Nadine Zacher

Der dunkle Ort


Скачать книгу

dass es in den Köpfen und vermutlich auch in den Herzen der meisten Menschen um sie herum so aussah. Nun ja, in ihrem Kopf und in ihrem Herzen sah es anders aus. Carla hätte nicht auf Anhieb sagen können, wie viele längere oder auch sehr kurze Affären sie in den letzten neun Jahren ihrer Beziehung gehabt hatte. Natürlich hätte sie beim darüber Nachdenken keine der Frauen vergessen. Ihr wären die Namen eingefallen, Augenfarben, Stimmen, Vorlieben und Abneigungen, Gesten und Gerüche, all das. Aber genau das hätte Carla eben tun müssen, darüber nachdenken.

      Einem einzigen Menschen hatte Carla einmal von ihren Affären erzählt. Nicht im Detail, aber von der Tatsache, dass sie welche hatte.

      Vor ungefähr zwei Jahren hatte sie auf einer Tagung eine Psychologin getroffen, mit der sie sich am Abend in der Hotelbar langsam, aber zielsicher betrunken hatte. Und irgendwann an diesem Abend hatte sie ihr davon erzählt.

      Die Psychologin schien weder schockiert noch sonderlich überrascht zu sein und stellte Carla unmittelbar nur eine einzige Frage zu diesem Thema. Sie fragte, ob Carla glaube, dass Menschen an sich monogame Wesen seien.

      „Nein“, hatte Carla damals ohne zu zögern geantwortet. „Und Sie? Glauben Sie, dass Menschen monogame Wesen sind?“

      „Nein“, hatte die Psychologin ebenfalls ohne zu zögern gesagt. „Aber ich glaube, dass wir so tun müssen, als wären wir es, weil es anders nicht funktioniert.“

      Wenn sie darüber nachdachte, konnte sich Carla eigentlich nicht vorstellen, dass Anja nie etwas von ihren Affären bemerkt hatte. Sicher, sie war vorsichtig gewesen, und Anja und sie hatten nie zusammen gewohnt, was ein gewisses Maß an Diskretion natürlich erleichterte. Aber dennoch, Anja war eine intelligente Frau, der sie eigentlich alle erdenklichen Arten zutraute, einen anderen Menschen zu durchschauen. Es hatte nie einen Vorfall gegeben, der so offensichtlich gewesen wäre, dass Anja unweigerlich darauf hätte reagieren müssen. Aber Carla vermutete schon seit langem, dass es Anja vermied, allzu genau hinzusehen und allzu viele Fragen zu stellen.

      Es hatte auf seine Art funktioniert. Aber dennoch hatte sie es in irgendeinem gut verschlossenen Raum ihres Kopfes immer gewusst. Gewusst, dass es irgendwann einmal nicht mehr funktionieren würde. Wie das lästige Summen einer Fliege, die im Sommer zufällig zum Küchenfenster hineinschlüpft. Am Anfang beginnt man vielleicht noch, sie genervt und mit hektischen Handbewegungen zu verscheuchen, aber irgendwann hört man das Summen kaum noch, auch wenn es die ganze Zeit über da ist.

      Auch als sie Annabell kennenlernte, dachte Carla nicht, dass sich an den bestehenden Verhältnissen irgendetwas ändern würde. Alles sollte weiter so funktionieren, wie es sehr lange ausgesprochen gut funktioniert hatte.

      Sie hatte Annabell auf einer Ausstellungseröffnung kennengelernt, das war jetzt kaum ein halbes Jahr her. Sie hatte eigentlich nicht hingehen wollen an diesem Abend. Es war ein langer, anstrengender Freitag gewesen, an dem sie sich den ganzen Tag seit den frühen Morgenstunden mit der Organisation ihrer eigenen Ausstellungseröffnung herumgeschlagen hatte, die für den Samstagabend angesetzt war. Schon morgen, das war der einzige Gedanke gewesen, der den ganzen Tag über immer wieder in Carlas Kopf aufgetaucht war und sie dazu angetrieben hatte, die letzten Dinge, die noch zu erledigen waren, zu organisieren, und das war eine Menge gewesen. Aber dann, ganz plötzlich, nachdem alles wundersamerweise ganz reibungslos funktioniert hatte, hatte dieser anstrengende Tag seinen Griff gelockert, und nun saß sie da. Müde und erschlagen in ihrer Galerie, wusste sie auf einmal mit sich und den restlichen Stunden des Abends nichts mehr anzufangen.

      Annette hatte mehrmals auf sie eingeredet, wie wichtig es sei, Carla heute Abend bei der Eröffnung dabei zu haben. Die afrikanischen Künstlerinnen, die ausgestellt wurden, hätten es verdient, ein „richtiges“ Kunstpublikum zu haben. Carla war sich dessen bewusst, dass sie in gewisser Weise das „richtige“ Kunstpublikum war, zumindest wenn es um Geld und Beziehungen ging und um die Möglichkeit, neue Künstler in einer erfolgreichen Galerie unterzubringen, ihrer Galerie. Aber womit hatte man es schon verdient, ein „richtiges“ Publikum zu haben? Darauf konnte es nur eine Antwort geben. Mit guter Kunst. Und wenn Carla ehrlich war, bezweifelte sie, diese heute Abend zu sehen. Sie würde erklären müssen, warum diese oder jene Künstlerin nicht für ihre Galerie geeignet war, sie würde ein Urteil abgeben müssen und das war, zumindest was die Kunst betraf, unbestechlich.

