Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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seinem Bruder Chris, auf ihre Anweisung, als dieser vierzehn Jahre alt war, drei Geschichten aus Chris´ Kindheit, die sich tatsächlich so zugetragen hatten und eine komplett erfundene. Er erzählte ihm, wie Chris im Alter von fünf Jahren in einem Einkaufszentrum verloren gegangen sei, bis ihn seine Mutter in Begleitung eines fremden Mannes wieder gefunden habe. Chris war nicht in der Lage, die falsche von den echten Erinnerungen zu unterscheiden, im Gegenteil, er erinnerte sich sogar sehr genau an dieses schreckliche Erlebnis im Einkaufszentrum, erinnerte sich daran, wie er geweint hatte und was für schreckliche Angst er gehabt hatte. Ich bin fassungslos.

      Und tatsächlich gibt es eine Möglichkeit, noch effektiver und leichter die Erinnerung zu manipulieren - Bilder. Frau Loftus hatte nämlich noch ein bisschen weiter experimentiert. Sie hatte Kinderfotos von ihren Versuchspersonen in Fotos von einer Ballonfahrt hineinmontiert. Als sie ihren Versuchspersonen die Fotos zeigte, in denen sie zusammen mit ihren Verwandten in einem Heißluftballon schwebten, konnte sich die Hälfte dieser Personen tatsächlich genau an diese aufregende Ballonfahrt erinnern, die nie stattgefunden hatte.

      Fasziniert und gleichzeitig auch resigniert klappe ich die Bücher zu und lasse mich wieder kraftlos auf die Couch fallen.

      Es muss einen Grund geben, dass ich mich nicht an meine Therapiestunden bei Frederik erinnern kann. Und offensichtlich hat Frank bei seinen Nachforschungen der letzten Nacht gedacht, die Antwort darauf sei irgendwo in diesen Büchern und Experimenten zu finden.

      Ich frage mich, ob es nicht Aufzeichnungen geben müsste, Akten, die irgendwo archiviert sind, irgendetwas, was den Verlauf dieser Therapie vor vierunddreißig Jahren dokumentiert hat. Frederik hat seine Praxis vor mindestens zwanzig Jahren aufgegeben und, so viel ich weiß, seitdem nur im klinischen Bereich gearbeitet, aber irgendwo müssen doch noch Unterlagen aus seiner Praxiszeit existieren. Doch die Frage ist nicht nur, wo, sondern auch, wie man gegebenenfalls da herankommen könnte. Ich werde in meinen Gedanken unterbrochen, als ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird und ich Frank sehe, wie er leise und auf Socken ins Wohnzimmer schleicht.

      „Du bist noch hier“, sagt er erfreut, „und wach. Du siehst schon wieder viel besser aus.“

      „Ja“, sage ich. „Ich fühle mich auch ein bisschen besser, aber ich bin so verwirrt. Ich weiß nicht, was ich mit all dem anfangen soll, mit Paula gestern Abend, mit den Therapiestunden bei Frederik, mit all dem hier“, sage ich und deute schwach auf den Stapel Bücher auf dem Couchtisch.

      „Frank, sag mir ehrlich, was du denkst. Hältst du es für möglich, dass ich in diesen Therapiestunden manipuliert worden bin? Durch Hypnose oder was auch immer? Dass Frederik irgendwie in meinem Kopf herumgepfuscht hat, so dass etwas ganz anderes herausgekommen ist als das, was wirklich geschehen ist?“

      „Ich weiß nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht in der letzten Nacht, und wenn du heute ein wenig in den Büchern hier gelesen hast, dann weißt du, dass es absolut möglich ist. Ich meine die Bedingungen waren im Grunde perfekt. Du warst ein Kind, du standest unter Schock, der Druck auf dich war enorm, was deine Erinnerung an die Einzelheiten dieses Abends anging. Und Frederik war ein enger Freund der Familie, eine vertraute Person, du hattest keinen Grund, ihm zu misstrauen. Die Frage ist nur, ob es, nur weil es möglich war, auch wirklich so gewesen ist und vor allem, warum?“

      Ich erzähle Frank von meiner Vermutung, dass irgendwo noch alte Aufzeichnungen und Akten von diesen Therapiestunden existieren könnten.

      „Ja“, sagt er nachdenklich. „Vermutlich hast du sogar recht. Gerade wenn es um einen Fall ging, in den auch polizeiliche Ermittlungen mit eingebunden waren, müsste es auf jeden Fall eine Dokumentation dieser Therapiestunden gegeben haben. Aber andererseits wird niemand, der in seinen Therapiesitzungen ein elfjähriges Kind manipuliert hat, das dann auch noch in seiner Patientenakte festhalten.“

      „Nein, aber vielleicht kann jemand, der sich auskennt, Fehler entdecken. Du weißt schon, Hinweise, irgendetwas, das nicht stimmt, jemand wie du.“

      Frank und ich sehen uns einen Moment lang schweigend an. Es ist einer dieser Momente, in denen stillschweigend aus einem Gedanken ein Plan wird.

