Renate Wullstein

Alles ausser Sanssouci


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      Renate Wullstein

      Alles ausser Sanssouci

      Die Geschichten der Potsdamer

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       Verlagslogo

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Die Älteste

       Ich wohne, wo der Panzer stand

       In der Mitte

       Der Überflieger

       Manfred, zeichnen Sie doch mal eine Wendeltreppe von unten

       Das Protokoll von 1968

       Theater

       Der Sandmann

       Das ist Isi

       Der letzte Fischer

       Kann es ein bisschen mehr sein?

       Senf oder Ketschup

       Schwere Sorten

       Gebrannte Erde

       Angeworben

       Der Auswanderer

       Stube, Stasi, Staatsgewalt

       Der Einwanderer

       Alltag in der Klinik

       Sagenhaft

       Der Lehrer

       Dynamo & ASK Potsdam

       Der Radiomann

       Potsdamer Villen (I)

       Impressum neobooks

      Die Älteste

       Ilse Nowak, 1909 - 2018

      Auf der Suche nach einem besonders alten Menschen, einem Zeitzeugen zweier Weltkriege und vierer politischer Systeme in Potsdam, und nachdem ich von der Stadtverwaltung aus Datenschutzgründen keine Namen erhalten kann, gehe ich zu den Altersheimen. Im Französischen Quartier muss ich klingeln, um ins Haus zu kommen. Ich sehe nirgends Menschen. Im Sekretariat erkläre ich mein Vorhaben, gebe die Visitenkarte ab und erhalte das Versprechen, man werde jemanden suchen. Tatsächlich bekomme ich am nächsten Tag einen Anruf. Helga Schulte habe ihre Telefonnummer für mich freigegeben, sie kenne mich auch von früher, sie lebe noch in der eigenen Wohnung, und gestalte in regelmäßigen Abständen einen Nachmittag bei Wallich & Schneider. Helga Schulte war Gleichstellungsbeauftragte, sie ist jedoch so krank, dass an einen Gesprächstermin vorläufig nicht zu denken ist. Schade weil, die Familie Schulte stammt vom ersten Hofkonditor ab. Im modernen 'Heilig Geist' bekomme ich keine Greise zu Gesicht, gebe am Empfang die Visitenkarte ab, höre aber nichts von dort. Alles ist anders beim Emmaus-Haus. Es ist offen. Es gibt keine Rezeption. Am ersten Gebäude des sanierten 89 Jahre alten Komplexes stehen Senioren beisammen und reden. Man holt die Post aus dem Briefkasten. Freudig wird einer begrüßt, der aus dem Krankenhaus zurück ist. Im Rollstuhl sitzt Gerda Wache. Hier ist das 'Betreute Wohnen'. Man hat ein Appartement. Sie ist mir zwar nicht alt genug, (ich dachte an über 100jährige), hat aber viel zu erzählen und gibt außerdem den Tip, drüben beim Pflegebereich eine 105jährige, die geistig klar sei. Dort gehe ich durch die Flure. Gerda Wache hatte den Namen verwechselt. Die älteste hier heißt Ilse Nowak und man wird mal fragen, ob sie Besuch empfangen will und kann. Ich folge mit Abstand. Die Pflegeschwester spricht mit der Dame sehr laut. Während meiner drei Besuche bei Ilse Nowak teste ich die Frau mit dem Ergebnis, dass sie nur bei Bedarf schwerhörig ist - die ersten Sätze hatte ich gerufen, dann normal weiter geredet und manchmal sogar leise. Die erste Begegnung. Sie sitzt im Rollstuhl und sieht mich aufmerksam an: „Wir kennen uns aber nicht. Sie kennen mich nicht, nein?" Es folgt ein Geplänkel. Ich schalte das Aufnahmegerät an, einen Stick, dem man das Mikrofon nicht ansieht. Ilse Nowak staunt. Ich schlage mein gestern gekauftes Notizbuch auf. „Das ist aber ein schönes Buch. Wie heißen Sie?" Ich schreibe meinen Namen rein, schöne Schrift, meint sie. „Ich schenke Ihnen das Heft“, sage ich und lege es demonstrativ auf ihr Bett. Es hat einen tieflila Umschlag,. „Wissen Sie mein Hobby?", sagt sie. „Hat man Ihnen das gesagt?" Ilse Nowak hat Fehler gesammelt; dutzende Hefte sind vollgeschrieben mit Zeitungsdruckfehlern, ausgeschnittene kleine Artikel liegen in einem Kästchen. Ilse Nowak war Lehrerin. Handarbeit, Werken und Turnen, seit den 20er Jahren bis 1969 etwa. Geschichten aus der DDR-Zeit in Potsdam, da kann sie mir gar nichts erzählen, war wohl zu banal alles. Überhaupt kann man sagen, sie ist keine Frau, die in der Vergangenheit schwelgt, ich muss ihr alles aus der Nase ziehen, was mich interessiert. Sie lebt im Jetzt. Und im Nachhinein stellte ich fest, dass sie kein Wort über Krankheiten oder das bevorstehende Sterben verlor. Sie sprach, als sollte sie ewig leben. Hat sie einen Rat, wie man so alt wird? „Nee, das ist einfach so gekommen." Geboren ist sie also 1909 in Berlin Tempelhof. Der Vater, eigentlich Lehrer, war jetzt mit 35 Jahren beim Militär, bei den Gardeschützen in Lichterfelde. 1913 wurde er nach Potsdam versetzt. Die Familie wohnte nun in der Hohenzollernstraße (heute Schopenhauerstraße), Nähe Obelisk. Ilses Kindergarten war in der Lindenstraße. Sie ging allein hin und erinnert sich, dass sie dort nicht an den Klingelknopf reichte und ein Stöckchen bei sich hatte. Als 1914 der I. Weltkrieg ausbrach, waren Mutter und Kind allein und zogen zur Tante bei Mönchengladbach. Nach dem Krieg zurück nach Potsdam. Der Vater lebte. Sie wohnten in der Breiten Straße nahe der Garnisonkirche. Dort ging Ilse zum Kindergottesdienst und später bei Otto Becker in den Chor. Zum Umfeld gehörte der Lustgarten mit seinem Kastanienwäldchen, die Schloßstraße mit der Hofbäckerei Gericke, die Plantage als gefahrloser Schulweg. Über den Kanal führten damals 19 Brücken. Es gab den Fischmarkt und zahlreiche Boote.1926-1930 lernte sie an der von Johanna Just gegründeten 1. Preußischen Handels- und Gewerbeschule für Mädchen. An dieser Geschichte hangeln wir uns mit Hilfe der Fotoalben durch. Das Sporthaus gegenüber der Schule am Tiefen See. Ruderboote. Die Mädchen im Vierer oder Achter. Das Rudern hatte Ilse besonders gefallen. Dann wird die Erinnerung etwas unordentlich. In den 30er Jahren wurde sie irgendwann sogenannte