      Aber die Aussicht auf ein paar Gläser Weißwein und ein bisschen Unterhaltung war nach diesem Tag, der sie so unvermittelt in ein paar freie Stunden entlassen hatte, wesentlich angenehmer als ein Abend alleine zuhause. Anja war noch bis Sonntag in Rom bei ihrer Schwester, und die Vorstellung, den Abend alleine ohne Anja in ihrer großen Wohnung zu verbringen, die sich heute Abend nur leer anfühlen würde, ließ sie schnell ihre Sachen zusammenpacken und den Weg zum Kulturzentrum einschlagen, das ohnehin ganz in der Nähe war. Sie konnte das Auto hier stehen lassen und zu Fuß gehen und nach ein paar Gläsern mit dem Taxi nach Hause fahren.

      Das Kulturzentrum war voll. Mit so vielen Gästen bei der Eröffnung hatte Carla nicht gerechnet. Annette musste wirklich eine Menge Werbung gemacht haben. Irgendeine entspannte Elektromusik waberte durch die eigentlich zu vollen Räume; es war zu warm und zu stickig, und Carla sah schon beim Hereinkommen, dass es Ewigkeiten dauern würde, sich bis zu Bar durchzukämpfen und sich etwas zu Trinken zu organisieren. Aber sie war fest entschlossen, es zu versuchen. Kurz vor der Bar, fasste sie Annette von hinten an der Schulter. Sie hatte sie offensichtlich auch in all dem Gedränge beim Reinkommen gesehen.

      „Und? Was sagst du?“, fragte sie erwartungsvoll.

      Carla kannte diesen Blick. Es war dieser „Komm schon, wenn wir alle mit anpacken, schaffen wir gemeinsam etwas Großartiges“-Blick. Carla wollte nicht gemeinsam etwas Großartiges schaffen, und schon gar nicht heute Abend.

      „Vor dem ersten Glas Wein sage ich gar nichts“, erwiderte sie nur. "Und außerdem habe ich mir die Sachen noch nicht eine Sekunde angesehen, bin gerade erst gekommen.“

      „Ja, ja, ich weiß“, sagte Annette jetzt. „Hol dir deinen Wein, und ich führe dich rum und stell dir die Künstlerinnen vor, du wirst sehen, sie sind wunderbar.“

      Ja, vermutlich waren sie wunderbar. Aber genau das hatte Carla befürchtet. Dass sie einer wunderbaren Frau nach der anderen würde sagen müssen, dass ihre Kunst leider nicht wunderbar genug war.

      Bleib diplomatisch und mach es kurz, sagte sie sich jetzt, als die ersten Schlucke Weißwein angenehm kühl ihren Mund füllten.

      Sie kämpfte sich mit Annette in eine der hinteren Ecken des Zentrums durch, wo großformatige Schwarzweiß-Portraits an den Wänden hingen und es geringfügig leerer war als am Eingang und vor der Bar.

      „Das musst du dir ansehen“, hatte Annette gerade mit stetig wachsender Begeisterung verkündet, während sie Carla durch das Gedränge hinter sich her zog.

      Und da stand sie nun, mit ihrem Weißwein in der Hand, vor diesen Bildern, vor all diesen großen Frauengesichtern, an denen nichts so recht zu stimmen schien. Die Proportionen stimmten größtenteils, aber die Perspektive schien an einigen Stellen merkwürdig verzerrt zu sein, so als hätte sich die Künstlerin nicht entscheiden können, ob sie die Dargestellte im Halbprofil oder frontal hatte abbilden wollen. An einigen Stellen hatte die Künstlerin scheinbar willkürlich dunkle Flächen wie Schatten über Teile des Gesichts gelegt. Vermutlich war hier perspektivisch irgendetwas schief gegangen, dachte Carla, als sie sich das Ganze näher ansah. Auf den kleinen Schildern neben den Bildern war kein Material angegeben, aber Carla war sich sicher, dass es Acrylfarbe war, eine Farbe mit der man schnell arbeiten musste, weil sie zu schnell trocknete, um sie noch lange weiter zu verarbeiten. Und das musste man können. Und diese Frau, deren Namen sie mit Sicherheit falsch aussprechen würde, konnte es nicht. Die Pinselstriche schwankten unschlüssig zwischen groben Strukturen und dem Versuch, auf Stirn, Wangen und Hals der Frauen flächige Gleichmäßigkeit entstehen zu lassen. Und diese Versuche waren eindeutig daneben gegangen. Um die Köpfe der Frauen waren lange Reihen von Wörtern geschrieben, die dem Bild entweder einen zusätzlichen, rechteckigen Rahmen gaben oder sich spiralförmig und rund um die Frauenköpfe drehten. Das meiste war auf Englisch, einiges in einer Sprache, die Carla nicht kannte. Sie las ein paar wenige Fetzen, Schlagwörter, die auf politische