Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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Bewegung auf Paula stürzen, als sie sich über ihn beugt. In einer einzigen Drehung reißt er ihr den Kaminhaken aus der Hand und wirft sie auf den Boden. Auf dem Rücken liegend kann Paula schon nach einer Sekunde nur noch röcheln, während mein Vater über ihr ist und ihr den Kaminhaken mit Gewalt gegen die Kehle drückt. Ich sehe die Ader auf ihrer Stirn deutlich hervortreten, sehe Schweißtropfen an ihren Schläfen und die Sehnen an ihrem Hals.

       Und ich sehe meine Mutter, wie sie langsam eine Pistole auf den Kopf meines Vaters richtet, unsicher, ungläubig, als wüsste sie noch nicht richtig, was sie dort eigentlich in der Hand hat. Einen Moment verharrt alles in Bewegungslosigkeit, mein Vater und meine Mutter sehen sich an, während Paula mit aller Kraft versucht, den Kaminhaken von ihrem Hals wegzubewegen.

      „Tu es“, höre ich jetzt Paula heiser flüstern, und meine Mutter tut es.

       Der Schuss ist ohrenbetäubend, so wie die Stille danach.

       Die dunkle, nasse Pfütze neben dem Kopf meines Vaters wird schnell immer größer, der Teppich schnell immer schwärzer.

      Sie tut es. Der Ständer der Schreibtischlampe ist massiv und schwer. So schwer, dass ein Schädelknochen ganz leicht zerbricht, wenn er mit so viel Wucht getroffen wird wie Frederiks Schläfe jetzt vom Schlag meiner Mutter.

      Ich sehe, was passiert, fühle mich viel zu weit weg. Bin eigentlich gar nicht hier, aber kann trotzdem alles sehen und mich über die Kraft wundern, mit der meine Mutter zuschlagen kann. Über die Schnelligkeit, mit der Frederik zu Boden fällt und erneut über die Farbe des Blutes, viel zu leuchtend, viel zu rot.

      Frederik zuckt ein paar Mal zusammen und bleibt dann bewegungslos liegen, aus der Wunde fließt immer noch Blut. Kann man so etwas überleben? Ich weiß es nicht.

      Madonna

      Sie hatte es ihr erzählt. Ja, sie hatte es ihr verdammt noch mal erzählt. Vollkommen aus freien Stücken. Annabell hatte sie noch nicht einmal bedrängt, und genau genommen war das eines der wenigen Male gewesen, bei denen sie sich nicht von Annabell bedrängt gefühlt hatte.

      Sie erinnerte sich noch genau. Im Bett hatten sie gelegen, es war spät, schon fast im Morgengrauen gewesen, und Carla hatte es ihr erzählt. Als sie am nächsten Abend daran zurückgedacht hatte, war es ihr unangenehm gewesen, ein bisschen peinlich fast. Auf eine Art, die man schnell wieder vergessen wollte, so wie sich Teenager peinlich davon berührt fühlen, wenn sie sich auf einmal bei Verhaltensweisen ertappen, die vielleicht mit neun oder zehn Jahren noch zu ihnen gepasst hätten, aber mit denen man jetzt eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte. Und schon gar nicht wollte man sich bei einer Art Rückfall erwischen lassen. Aber in dem Moment, so übermüdet und erschöpft im Bett... Carla wusste auch nicht genau, was mit ihr los gewesen war, aber irgendwie war es ihr richtig vorgekommen. Plötzlich hatte sich Annabell nah angefühlt, näher als sonst, und Carla war eigentlich nicht der Auffassung, dass Sex unweigerlich zu Nähe führte.

      Was eigentlich so großartig an all dieser Kunst sei, hatte Annabell gefragt, und ob sich Carla nicht auch einmal vorstellen könne, etwas anderes zu machen. Und da hatte sie es ihr erzählt. Denn sie konnte sich eben nicht vorstellen, einfach mal so etwas anderes zu machen. Und genau das hätte sie Annabell auch genau so sagen können. War es denn wirklich nötig gewesen, ihr Innenleben hier in diesem Bett auszubreiten, Stück für Stück auf den weißen Laken zwischen ihnen darzubieten, so dass Annabell damit tun und lassen konnte was sie wollte? Und das hatte sie ja nun weiß Gott auch getan.

      Es war mittlerweile so viele Jahre her, dass es Carla wie ein anderes Leben erschien. Sie war noch im Studium und verbrachte, wie sie es damals oft tat, den Sonntag allein in einem der Museen der Stadt. Es gab keine spezielle Ausstellung, die sie besonders interessiert hätte, sie ging einfach so durch die Sammlung des Museums, sah sich einiges nur flüchtig an und betrachtete einige Bilder dafür lange und intensiv. Sogar Notizen machte sie sich damals noch, notierte Namen von Künstlern, die sie nicht kannte oder über die sie gerne mehr wissen wollte. Sie ließ sich Zeit. Gemächlich ging sie von Raum zu Raum.

