Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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wird eine bunte, farbenprächtige Erinnerung aufgeschlagen, wie ein lange verschwundenes Kinderbuch. Nach wenigen Minuten wird jedoch schnell klar, dass das, was ich suche, hier nicht zu finden ist. Ich nehme nichts mit, schließe alle Schränke und mache mich wieder auf den Weg nach unten, wo ich meine Suche im Keller fortsetze.

      Der Keller ist sehr gut beleuchtet und unglaublich aufgeräumt. Nichts erinnert hier an düstere, verwinkelte Räume, in denen alles Mögliche lauern könnte. Ich finde schnell die Kartons, die Frederik mir beschrieben hat, und beeile mich mit dem Durchsuchen, weil sich hier unten die Kälte und noch etwas Anderes, was ich nicht greifen kann, an mich heranschleicht und mich auf einmal fest im Griff hat. Ganz plötzlich muss ich mich anstrengen, um genug Luft zu bekommen, merke, wie ich vor Kälte fast anfange zu zittern und den letzten Karton mit immer ruckartigeren Bewegungen durchsuche. Nichts. Dieses beklemmende Gefühl wird so stark, dass es mir jetzt völlig egal ist, auch hier nichts gefunden zu haben.

      Ich beeile mich, die Kartons zu verschließen und das Licht hinter mir auszumachen, als ich zur Treppe gehe. Ich bemühe mich, nicht zu rennen, schaffe das auch, indem ich auf meine Füße sehe und konzentriert einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setze. Es ist niemand im Flur, als ich oben ankomme, also erlaube ich mir, mich kurz am Treppengeländer aufzustützen und tief auszuatmen, bis das Zittern verschwindet.

      „Hast du alles gefunden?“

      Erschrocken fahre ich herum und sehe Frederik im Halbdunkel hinter mir auf der Treppe, die weiter nach oben führt, stehen.

      Er steht nur da und schaut mich an, und ich kann in diesem Moment unmöglich sagen, warum ich dieses Nichtstun, dieses Stehen und Schauen als Bedrohung empfinde, aber ich bin mir sicher, genau das ist es, eine Drohung, etwas, das sehr ernst gemeint ist.

      „Nein“, sage ich und gehe ohne ein weiteres Wort zu sagen wieder ins hell erleuchtete Wohnzimmer.

      Trotz mittlerweile fortgeschrittener Stunde hält sich meine Mutter ganz gut. Ihre Gesten sind ein bisschen fahriger, wenn man genau hinsieht, sitzt ihr Lächeln irgendwie schief im Gesicht und der Tonfall, mit dem ich sie jetzt zu der hilflosen Frau Schröder sagen höre „So ist es eben nicht“, ist ein bisschen zu bestimmt und zu laut. Ich lächele Frau Schröder aufmunternd entgegen, als ich meiner Mutter jetzt mit gedämpfter Stimme ins Ohr flüstere, dass ich gleich gehen werde.

      „Ja“, sagt sie, „aber du musst noch ein paar Minuten warten, ich glaube ich habe noch etwas für dich.“ Damit verschwindet sie aus dem Wohnzimmer, und ich mache mich daran, im Flur meinen Mantel zu suchen.

      Fertig angezogen sehe ich mich auf einmal wieder Frederik gegenüber, und schon wieder fühlt es sich beklemmend an, seine Anwesenheit hier im Flur auszuhalten. Als ich mich schon fast dazu entschieden habe, nicht mehr zu warten und einfach zu gehen, kommt meine Mutter mit jetzt doch deutlich unsicherem Gang die Treppe herunter.

      „Hier“, sagt sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange, als sie mir die kleine braune Schachtel in die Hand drückt, die sie mit herunter gebracht hat. Ich kann nur „Danke“ sagen, und dass es ein netter Abend war, bevor ich draußen im Dunkeln endlich wieder das Gefühl bekomme, richtig atmen zu können.

      Das Auto muss ich stehen lassen, zu viele Martinis. Da es dort, wo es steht aber mindestens drei andere Wagen blockiert, fahre ich das Auto noch die paar Meter vom Hof Richtung Straße und parke es in der nächsten Nebenstraße in der ersten Parklücke, die ich entdecken kann. Ich packe die Schachtel in meine Tasche und mache mich auf den Weg zur Hauptstraße, wo ich überraschend schnell ein Taxi anhalten kann.

      Ungefähr zwanzig Minuten später sitze ich zuhause im Dunkeln auf dem Sofa, und in einem merkwürdig unentschlossenen Schwebezustand kann ich mich weder dazu entschließen, einfach hier und jetzt einzuschlafen noch das Licht anzumachen. Erst als mir die Schachtel einfällt, die mir meine Mutter gegeben hat, schaffe ich es, noch einmal in den Flur zu gehen und meine Tasche zu holen.

