Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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bunter, weniger klinisch. Aber das tut es nicht.

      Ein kompakter Pfleger schließt mir die Tür auf, als ich läute, und sieht mich erst fragend, dann aber freundlich an. Er hat einen Bart und die langen Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden. Auf die Frage, wohin ich möchte, sage ich kurz aber höflich: „Zum Archiv, Akteneinsicht für Prof. Neumann aus der Neurologie.“

      Als er beginnt, mir zu beschreiben, wo ich das Archiv finde, versuche ich, möglichst beiläufig abzuwinken und sage: „Ja, danke, ich kenne den Weg.“

      Er nickt nur, und ich sehe ihm hinterher, wie er im Stationszimmer verschwindet.

      Ein langer Flur streckt sich vor mir aus. Alles wirkt sehr hell, sehr weiß, sehr sauber. Ich sehe keine Patienten auf dem Flur, es ist sehr still. Ein bisschen zu still für eine Klinik. Reden erscheint unangemessen, und meine Schritte auf dem Linoliumboden sind zu laut.

      Ich weiß, dass ich den Flur nur gerade durchgehen muss, ganz am Ende rechts abbiegen und dann sofort wieder links. Am Ende dieses Flures müsste sich dann das Archiv befinden.

      Ich versuche, beim Gehen automatisch meine Schritte zu dämpfen und wundere mich weiter, wo all die Patienten sind. Umso mehr erschrecke ich mich, als ich jetzt links an einer Art Aufenthaltsraum vorbeikomme und einen jungen Mann auf dem Boden sitzen sehe.

      Ganz ruhig sitzt er da, hunderte von Puzzleteilen auf dem Boden um ihn herum verteilt. Er sieht mich genau an, er hat ganz klare, blaue Augen. Es ist schwer zu schätzen, wie alt er ist, er hat eher das Gesicht eines Jungen als das eines erwachsenen Mannes. Er sieht unglaublich hübsch aus. Er hätte Renaissancemalern Modell stehen können, denke ich, die auf der Suche nach dem perfekten Gesicht waren, nach der absoluten Harmonie.

      Wie aus einem Reflex heraus sage ich: „Hallo.“

      Der Junge sieht mich als Antwort nur weiter unverwandt an.

      „Bist du ganz alleine hier? Wo sind denn all die anderen?“

      Statt zu antworten, zeigt er auf eine Tür schräg gegenüber, die von der rechten Seite des Flurs abgeht. Ich nicke stumm und deute auf all die verstreuten Puzzleteile auf dem Boden.

      „Was wird denn das für ein Bild, wenn du damit fertig bist?“

      „Himmel“, sagt er nur.

      Und tatsächlich sehe ich nur blaue und weiße Puzzleteile, als ich auf den Boden blicke. Ich gehe in die Hocke und frage verblüfft: „Du machst ein so großes Bild nur mit Puzzleteilen vom Himmel?“

      Er nickt nur und sieht mich weiter an.

      „Wie heißt du?“, will ich jetzt wissen.

      „James“, antwortet er, wieder mit dieser weichen, warmen Stimme.

      „Okay James, ich muss jetzt weiter, war schön, dich kennen gelernt zu haben.“

      Ich spüre, wie er mir hinterher blickt, während ich den Aufenthaltsraum verlasse und wieder in den Flur einbiege. Ich komme an vielen Zimmern vorbei, ganz am Ende des Flurs, kurz bevor ich rechts abbiegen muss, steht an einer der Türen „Dr. Frederik Grabe“. Ich sehe reflexartig auf die Uhr, als ich an seinem Zimmer vorbeigehe, viertel vor neun, es ist noch genug Zeit.

      Endlich komme ich am Vorzimmer zum Archiv an und öffne die Tür vorsichtig, als auf mein Klopfen ein „Herein“ folgt.

      Eine Frau in den Fünfzigern sitzt an einem langen Bürotisch. Hochgesteckte, blonde Haare, Brille mit rotem, stabilem Rahmen, zu viel Parfum. Der ganze Raum riecht süßlich und schwer. Schräg hinter ihr befindet sich eine Glastür, hinter der das Archiv sein muss.

      „Was kann ich für Sie tun?“, fragt mich die Frau nicht unfreundlich, aber bestimmt.

