schlecht, als ich zwei Schaumränder in seinen Mundwinkeln entdeckte, die immer größer wurden. Zu meinem Unglück redete er so lange mit mir, bis die Stunde anfing und stellte mich dann den anderen Schülern vor. Während er sprach, warf einer der Jungs, die in der letzten Reihe saßen, einen Papierflieger in unsere Richtung. Der Flieger landete auf meinem rechten Fuß. Mr. Stewart war wirklich ein Waschlappen und bemerkte nur, ob das die freundliche Art sei, eine neue Schülerin zu begrüßen und entließ mich endlich. Ich setzte mich in die erste Reihe außen neben ein Mädchen, das eine Maori sein musste. Sie drehte sich gleich zu mir und flüsterte: „Mach Dir nichts draus. Kyle ist immer so dämlich. War bestimmt nicht persönlich gemeint.“

      „Ist schon ok. Wie alt ist er eigentlich?“, erwiderte ich und lächelte.

      „Sein Hirn blieb bei fünf Jahren stehen. Ich heiße übrigens Kiri.“

      „Ich bin Sophie.“

      „Freut mich. Herzlich willkommen in Neuseeland.“

      „Danke schön.“

      Ich drehte mich unauffällig nach hinten und schaute zu Kyle, dem Fliegerattentäter. Er starrte mit gläsernen Augen direkt in meine. Er musste mich die ganze Zeit beobachtet haben. Ich drehte mich schnell wieder weg und war mir nun sicher, dass der Flieger mir gewidmet und nicht zufällig auf meinem Fuß gelandet war.

      Mr. Stewart teilte die Bücher aus und es wurde noch lauter um uns herum. Er hielt es auch dann nicht für nötig, die Schüler zu ermahnen, als er damit fertig war und mit seinem Unterricht anfing. So verstand ich mit meinen dürftigen Englischkenntnissen und der Lautstärke im Raum nur die Hälfte von dem, was er sagte. Bei biologischen Begriffen stieg ich ganz aus. Ich hoffte, dass ich wenigstens aus den Büchern lernen konnte. Ich schlug das Buch vor mir auf und sah auf fast allen Seiten sezierte Tiere und ihre Innereien abgebildet. Eine leise Ahnung stieg in mir auf und ich wandte mich Kiri zu.

      „Sag mal, wir werden doch nicht echte Tiere sezieren, oder?“

      „Doch, das ganze Jahr über eigentlich“, sagte Kiri und verzog die Lippen, um ihren Ekel zu signalisieren.

      „In Deutschland steht das gar nicht auf dem Lehrplan.“

      „Ich wünschte hier wäre das auch so. Das Schlimmste ist, dass der Kurs direkt vor dem Mittagessen stattfindet.“

      „Essen kann ich danach definitiv nicht.“

      „Ich wollte zwar abnehmen, aber so radikal auch nicht“, kicherte Kiri.

      Zum Glück fingen wir heute nicht gleich damit an, Tiere aufzuschlitzen. Trotzdem war ich froh, als die Glocke läutete und wir endlich in die Mittagspause gehen konnten. Kiri und ich waren die ersten, die durch die Tür gingen, da wir direkt daneben saßen. Wir liefen nebeneinander in die Kantine als wir plötzlich von beiden Seiten angerempelt wurden. Es waren Kyle und sein Lakai Luke, den ich vom Foto des Rugbyteams erkannte. Kyle rief mir zu „Na Miss Germ, Appetit auf Tiere?“ Ich tat so, als wüsste ich nicht, dass er mich damit meinte. Die beiden lachten und liefen weiter, aber nicht ohne weitere Leute anzurempeln und einen Rugby über die Köpfe der Leute hinweg hin- und herzuwerfen.

      „Vollidioten“, schimpfte Kiri und strich über ihren Oberarm, wo Luke sie angerempelt hatte.

      „Mit Miss Germ meinte er natürlich mich. Wie einfallsreich.“ „Germ“ bedeutet Bakterium und gleichzeitig ist das Wort eine Anspielung auf das Wort „Deutsch“. Als ich über die zweite Satzhälfte nachdachte, fiel mir auf, dass er unsere Diskussion über Essen aufgegriffen hatte: Ob ich Appetit auf Tiere hätte? So weit, wie die beiden von uns weg saßen und so laut wie es in der Klasse gewesen war, konnte Kyle unser Gespräch nicht mitgehört haben. Aber wir hatten heute gar keine Tiere seziert, insofern war es nicht naheliegend, dass uns der Appetit vergangen war. Konnte es nur ein Zufall sein? Oder konnte Kyle Lippen lesen?

      Kiri schien der Satz nicht weiter aufgefallen zu sein. Ich behielt meine Spekulationen für mich und wir stellten uns zusammen in der Warteschlange für das Essen an. Kiri hatte glatte, glänzende schwarze Haare und einen sehr schönen dunklen Teint. Ihre kleinen fast schwarzen Augen schauten forsch. Sie war kleiner und zierlicher als ich. So flink wie sie sich bewegte, hatte man den Eindruck dass sie viel Energie hatte. Das begeisterte mich auch an Stephanie. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Wir plapperten ein bisschen über das Rugbyteam. Laut Kiri waren die Jungs zwar voller Testosteron, woran die gesamte Schule zu leiden hatte, aber ihrer mangelnden Intelligenz wegen nicht weiter gefährlich. Trotzdem waren alle nicht gut auf sie zu sprechen und gingen ihnen aus dem Weg, um nicht als Opfer zu enden. Sie zu ignorieren war die beste Strategie, um ihr Interesse nicht zu wecken. Das würde ich versuchen zu beherzigen, auch wenn mir