      Sie wusste, dass das Bild hier in der Kunsthalle hing, und sie kannte es sogar schon von Abbildungen aus Kunstbüchern, die sich zuhause in ihrer winzigen Wohnung stapelten und den größten Teil der Regale und sogar des Fußbodens bedeckten.

      Aber darauf war sie nicht vorbereitet. In keiner Weise. Sie sah das Bild sofort, als sie den Raum betrat. Es war einer der wirklichen Schätze der Sammlung, und so hatte man ihm Raum gegeben, es alleine an einer hellen, gut ausgeleuchteten Wand platziert. Sie fühlte sich in dem Augenblick, in dem sie es sah, angezogen. Wie ein ganz körperliches Hingezogensein war es, unerklärlich, aber so unausweichlich, dass Carla gar nicht in den Sinn gekommen wäre, es in Frage zu stellen.

      Und da sah sie es nun. Sah es zum ersten Mal als Original vor sich und begriff zum ersten Mal wirklich, was es bedeutete, ein Kunstwerk wirklich zu sehen. Sie war von einer so tiefen Schönheit, die Carla auf eine so grundlegende Art berührte, von der sie nicht gewusst hatte, dass das möglich war. Da war etwas in ihr, das antwortete, aufnahm und reagierte, empfänglich war, ganz da war und ganz offen, um auf diese seltsame Art berührt zu werden.

      Da war sie also. Die „Madonna“. Munchs Madonna.

      Noch nie war es Carla gelungen, ein Bild zu betrachten, wie hier an diesem Sonntag die „Madonna“. Es war berauschend, wie eine andere Art von Wahrnehmung. Carla schien auf einmal in der Lage, gleichzeitig Details und das große Ganze wahrzunehmen. Sie sah einzelne Farbflächen, Übergänge, Pinselstriche, die geschwungene Linie des hochgestreckten Arms und wie er sich in einer dunkelbraunen Farbfläche verlor. Sie sah die strengen Linien des schwarzen Haares, die weichen, hellen Flächen von Bauch und Brüsten, genauso wie die harten, fast groben Pinselstriche, wo der andere Arm hinter dem Rücken verschwand. Sah dieses Gesicht, die tiefen Augenhöhlen mit den geschlossenen Lidern, das vorsichtige Rot der Lippen, die schmalen Wangen und dieses absolute Bei-sich-Sein, für das es nicht die geringste Rolle zu spielen schien, ob zufällig ein Betrachter da war oder nicht. Und gleichzeitig spürte Carla jeden Augenblick die ungeheuerliche Wirkung, die nur dadurch entstehen konnte, dass sich all dies zusammenfügte, dass jedes Detail, das sie betrachtete, genau so und genau dort an seinem Platz war.

      Sie konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, wie lange sie so dagestanden und nur geschaut hatte. Es hätten Minuten und genau so gut auch Stunden sein können. Die Zeit schrumpfte zusammen, wurde räumlich und sinnlich, fühlbar, spürbar, nicht nur mit den Augen, sondern mit allem, was Carla hatte.

      Dass ihr die Tränen hinunter liefen, merkte sie erst, als ihr Gesicht schon ganz nass war. Sie konnte nichts dagegen tun, und es wäre ihr auch nicht richtig vorgekommen, denn das, was sie hier empfand, erschien ihr wie die einzig richtige, die einzig angemessene Reaktion auf dieses Bild.

      Sie zitterte. Ihre Unterlippe zitterte, und ein Frösteln hatte jetzt ihren Oberkörper erfasst, das sie buchstäblich durchschüttelte, bis ihr schwindelig wurde und die Formen und Farben vor ihren Augen verschwammen. Doch sie konnte ihren Blick nicht abwenden.

      Sie merkte, wie der Schwindel stärker wurde, sie zu schwanken begann und ihre Knie anfingen zu zittern. Sie konnte nicht das Geringste tun, außer sich selber dabei zuzusehen, wie sie langsam zu Boden sank, die Arme jetzt fest um ihren Oberkörper geschlungen, als würde man sich draußen im Winter vor der Kälte schützen wollen. Eine Frau vom Aufsichtspersonal fasste sie freundlich, aber doch bestimmt an der Schulter, und erst das war der Moment, in dem es Carla gelang, wieder etwas anderes wahrzunehmen als die „Madonna“, die ihr von der hellen Wand entgegenstrahlte.

      Die Frau vom Aufsichtspersonal hatte sie vorsichtig nach oben gezogen, gefragt, ob ihr nicht gut sei, sie zu der Ledercouch geführt, die in der Mitte des Raumes stand, und sie dann dort sitzen gelassen, um einen Moment später mit einem Glas Wasser wiederzukommen.

      Nur allmählich beruhigte sich Carla wieder. Die Haare an den Schläfen klebten ihr feucht an der Stirn, ihr ganzes Hemd klebte verschwitzt am Rücken, und nur nach und nach wurde ihr Atem wieder ruhiger, und ihre Hände hörten auf zu zittern, als sie das Glas zum Mund führte.

      „Hier