Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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      „Ich glaube nicht, dass Ereignisse in unserem Gedächtnis verloren gehen“, sagt Frank jetzt, immer noch mit dem Rücken zu mir gewandt und mit der Weinflasche in der Hand. Der Wein fließt wieder in normaler Geschwindigkeit, bis Frank die Flasche absetzt und sich wieder zu mir umdreht.

      „Was verloren geht, ist höchstens die Fähigkeit, diese Ereignisse abzurufen, sich zu erinnern. Es gab Versuche mit Patienten, die an Amnesie litten. Man hat ihre Schläfenlappen mit Elektroden gereizt, und tatsächlich kamen Erinnerungen zurück, die vorher völlig verschollen waren. Alles war wieder da, Einzelheiten, Gerüche Farben, Ereignisse. Doch eigentlich waren all diese Dinge nie weg, sondern gut aufbewahrt. Es war nur nicht möglich gewesen, eine Verbindung herzustellen zwischen diesem Aufbewahrungsort und der Person im Hier und Jetzt. Wenn wir es schaffen wollen, dass du dich wirklich erinnerst, müssen wir diese Verbindung wieder herstellen. Doch möglicherweise sind deine Erinnerungen ein bisschen besser weggesperrt als die von anderen Menschen, und das hast du vermutlich Frederik zu verdanken. Das heißt, wir müssen etwas finden, was stark genug ist, eine solche Verbindung wieder herzustellen und gleichzeitig stark genug, um sich gegen die falschen Erinnerungen durchzusetzen.“

      „Und das sollen Elektroden an irgendwelchen Stellen in meinem Gehirn schaffen können?“

      Das alles hört sich nicht nur unwahrscheinlich für mich an, sondern verursacht mir auch sofort Empfindungen massiver Angst. Der Gedanke, dass noch einmal und so offensichtlich irgendetwas mit und in meinem Kopf passieren soll, was sich meiner Kontrolle entzieht, auch wenn es mit den besten Absichten geschehen würde.

      „Nein“, sagt Frank. „Ich glaube nicht, dass das der beste Weg wäre, und ich glaube auch nicht, dass wir die Mittel für so etwas hätten. Aber wahrscheinlich gibt es noch eine andere Möglichkeit. Unser Gedächtnis besteht aus verschiedenen Systemen, die mehr oder weniger zusammenarbeiten und sich ergänzen. Eines davon ist das Episodische Gedächtnis. Das ist der Teil deines Gedächtnisses, mit dem du dich an ganz persönliche Erlebnisse aus deinem Leben erinnern kannst. Das heißt, du erinnerst dich ganz bewusst an etwas, was du einmal erlebt hast. Aber damit genau das funktioniert, muss hier und jetzt ein Reiz da sein, der es schafft, eine Verbindung zu einem vergangenen Erlebnis herzustellen. An einige Dinge aus unserem Leben erinnern wir uns, an andere nicht. Das heißt, wir finden nicht immer den richtigen Reiz, der es schafft, eine Erinnerung zu aktivieren. Man geht davon aus, dass Erinnerungen nur durch einige wenige Reize aktiviert werden können, und die Frage ist, welche Reize das sind. Was befähigt den einen Reiz dazu, eine schlafende Erinnerung zu wecken, während es dem anderen Reiz nicht gelingt? Ich denke, dass es ausschlaggebend ist, ob es ein Reiz schafft, die subjektive Wahrnehmung eines Ereignisses wieder herzustellen. Und ich glaube, die Chance, einen entsprechenden Treffer zu landen, ist dann am größten, wenn so viele Reize wie möglich, den Gegebenheiten der ursprünglichen Ereignisse gleichen.“

      Es regnet in Strömen, als wir auf dem Weg zum Haus meiner Eltern sind.

      Mutter hatte verstört geklungen, als ich sie gestern nach dem Gespräch mit Frank anrief, um ihr mitzuteilen, dass ich von Paula weiß und alle drei, sie, Frederik und Paula am nächsten Abend im Haus meiner Eltern anzutreffen wünsche. Frederik hatte ihr den Hörer aus der Hand genommen, hatte meine Aussagen als absurd und meinen Wunsch als verrückt bezeichnet, bis ich ihm sagte, es wäre kein Wunsch, sondern etwas, das entweder geschehen würde oder auch nicht, und im zweiten Fall würde die Polizei alle Informationen bekommen, die ich hätte, inklusive meiner lückenhaften Patientenakte von damals. Als ich ihm die einzelnen Daten aufzähle, an denen Paula laut James bei ihm in der Klinik war, herrscht für einen langen Moment nur Stille, und ich weiß sofort, dass James mit jedem einzelnen roten Kreuz richtig lag. Das war gewagt, aber nun scheint Frederik zu glauben, dass ich mehr habe, als rote Kreuze, nämlich Beweise.