      „Also gut“, sagt Frank jetzt. „Mal angenommen diese Akte würde existieren, wo müsste man dann danach suchen? Die alte Praxis von Frederik gibt es doch seit Ewigkeiten nicht mehr.“

      Ich überlege. „Im Prinzip muss es ja um viele Akten gehen, die in seiner Praxiszeit entstanden sind und die er irgendwo gelagert haben muss. Unser Haus wäre auf jeden Fall groß genug, um massenweise Akten unterzubringen, und er hat ein eigenes Arbeitszimmer im ersten Stock.“

      „Ja“, sagt Frank unentschlossen. „Das könnte sein, aber ist irgendwie auch unwahrscheinlich. Ich meine, würdest du die Akte über eine Patientin, die du manipuliert hast, da aufbewahren, wo genau diese Patientin einfach so hineinspazieren und die Akte entdecken könnte, wenn sie wollte?“

      „Nein“, sage ich etwas resigniert, und wieder entsteht ein schweigsamer Moment, in dem wir beide vor uns hinstarren.

      „Die Klinik“, sagt Frank schließlich entschlossen. „Die Klinik muss ein Archiv haben, das zum einen groß genug ist und zum anderen nicht zugänglich für Privatpersonen.“

      „Ja, du hast recht. Die Frage ist nur, wie soll ich als genau so eine Privatperson eine bestimmte Akte aus diesem Archiv holen, ohne mit Frederik in Kontakt zu treten?“

      Unser Plan ist zugegebenermaßen nicht sehr kompliziert. Aber immerhin hat er den Vorteil, dass, wenn etwas schief gehen sollte, nur ich diejenige bin, die in Schwierigkeiten steckt.

      Ich bleibe eine weitere Nacht bei Frank. Wir essen gemeinsam zu Abend, reden noch lange über all die Fragen, die unsere Überlegungen und Theorien hinterlassen.

      Der nächste Morgen beginnt früh für uns. Wir verlassen vor acht die Wohnung und fahren zunächst beide mit dem eigenen Auto zu dem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, in dem Frank arbeitet.

      Frank händigt mir einen seiner weißen Kittel und eine weiße Hose aus, und ich fahre sofort weiter zu meiner eigenen Wohnung, wo ich mich umziehe und die weiße Hose noch mit einem weißen T-Shirt und weißen Turnschuhen ergänze. Immer hektischer werdend durchsuche ich einen Aktenordner, bis ich endlich gefunden habe, was ich suche. Ruhig, ich muss jetzt ruhig bleiben, meinen Atem kontrollieren, normal wirken. Jemand der früh am Morgen ein bisschen verschlafen zur Arbeit kommt, nicht jemand der sich mit roten Flecken im Gesicht und schwer atmend hektisch umsieht. Normal. Ruhig.

      Die Klinik, in der Frederik arbeitet ist groß, die größte im Umkreis

      für Psychiatrie und Neurologie. So groß, dass hoffentlich niemand von den Angestellten genau im Blick hat, wer noch alles jeden Morgen in diesem großen hellen Bau verschwindet.

      Wie ein Termitenhügel, denke ich, als ich auf den Parkplatz für Besucher komme und mir im Inneren ein Gewimmel von Fluren, Etagen und Fahrstühlen vorstelle. Und genau so ist es auch. Im Inneren wirkt alles unüberschaubar verzweigt und verschlungen, groß, weiß und kühl.

      In der letzten Nacht haben Frank und ich einige Zeit damit verbracht, uns auf der Internetseite der Klinik den Aufbau der einzelnen Abteilungen anzusehen. Und tatsächlich gibt es sogar mehrere Archive hier. Die Neurologie hat ihr eigenes Archiv, die Psychiatrie auch, dieses ist jedoch noch einmal unterteilt in ein Archiv der geschlossenen und eins der offenen Abteilung.

      Unsere Vermutung war, dass man, sofern man tatsächlich etwas zu verstecken hat, es dort versteckt, wo man es am besten kontrollieren kann, wo man es möglichst gut im Blick hat. Deshalb würde unser erster Anlaufpunkt das Archiv der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie sein, Frederiks Abteilung. Hier hat er sein Büro, hier ist sein Reich, hier ist er der Herrscher. Von meiner Mutter weiß ich jedoch, dass der Herrscher sein Reich nie vor zehn Uhr betritt. Immerhin ein Luxus, den er sich jetzt im Alter wohl doch erlaubt, den allerdings meine Mutter wenig zu schätzen weiß, die ihre Morgende lieber allein verbringt und Frederik morgens möglichst schnell aus dem Haus haben will.

      Um zum Archiv zu gelangen, muss man einmal komplett die gesamte geschlossene Abteilung durchqueren.

      Ich