Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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habe ich mir nie vorgestellt. Wenn ich an meinen Vater denke, stelle ich mir immer vor, dass er noch lebt, irgendwo. Und ich habe auch nie geglaubt, dass er irgendetwas bereuen würde. Ich habe ihn lange vermisst. Ich habe die Tragweite der Ereignisse erst nach und nach begriffen, verstanden, dass er nicht zurückkommen würde, dass das Warten ein Warten ohne Ziel war. Jetzt ist er ein Gespenst, das durch meine Kindheit schleicht, das immer entwischt, wenn ich nach ihm greifen will, das nur dann ganz deutlich und klar wird, wenn ich an diese Nacht vor vierunddreißig Jahren zurückdenke.

      Zwei schlaflose Nächte hintereinander scheinen mir einfach rein physisch nicht mehr möglich zu sein. Also schlafe ich spät am Abend erschöpft ein und wache am nächsten Morgen beinahe genauso erschöpft auf.

      Müde quäle ich mich durch einen relativ ereignislosen Arbeitstag, breche sehr rechtzeitig vom Büro auf, weil der Umweg zum Haus meiner Eltern, wo immer noch mein Auto geparkt steht, nicht gerade kurz ist. Ich beschließe, schnell bei meiner Mutter und Frederik vorbeizuschauen, um wenigstens zu sagen, dass es ein netter Geburtstagsabend war, und um mich bei meiner Mutter für die Schuhe zu bedanken, die sie mir herausgesucht hatte.

      Das Haus wirkt auf den ersten Blick unbeleuchtet, als ich über die Einfahrt auf die Vordertür zugehe. Vor dem Haus stehen jedoch die Autos von Mutter und Frederik und, abgesehen davon, ein mir fremder, dunkler Mercedes.

      Alle Fenster, die man von der Einfahrt aus sehen kann, sind dunkel, sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock. Also sitzen die beiden mit ihrem Gast aus unerfindlichen Gründen entweder im Dunkeln oder halten sich an diesem kühlen Herbstabend im Garten auf. Beides erscheint unwahrscheinlich und seltsam. Seltsam genug, dass ich ohne zu läuten um das Haus herum gehe und zunächst einen Blick in den Garten werfen will.

      Der Garten liegt still und dunkel da, so still, dass ich das Herbstlaub unter meinen Füßen höre.

      Die Gardinen sind zugezogen, aber man kann erkennen, dass dahinter in der Küche ein schwaches Licht brennt und sich Personen hinter der Gardine hin und her bewegen. So lange ich denken kann, war die Gardinenstange schon immer ein kleines bisschen kürzer als die große Fensterfront zum Garten hin. Merkwürdig eigentlich, dass das in all den Jahren nie geändert wurde.

      Ich stelle mich rechts neben das Fenster, ganz dicht an die Hauswand, so dass ich vorsichtig durch den kleinen Spalt zwischen Gardine und Küchenwand sehen kann und sich jemand von der anderen Seite schon genauso dicht ans Fenster stellen müsste, um mich sehen zu können. Ich merke die Kälte der Hauswand an Rücken und Schulter, während ich jetzt so dastehe und versuche, etwas durch diesen kleinen Spalt erkennen zu können.

      Ich sehe Frederik mit dem Rücken zu mir stehend, energisch gestikulierend, redend. Wenn ich meinen Kopf noch ein wenig weiter drehe, sehe ich auch den Oberkörper und den Kopf meiner Mutter, wie sie an der Spülmaschine lehnt und in die Richtung starrt, in der noch eine dritte Person steht, die ich aber nicht sehen kann. Meine Mutter sieht nicht gut aus. Sie ist bleich im Gesicht und hat dunkle Ränder unter den Augen. Sie bewegt sich kaum, starrt nur vor sich hin.

      Am Schatten, der sich hinter dem Vorhang bewegt, ist deutlich zu erkennen, dass die dritte Person im Zimmer auf und ab geht, aber nie weit genug in mein kleines Sichtfeld kommt, um sie erkennen zu können.

      Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich meine Mutter jetzt zur Spüle umdreht und ein Glas mit Wasser füllt. Als sie das Glas mit einer zitterigen Bewegung zum Mund führen will, rutscht es ihr aus der Hand, und das Geräusch, als es auf dem Boden zersplittert, ist so laut, dass ich es sogar hier draußen höre. Meine Mutter bückt sich zu den Scherben hinunter, und jetzt kommt mit einer schnellen Bewegung die dritte Person ins Bild, bückt sich jedoch ebenfalls sogleich zu Boden, so dass ich nur kurz einen Blick auf die langen, grauen Haare einer Frau mit kräftiger Statur erhaschen kann. Als sie mit der Hand voller Scherben wieder hochkommt und ich ihr Gesicht sehen kann, bin ich wie erstarrt. Diesen Blick, diese Augen erkenne ich in der Sekunde, in der ich sie sehe, nur dass ich gerade etwas sehe, was eigentlich nicht möglich sein kann. Ich sehe ein Gespenst. Ein Gespenst, das seit Jahrzehnten ein Loch im Schädel haben sollte, dessen Blut ich vor vierunddreißig Jahren unseren Teppich habe schwarz färben sehen. Ich sehe das um vierunddreißig Jahre gealterte Gesicht von Paula, da gibt es nicht den geringsten Zweifel.