      Die halbe Nacht habe ich überlegt, ob ich Frank wirklich mitnehmen soll, aber letzten Endes hat er recht. Was auch immer bei diesem Abend herauskommt, ich werde einen Zeugen brauchen und eventuell jemanden, der eingreifen kann, sollte etwas schief gehen. So hat Frank es zumindest ausgedrückt. Ich habe keine Vorstellung davon, was das heißen könnte, bei einem Vorhaben, dessen Ziel darin besteht, mich wieder wie ein elfjähriges, traumatisiertes Kind zu fühlen, das sich an eine Mordnacht erinnert. Dieses ganze Vorhaben erscheint mir von vornherein schon wie etwas, das schief geht.

      Der dunkle Mercedes parkt vor dem Haus meiner Eltern, als wir ankommen. Ich schalte den Motor aus, und die Scheibe ist sofort so sehr mit Regen bedeckt, dass das Haus vor uns verschwimmt und sich alles in dunkle Schlieren auflöst.

      „Ich habe Angst“, sage ich leise in das Geräusch des Regens hinein.

      „Wir müssen das nicht tun.“ Frank sieht mich ernst von der Seite an. „Und wir können jederzeit alles abbrechen und gehen. Aber es ist allein deine Entscheidung.“

      Ich nicke ein paar Mal stumm vor mich hin, ziehe dann den Schlüssel aus dem Zündschloss und steige aus. Der kalte Regen fühlt sich gut an auf meiner Haut. Die vielen kleinen Berührungen sind so deutlich zu spüren auf meinem Gesicht, sie verbinden mich mit dem Hier und Jetzt.

      Meine Mutter öffnet uns die Tür, schafft es aber nicht, irgendetwas zu sagen, sieht mich nur traurig und besorgt an. Dunkle Schatten hat sie unter den Augen, sieht blass und eingefallen aus, sieht zum ersten Mal in meinen Augen wirklich alt aus. Eine alte, traurige Frau in teuren Kleidern, der die Vergangenheit und nun auch noch die Gegenwart entgleitet.

      Schweigend gehen wir ins Wohnzimmer. Frederik steht mit einem Glas in der Hand am Kamin, sieht mir sofort und ohne Umschweife direkt und feindselig ins Gesicht. Und da steht Paula. Mit dem Gesicht zum Fenster gewandt. Alle drei stehen sie nun hier, in diesem gediegenen Wohnzimmer, in dem jede Farbe zueinander passt und nichts das Auge stört.

      Jeder hier ist ganz für sich. Nichts an ihnen wirkt wie eine Gruppe von Verbündeten. Diese drei Menschen verbindet nichts außer einer gemeinsamen Vergangenheit, aus der unterschiedliche Wahrheiten, unterschiedliche Ziele geworden sind, die einander vollkommen ausschließen.

      Paula dreht sich jetzt zu mir um und sieht mich an. Jetzt, wo wir uns wirklich begegnen und einander ansehen, erkenne ich, dass sie noch immer eine schöne Frau ist, und die Erinnerung kommt sofort zurück, an die Paula von damals, die so schön war, dass man sie nur aus der Ferne betrachten wollte, wie etwas, das man sich niemals trauen würde selber anzufassen. Doch meine Mutter hatte sich getraut. Hatte dieses feine, helle Gesicht berührt, diese Lippen, diesen Körper. Wie muss es sich angefühlt haben, eine Frau zu berühren, die so schön war, wie ein seltenes Tier, von dem es nur eins seiner Art gibt? Es muss berauschend gewesen sein, wie etwas, womit man anfängt und nicht mehr aufhören kann.

      Sie lächelt jetzt, als sie mich ansieht, und ihre Stimme hört sich warm und entspannt an.

      „Ingrid. Ich habe mich immer gefragt, wie du aussiehst, heute, nach all den Jahren, wie du geworden bist. Deine Mutter war nie dazu zu bewegen, mir ein Foto zu zeigen.“

      Sie lächelt nun auch meine Mutter an, und ich bin beinahe überwältigt von ihrer Ruhe und ihrer Gelassenheit. Als würde das alles hier ihrer Kontrolle unterliegen, als hätte sie weder etwas zu befürchten noch etwas zu verlieren.

      Frederik knallt sein Glas auf den Kaminsims, und alles an ihm wirkt angespannt, auf der Lauer und zum Sprung bereit.

      „Was versprichst du dir von all dem hier?“ Seine Stimme ist schneidend und kalt. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du weiterführen kannst, was sie angefangen hat“, jetzt nickt er abfällig zu Paula herüber. „Wie viel Geld glaubt ihr eigentlich, das bei uns noch zu holen ist?“

      „Ich will kein Geld“, sage ich.

      „Nein“, sagt Paula jetzt und hat weiterhin etwas so Verständnisvolles in ihrer Stimme, dass es kaum etwas mit dieser Situation zu tun zu haben scheint. „Natürlich will sie das nicht.“

      „Was dann?“ Frederiks Stimme wird lauter und unbeherrschter.

      „Ich will mich erinnern“, sage ich leise, aber bestimmt.

      „Ja“, sagt Paula und tut so als wäre sie die Einzige im Raum, mit der ich sprechen würde.