Ute Janas

Kiras Mission


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dem Magnetstein öffnete Alvin die Tür zum Zentralraum. Hier waren die Wände und die halbrunde Decke ganz und gar mit silbernen Stoffen verkleidet, weil Silber für die Erdmunkel die Farbe der Konzentration war. Hier wurden alle strategischen Pläne ausgearbeitet, die für das Leben und das Überleben der Munkel von Bedeutung waren. Hier gab es einen direkten Zugang zum Matrixraum, von dem aus ein raffiniertes System von Magnetstrahlen die Munkel an jeden gewünschten Ort der Oberwelt bringen konnte. Unmittelbar daneben befand sich der Überwachungsraum, von dem aus mittels einer hoch entwickelten Technik Bild- und Tonaufnahmen von jedem beliebigen Ort auf der Welt gemacht werden konnten.

      Jetzt saßen Alvin und seine Mitstreiter allerdings etwas ratlos an dem großen ovalen Tisch aus dunkelblauem Stein.

      „Lasst uns den Trank der Weisen nehmen, bevor wir beraten“, sagte Alvin und forderte seine Gehilfen mit einem Kopfnicken auf, ihnen das gewünschte Getränk einzuschenken. Sie nahmen einen Schluck aus ihren Silberbechern und schlossen für einen Moment die Augen. Dann eröffnete Alvin die Sitzung.

      „Was meint ihr zu dem Spruch der Seherin?“, fragte er in die Runde.

      „Wenn Magia das so gesehen hat, dann müssen wir ihrem Wunsch folgen“, eröffnete Olef die Gesprächsrunde.

      Bandur, der Überwacher, stimmte ihm zu:

      „Wir müssen im flachen Land nach kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen suchen, die Kira heißen, wir machen von jeder eine Bildaufnahme und bringen sie Magia“.

      Ceros, ein sehr alter Mann, meldete sich zu Wort.

      „Es ist eine sehr weitreichende Entscheidung, die wir hier zu treffen haben“, sagte er bedächtig und fuhr fort, „aus gutem Grund halten sich die Erdmunkel seit vielen, vielen Generationen von den Menschen aus der Oberwelt fern. Wir haben nicht viel Gutes von ihnen erfahren, und die meisten Munkel haben Angst vor ihnen. Wir müssen die Auswirkungen unserer heutigen Entscheidung gut bedenken“.

      „Vielleicht ist jetzt die Zeit für einen Neuanfang gekommen, vielleicht bricht jetzt für uns eine andere Zeit an“, meinte Kalia, die einzige Frau im Ältestenrat nachdenklich.

      „Was meinst du damit, Kalia?“ fragte Alvin.

      „Ich meine, dass es in der Entwicklung unseres Volkes immer Sprünge gegeben hat. Wesentlichen Änderungen folgte oft lange Zeit der Stagnation. Nun, wir haben uns technisch entscheidend weiter entwickelt und sind den Menschen aus der Oberwelt darin weit überlegen. Aber wir waren in unserer Kultur und unseren sozialen Beziehungen seit Jahrhunderten auf uns selbst bezogen und haben keine Impulse mehr von außen bekommen. Ich könnte mir eine solche Begegnung also auch belebend vorstellen und würde es gerne ausprobieren“.

      Alle schauten Alvin an und warteten auf seine Entscheidung. Er lehnte in seinem Sessel und hatte die Augen geschlossen. Auf dem steinernen Tisch stand ein Stundenglas, dessen Sand unaufhörlich rann.

      Als der Sand die andere Hälfte des Glases gefüllt hatte, öffnete Alvin die Augen und sagte: „Ich stimme zu. Die Überwacher werden morgen mit ihrer Arbeit beginnen. Jetzt gehen wir zusammen zum Essen“.

      Sie verließen den Silberraum und begaben sich über das Laufband zum Speisesaal. Dort waren nebeneinander viele kreisförmige Vertiefungen in den Boden eingelassen, auf deren Rändern Kissen lagen. In der Mitte der Vertiefungen befanden sich Tische, die mit Tellern und dampfenden Schüsseln gedeckt waren. Zehn Munkel, die in dieser Woche Küchendienst hatten, trugen weitere Schüsseln auf und schleppten Krüge herbei, aus denen sie eine blaue Flüssigkeit in die Becher schütteten.

      „Hm, heute gibt es Masalis“, freute sich Bandur, nahm einen Schluck Blaumilch und häufte sich das wohlriechende Gemüse auf den Teller.

      „Siehst du, das Leben unter der Erde hat auch Vorteile“, sagte er schmatzend zu dem neben ihm sitzenden Alvin, „die Menschen in der Oberwelt kennen kein Masalis, und Blaumilch haben sie auch nicht“.

      Alvin lächelte und bediente sich mit Knollzwiebeln, auch ein Gewächs, das die Erdmunkel unter der Erde zogen.