      Stocksteif und frierend stehe ich noch einen Moment länger an die Wand gelehnt da und merke, wie mir langsam die Übelkeit die Kehle empor kriecht, wie ein pelziges, uraltes Tier, das sich den Weg nach draußen sucht. Ich drücke mir die Hand vor den Mund, um mich nicht gleich hier an Ort und Stelle übergeben zu müssen und damit mir kein sonst wie gearteter Laut entfährt. Ich will schreien und losrennen, aber irgendwie schaffe ich es, meinen Körper zu beherrschen und mit einer Hand vor den Magen und mit der anderen vor den Mund gepresst, langsam und fast geräuschlos durch den Garten zurück zur Einfahrt zu gehen.

      Aber hier schaffe ich es nicht mehr, mich zurückzuhalten, renne los mit einem schon säuerlichen Geschmack im Mund, bis ich mich eine Minute später vor meinem Auto übergeben muss. Nicht nur mein Magen und meine Kehle, mein ganzer Körper krampft sich zusammen und wird minutenlang von einem mir endlos vorkommenden Würgen geschüttelt. Als ich es schaffe, in den Wagen zu steigen, sitze ich schweißüberströmt und zitternd da und fühle mich, als hätte jegliche Kraft meinen Körper verlassen. Mein Kopf ist leer. Zusammenhängende Gedanken gibt es nicht. Nur dieses Gespenst, dieses Gesicht in meinem Kopf.

      Ich muss zu Frank. Das ist der einzige Gedanke, den ich jetzt klar erkenne. Frank muss mir helfen, mit dem, was ich gerade gesehen habe, irgendetwas anzufangen, irgendetwas Rationales, Klares, Kühles, was mich nicht verschluckt wie ein schwarzes Loch.

      Die Autofahrt ist unruhig und unsicher. Ich kann mich kaum konzentrieren, aber es gelingt mir irgendwie, ohne Unfall vor Franks Haus zu parken. Als er überrascht die Tür öffnet, gehe ich ohne ein Wort zu sagen mit schnellen Schritten an ihm vorbei, direkt ins Bad, wo sich dieses würgende Geschüttel und Gezerre an meinen Eingeweiden wiederholt.

      Dann liege ich verschwitzt und immer noch zitternd auf Franks Couch, in eine Wolldecke gehüllt, und ich versuche, langsam und ruhig ein- und auszuatmen, bis das Zittern endlich verschwindet.

      „Es ist etwas passiert“, fange ich an zu erzählen und halte mich an Franks besorgtem Gesicht fest, während ich ihm jetzt berichte, was ich gerade eben gesehen und erlebt habe.

      Als ich fertig bin, ist sein Gesichtsausdruck nur noch besorgter geworden.

      „Ich weiß, die Frage wirst du jetzt nicht gerne hören, aber bist du dir wirklich absolut sicher, dass diese Frau Paula war? Schließlich hast du sie seit vierunddreißig Jahren nicht gesehen.“

      „Ich bin mir sicher. Ich war mir in der ersten Sekunde sicher, als ich sie gesehen habe. Alles an dieser Frau ist Paula, die Augen, die Haare, der Rücken, die Art, wie sie sich da in der Küche bewegt hat. Ich bin mir absolut sicher. Paula lebt, Frank, aber wie kann das möglich sein, nach all dem was damals passiert ist, wie kann man so etwas denn überleben?“

      „Ja“, sagt Frank jetzt. „Und wenn du recht hast, ist das nicht die einzige Frage. Was hat dein Vater mit ihr gemacht, als er mit ihr weggefahren ist, warum hat sie nie Anzeige erstattet, und wo war sie in all den Jahren, warum ist sie nie wieder aufgetaucht?“

      „Und warum taucht sie jetzt, nach vierunddreißig Jahren zum ersten Mal wieder auf?“, frage ich mich.

      „Vielleicht war es ja gar nicht das erste Mal.“

      In dem Schweigen, das jetzt entsteht, fühlt es sich so an, als würde sich irgendetwas im Dunkeln an uns heranschleichen. Etwas Gerissenes und Verschlagenes, das langsam seine Netze über uns auswirft und diese allmählich zuzieht. Es ist, als würde ich aus dem Dunkeln heraus von etwas beobachtet, das ich selber nicht sehen kann.

      Frank kneift die Augen zusammen, um sich besser konzentrieren zu können.

      „Was ist, wenn Paulas Verletzung damals gar nicht so stark war, wie du sie in Erinnerung hattest? An traumatische Ereignisse kann man sich in der Regel besser erinnern, als an andere, ganz normale, aber auch die sind kein genaues Abbild von Erlebnissen, wie sie wirklich passiert sind. Deine Erinnerung kann vielleicht verzerrt gewesen sein, vielleicht war Paula nur