Nadine Zacher

Der dunkle Ort


Скачать книгу

frage so nebensächlich wie es geht: „Um Dr. Grabe zu sprechen ist es wohl schon zu spät…“, und lasse meinen Satz zögernd im Nichts verlaufen.

      „Allerdings, der ist schon vor anderthalb Stunden weg.“

      „Tja, dann muss ich es morgen noch mal versuchen, aber wo ich schon mal hier bin, könnte ich vielleicht James kurz sehen, ich weiß, es ist schon lange keine Besuchszeit mehr, aber ich habe ihm etwas mitgebracht“, sage ich und deute auf den Karton mit den tausend Teilen Regenwald.

      „Na ja, wenn es nicht zu lange dauert, er ist in seinem Zimmer. Den Gang runter, am Aufenthaltsraum vorbei und dann auf der linken Seite, Zimmer 412.“

      Vereinzelte Patienten sind zu sehen, während ich den Flur entlang gehe. Ich werfe einen Blick in den hell erleuchteten Aufenthaltsraum, in dem der Fernseher viel zu laut läuft. Ein dünner Mann mit einem sehr weißen Gesicht starrt bewegungslos auf die flackernden Bilder. In der Ecke sitzen ein älterer Mann und eine selbst im Sitzen groß wirkende Frau an einem Tisch und spielen Schach. Die Frau schaut konzentriert auf das Schachbrett, bevor sie einen schwarzen Läufer langsam ein Feld weiterrückt. Jetzt sehe ich, dass sie einen Gürtel um die Taille gebunden hat und ihre linke Hand sehr stramm und fest auf dem Rücken zwischen Gürtel und Körper eingeklemmt ist. Das muss doch nach ein paar Minuten wehtun, denke ich und gehe weiter. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen überhaupt gemerkt hat, dass ich da war.

      Als ich an die Tür von Zimmer 412 klopfe und keine Antwort erhalte, öffne ich sie behutsam und blicke in ein schwach beleuchtetes Zimmer. Auf dem Bett sitzt James und sieht mich stumm an. Unmöglich, diesen Blick zu deuten, da erkennt man keine Überraschung, keine Ängstlichkeit.

      „Darf ich reinkommen?“, frage ich vorsichtig und trete einfach leise ein, als ich keine Antwort bekomme.

      „Erinnerst du dich an mich? Ich hab mir heute Morgen dein Puzzle angesehen, das ist bestimmt schon fertig.“

      James zeigt als Antwort nur auf einen Tisch in der Ecke, auf dem ich beim Näherkommen ein perfekt zusammengefügtes Stück wolkendurchzogenen, blauen Himmel sehe.

      „Du bist wirklich gut damit“, sage ich und fange an, mich etwas in James´ Zimmer umzusehen.

      Zunächst weiß ich nicht genau, was es ist, das sein Zimmer so unglaublich aufgeräumt wirken lässt. Aber dann erkenne ich, dass alle Möbelstücke und alle Gegenstände in geraden Linien und rechten Winkeln zueinander ausgerichtet sind. An den Wänden hängen fremd wirkende, geometrische Zeichnungen, die wie Konstruktionen von Dingen aus einer anderen Welt aussehen, aber vermutlich nur komplizierte Ansammlungen von Linien, Punkten und Kreisen sind.

      „Die sind schön, deine Zeichnungen.“ Ich zögere, habe das Gefühl nicht die richtige Art zu finden, wie ich mit ihm reden soll, nicht den richtigen Ton zu treffen.

      Ich setze mich ans Fußende seines Bettes, so dass noch genügend Platz zwischen uns bleibt und lege das Regenwaldpuzzle zwischen uns aufs Bett.

      „Ich habe dir etwas mitgebracht, und ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ich glaube, dass du dir Dinge, die du gesehen hast, gut merken kannst, und ich möchte, dass du dir ein Foto ansiehst und mir sagst, ob du diese Person hier schon einmal gesehen hast.“ Während ich das sage, lege ich das Bild von Paula auf den Puzzlekarton.

      „Das Bild ist schon alt, viele Jahre alt, die Frau sieht jetzt viel älter aus, verstehst du? Wie eine Oma, mit langen grauen Haaren.“

      Nichts an James´ Gesichtsausdruck verändert sich, als er den Blick auf das Foto vor ihm richtet. Ich hole meine Kalender raus und füge noch hinzu: „Vielleicht kannst du dich daran erinnern, wann sie hier war, ungefähr.“

      James schaut mich an, dann wieder das Foto, dann streicht er mit einer vorsichtigen Handbewegung das Foto vom Karton und fährt in kreisenden, fast liebevollen Bewegungen über das Bild vom Regenwald.

      Ich stehe wieder auf, will ihn nicht unter Druck setzen und gehe noch einmal zur gegenüberliegenden Wand, um mir die Zeichnungen anzusehen.