      Immer noch im Dunkeln setze ich mich wieder auf das Sofa, öffne die Schachtel und hole ein paar Kinderschuhe hervor. Das Leder fühlt sich weich an unter meinen Fingern und warm, ein Schnürsenkel ist abgerissen. Ich streiche behutsam mit den Fingern über die leicht erhabene Stelle an der Außenseite, dort, wo die Biene ist, die jetzt im Dunkeln nur wie ein schwarzer Fleck aussieht. Die Schuhe fühlen sich gut an in meinen Händen, ganz sicher und vertraut, wie ein altes Kuscheltier aus Kindheitstagen, mit dem man sehr viele Nächte verbracht hat.

      Jetzt schalte ich das Licht doch an, und ich sehe, dass die Schuhe genau den schönen, warmen Braunton haben, an den ich mich so gut erinnere. Aber als ich den linken Schuh umdrehe, sehe ich etwas ganz anderes. Ungläubig drehe ich jetzt auch den rechten Schuh um und halte jetzt beide Schuhe in den Händen.

      Ich blicke auf zwei unterschiedlich aussehende Marienkäfer. Dort, wo jetzt eine Biene sein müsste, sehe ich rechts einen kleinen, gut gelaunten Marienkäfer mit einer Blume in der Hand und links einen ebenso gut gelaunten Marienkäfer mit einem Sonnenhut auf dem Kopf.

      Ich merke, dass mir schwindelig wird, während ich weiter auf die beiden Schuhe starre, und auch jetzt, als ich die Augen schließe, beginnt sich die Dunkelheit hinter meinen Augen sanft zu drehen. Diese Dunkelheit begleitet mich zurück, vierunddreißig Jahre zurück in ein Kinderzimmer, in dem ich auf dem Bett sitze und die Beine baumeln lasse, in dem ich auf meine Geburtstagsschuhe schaue und nicht mehr weiß, ob ich dort eine Biene, einen Marienkäfer oder gar nichts mehr sehe.

      Diese Nacht ist lang und nicht schön. Mir wird übel und ich weiß nicht, ob von meinen eigenen Gedanken oder von zu viel Martini, der sich nicht mit meinen geschlossenen Augen verträgt.

      Als ich mich im Bad übergeben habe und noch einen Moment auf den weißen Fliesen an die Badewanne gelehnt sitzen bleibe, fällt mir das Atmen wieder schwer, und ich merke, wie mir die Tränen übers Gesicht laufen.

      Ich habe das deutliche Gefühl, dass mir irgendetwas entgleitet heute Nacht. Ich weiß nicht was, aber etwas, was ich brauche, ohne das die Dinge bodenlos sind, verschwindet gerade, ist nicht mehr an seinem Platz.

      Ich schaffe es schließlich, mir den Mund auszuspülen und zurück ins Wohnzimmer zu gehen.

      Ich rufe Frank an. Ich brauche jetzt jemanden, dem ich vertrauen kann und jemanden, der mir ein paar Fragen beantworten kann.

      Nach minutenlangem Läuten hebt Frank mit verschlafener, halb gelähmter Stimme ab und erklärt mir sofort, dass das kein Wunder sei um halb drei Uhr nachts. Ich sage, dass ich ihn dringend sprechen, am liebsten sogar treffen möchte und dass es wirklich wichtig sei, aber das passt Frank um halb drei Uhr nachts schlecht, es sei denn ich wäre gerade mitten in einem Notfall.

      Franks Stimme bringt mich wieder etwas mehr in die Realität zurück, und die Realität ist, dass Übelkeit auf dem Sofa kein Notfall ist. Also entschuldige ich mich für den späten Anruf, und wir verabreden uns für den nächsten Nachmittag.

      Ich versuche, mich zu beruhigen. Es ist gut, Rituale zu haben. Ausziehen, Zähne putzen, Tee kochen, all das ist irgendwie beruhigend. Als ich mit dem Tee auf dem Weg ins Bett bin, nehme ich eine gerahmte Fotografie mit, die sonst im Bücherregal neben dem Schreibtisch steht und die ich jetzt lange und genau betrachte.

      Auf dem Foto ist mein Vater zu sehen, der auf der Terrasse umgeben von Werkzeug auf dem Boden hockt und anscheinend irgendetwas repariert, das man nicht genau erkennen kann. Ich weiß nicht mehr, wer das Foto gemacht hat, aber offensichtlich ist er vom Fotografen überrascht worden, weil er sich gerade in dem Moment mit einem erstaunten Gesichtsausdruck umdreht. Ich habe dieses Bild immer gemocht, weil dieses Erstaunen so echt und so unmittelbar aussieht, dass auf seinem Gesicht überhaupt kein Platz mehr für irgendetwas Beherrschteres war.

      Wenn ich die Augen schließe, kann ich mich an all die kleinen Details auf dem Foto erinnern. Ich weiß, welche Farbe sein Hemd hat und welches Werkzeug um ihn herum liegt. Ich weiß, dass man im Hintergrund ein Tulpenbeet sieht.

      Aber an meinen Vater, daran, wie er war, wie er sich bewegte, wie er mit mir sprach, wie sich seine Stimme anhörte, daran erinnere ich mich kaum. Er ist wie ein Phantom, das mir jedes Mal durch die Finger gleitet, wenn ich versuche, mich wirklich an ihn zu erinnern.