      Die Munkel ernährten sich nur von Pflanzen, manchmal auch von oberirdischen, die sie auf versteckten Plätzen nachts anbauten und auch im Dunkeln ernteten. Und manchmal gab es sogar Getreide oder Obst, das die Munkel auf ihren nächtlichen Ausflügen von den Feldern ernteten und in die Unterwelt schickten. Viel brauchten sie nicht, da sie im Laufe der Jahrtausende immer kleiner geworden waren und ihre Körperlänge jetzt kaum mehr als vierzig Zentimeter maß.

      Die Stimmung beim Essen war sehr aufgeregt. Magias Spruch hatte sich inzwischen bei allen herumgesprochen, und nicht wenige hatten Angst davor, einem Menschen aus der Oberwelt Zutritt zu ihrem Reich zu verschaffen. Man hatte im Laufe der Jahrhunderte viele schlechte Erfahrungen mit diesen Menschen gemacht, die von Generation zu Generation weiter berichtet wurden. Noch heute sprach man von den Erlebnissen, die einige ihrer Vorfahren mit den Menschen aus der Oberwelt hatten, als sie Nacht für Nacht in einer Stadt namens Köln aufgestiegen waren, um für diese Menschen zu arbeiten. Sie hatten nachts Brot gebacken und das Mehl gemahlen. Sie hatten sogar Fleisch gepökelt, was sie enorm widerlich fanden, sie hatten geputzt und gemauert und vieles andere getan - und wie hatten die Menschen es ihnen gedankt? Eine Frau hatte Erbsen auf die Treppe geschüttet, auf denen die Munkel ausrutschten, sich verletzten. Eines brach sich sogar ein Bein. Das war dann für alle Zeit das Ende ihres Einsatzes in jener Stadt gewesen, und wenn die Menschen ihr Verhalten bedauert hatten, dann konnte man das nur einem Gedicht entnehmen, das noch heute von den guten Werken der „Heinzelmännchen zu Köln“ kündete.

      In dieser Nacht wurde im Speisesaal lange diskutiert. Männer, Frauen und Kinder sprachen miteinander, tranken Blaumilch und Sellerieschnaps. Es waren alle da, bis auf die diensthabenden Überwacher und Bizo, der immer noch tief, satt und glücklich schlief.

      Am nächsten Tag mussten die Kinder in die Munkelschule, die sich auf der zweiten Ebene befand.

      Vor Beginn des Unterrichts wurden Bizo, Ingor und Larma zu der Schulleiterin gerufen, die von Kirvin informiert worden war.

      „Setzt euch“, sagte sie streng und dir drei quetschten sich brav auf eine Bank.

      Dann führte die Schulleiterin ein strenges Verhör durch und befragte insbesondere Ingor und Larma, warum sie Bizo alleine in der Oberwelt zurück gelassen hatten, ohne die Kommandozentrale zu informieren.

      „Wir wussten, dass wir Ärger kriegen, deshalb haben wir nichts gesagt“, antworteten die beiden ängstlich.

      „Aber damit habt ihr unverantwortlich gehandelt. Wenn Bizo etwas zugestoßen wäre, hättet ihr Schuld gehabt. Und ihr hättet damit auch dem gesamten Volk der Erdmunkel einen großen Schaden zufügen können. Das ist ein schlimmes Vergehen, ich muss euch empfindlich bestrafen. Ihr seid offensichtlich noch nicht reif genug, die Oberwelt zu besuchen, deshalb bleibt ihr ab heute für ein ganzes Jahr in der Unterwelt. Darüber hinaus besucht ihr einmal pro Woche den Oberweltlernkurs bei Professor Palman. Gebt mir eure Magnetsteine!“

      Ingor und Larma blieb die Luft weg. Die Aushändigung des Magnetsteins und damit die Berechtigung zum Besuch der Oberwelt war im Leben eines jeden jungen Erdmunkels ein besonderes Erlebnis, und der Entzug des Steins war eine furchtbare Blamage. Und dann auch noch für ein ganzes Jahr, welch eine Schande!

      Ingor funkelte den unglücklichen Bizo an: „Das ist alles deine Schuld“.

      „Irrtum“, sagte die Schulleiterin. „Bizo könnte tot sein, und das wäre dann eure Schuld. Was ihr getan habt, ist fast unverzeihlich, dafür müsst ihr euch wenigstens bei ihm entschuldigen. Und, so leid mir das tut, wenn ihr nicht einsichtig seid, müssen wir euer Verhalten auf der Schulkonferenz diskutieren, wollt ihr das?“

      Beide schüttelten den Kopf und baten Bizo zerknirscht um Verzeihung. Dann durften die drei zum Unterricht gehen.

      Die Frauen und Männer nahmen ebenfalls ihre Arbeit auf. Einige waren mit der Weiterentwicklung und Pflege der Magnettechnik beschäftigt, andere bauten neue Räume aus oder renovierten die alten. Gerade war die große Bibliothek an der Reihe. Die Munkel hatten eine bemerkenswerte