      Was habe ich erwartet? Dass James anfängt, normal mit mir zu reden? Eine Frau auf einem schlechten, vierunddreißig Jahre alten Foto identifiziert? „Irgendwo ganz anders“ ist er, das hatte der Pfleger gesagt. Wie konnte ich nur glauben, dass es eine Verbindung zwischen mir und „Irgendwo ganz anders“ gibt.

      Als ich mich von den Zeichnungen abwende und wieder zu James schaue hat er meine beiden Kalender aufgeschlagen vor sich liegen und ist dabei, mit einem roten Filzstift kleine Kreuze an verschiedene Tage zu machen. Dann ist er fertig und schiebt alles von sich weg in meine Richtung. Ich schaue mir die Jahresübersicht in beiden Kalendern an und zähle insgesamt sieben rote Kreuze, das erste an einem Mittwoch vor fünfzehn Monaten.

      „Vor fünfzehn Monaten haben sie sich schon getroffen! Stell dir vor, was das bedeutet. Das bedeutet, dass zumindest Frederik, wenn nicht auch meine Mutter, mir seit mindestens fünfzehn Monaten verheimlichen, dass Paula lebt und wieder aufgetaucht ist!“ Meine Stimme klingt zu laut in meiner kleinen Küche.

      Frank sitzt am Küchentisch und schaut auf die roten Kreuze in meinen Kalendern.

      „Möglich“, sagt er langsam. „Oder auch nicht. Du hast die Aussage einer geistig und emotional stark eingeschränkten Person. Was heißt die Aussage, du hast sieben rote Kreuze, genau genommen hast du also gar nichts.“

      „Du hast doch gerade selber gesagt, dass diese Art von Gedächtnisleistung theoretisch absolut möglich ist bei bestimmten psychiatrischen Erkrankungen.“

      „Also gut, gehen wir mal für einen Moment davon aus, dass dieser James sich tatsächlich erinnert und zwar korrekt erinnert. Du wirst seine Aussage, seine roten Kreuze niemals als Beweis für irgendetwas verwenden können.“

      „Na schön“, sage ich müde. „Lassen wir es als offiziellen Beweis mal beiseite. Trotzdem ist es doch eine weitere wichtige Information. Ich meine, was genau haben wir denn bisher? Wir haben eine für tot erklärte Frau, die nicht tot ist. Wir haben meine Erinnerung an die Tatnacht und die Vermutung, dass Frederik in den Therapiestunden danach irgendwie in meinem Gehirn herumgepfuscht hat. Und wir haben, wenn wir James ernst nehmen, die Bestätigung, dass Paula schon seit längerem mit Frederik und eventuell auch mit meiner Mutter in Kontakt steht, was weder mir noch der Polizei mitgeteilt wurde. Und jetzt frage ich dich, wonach hört sich das für dich an?“

      „Nach Erpressung“, sagt Frank ohne zu zögern. „In der Tatnacht muss irgendetwas völlig schief gelaufen sein. Ich meine so schief, dass es offensichtlich anders passiert ist, als du es in Erinnerung hast, und so schief, dass Paula nicht nur in dieser Nacht nicht gestorben ist, sondern auch etwas weiß, womit sie Frederik und deine Mutter unter Druck setzen kann. Aber was es auch ist, niemand von denen wird es uns freiwillig verraten. Es muss für Frederik und deine Mutter schwerwiegend sein, wenn sie sich lieber von Paula erpressen lassen, als zur Polizei zu gehen. Und sollte das Ganze für Paula ein bisher lukratives und gut gehendes Geschäft sein, wird sie erst recht nicht mit der Sprache rausrücken.“

      „Ich muss mich erinnern“, sage ich jetzt überzeugt, weil ich nun ganz klar und deutlich vor mir sehe, dass das der einzig mögliche und logische Weg ist. „Ich muss mich erinnern, an alles, was in dieser Nacht passiert ist und zwar an das, was wirklich passiert ist.“

      Frank und ich schauen uns an. Ich weiß, dass ich einen Verbündeten habe, einen Komplizen, den ich kaum verdient habe in all den letzten Jahren. Für dessen Komplizenschaft ich nie eine Gegenleistung erbracht habe und auch nie eine eingefordert werden würde.

      „Du weißt, dass du der Einzige bist, der mir dabei helfen kann“, sage ich leise. „Der weiß, wie so etwas geht und dem ich ausreichend vertrauen kann. Aber ich würde es auch verstehen, wenn du hier aussteigen willst, wenn das alles einfach zu viel ist, das meine ich ernst, Frank.“

      Frank sieht mich lange an, ohne etwas zu sagen. Langsam steht er auf und geht zur Küchenanrichte, um sich noch ein Glas Rotwein einzuschenken. Alles wirkt so unendlich langsam, Zeitlupenbewegungen. Selbst der Wein scheint zu langsam ins Glas zu fließen. Ich merke auf einmal eine so tiefe