      „Ich bin von der Neurologie rübergeschickt worden, die Assistentin von Prof. Neumann. Er bittet um eine Akte aus den alten Beständen von Dr. Grabe.“

      „Die alten Bestände?“ Sie sieht mich durchdringend an. Wenn es hier keine alten Akten von Frederik gibt, ist es sowieso sofort aus. Ich merke, wie ich zu schwitzen beginne und sich mein Mund auf einmal ganz trocken anfühlt.

      „Sie wissen, dass Dr. Grabe dafür persönlich das Formular ausfüllen und unterschreiben muss, wenn die Akten außer Haus gehen?“

      „Natürlich“, ich versuche, nicht zu erleichtert zu klingen. „Wenn Sie mir ein Formular mitgeben, werde ich mich gleich darum kümmern, Dr. Grabe ist sehr eingespannt.“

      Ohne ein weiteres Wort zu sagen und mich immer noch genau im Blick behaltend, zieht sie eine Schublade am Schreibtisch auf und reicht mir ein gelbes Formular.

      Ich sage: „Bis gleich“, und kann es mir nicht verkneifen hörbar auszuatmen, als ich die Tür wieder hinter mir geschlossen habe.

      Mit dem gelben Blatt in meiner verschwitzten Hand gehe ich den Flur ein Stück zurück und verschwinde sofort in den Toilettenräumen, wo ich direkt die Tür hinter mir zuziehe und abschließe. Aus der Kitteltasche hole ich jetzt einen Kugelschreiber und die Kopie eines alten Schecks, den mir Frederik vor Jahren einmal ausgestellt hat. Mit dem Kugelschreiber ziehe ich jetzt seine Unterschrift noch einmal nach, damit ich sie halbwegs deutlich durch das hellgelbe Papier hindurch sehen kann. Es funktioniert. Die Unterschrift ist recht deutlich zu erkennen, so dass ich sie ohne große Schwierigkeiten auf dem Formular nachzeichnen kann. Im Feld „Name des Patienten“ trage ich meinen eigenen ein. Ich warte noch ein paar Minuten in der Toilette, damit ich nicht zu schnell zurück im Archiv bin, wasche mir die Hände und trockne mir die verschwitzte Stirn ab.

      „Sie müssen vor der Tür warten, während ich die Akte hole.“ Sie wirft einen genauen Blick auf das Formular und sieht mich dann auffordernd an.

      „Ja natürlich“, antworte ich und sehe im Herausgehen, wie sie schwerfällig auf die Glastür zugeht.

      Es dauert ein paar Minuten. Die Schweißtropfen auf der Stirn kehren zurück, und ich trete nervös von einem Fuß auf den anderen. Schließlich wird jedoch die Tür geöffnet, und eine fleischige Hand reicht mir eine braune Akte, auf der noch maschinegeschrieben mein eigener Name steht, Ingrid Weiß.

      „Danke“, sage ich und versuche, meine Finger nicht zittern zu lassen, als ich die Akte endlich in den Händen halte.

      Ich kann nicht anders, als jetzt automatisch etwas schneller zu gehen. Kurz bevor ich wieder den Aufenthaltsraum passiere, geht die Tür schräg gegenüber auf. Einige Patienten kommen heraus und strömen auf den Flur.

      „Morgenrunde“, sagt der bärtige Pfleger, der auf einmal hinter mir steht und zur offenen Tür hin nickt.

      Ich nicke auch und deute auf James, der immer noch alleine im Aufenthaltsraum auf dem Boden hockt. „Warum ist er nicht dabei?“

      „Braucht ein bisschen Zeit für sich, hat nicht so gerne viele Leute um sich. Gleich wird es ihm wieder zuviel, aber so hat er wenigstens auch außerhalb seines Zimmers mal eine halbe Stunde Ruhe.“

      Der Pfleger riecht muffig und nach Essen, als er jetzt so nah neben mir steht.

      „Was ist denn mit ihm?“, frage ich.

      „Schwer zu sagen, er ist auf jeden Fall nicht hier, sondern irgendwo anders. Spricht kaum, hat keinen Kontakt zu den anderen, hat aber unglaubliche visuelle Fähigkeiten, und wenn es ein fotografisches Gedächtnis gibt, dann hat er es. Ist schon zu lange hier, bestimmt schon seit einem Jahr.“

      „Warum denn?“, will ich wissen. „Ist er denn eine Gefahr?“

      „Es gab mal irgendeinen Vorfall, bei dem er wohl ein Kind verletzt hat und sich danach umbringen wollte, und seit dem ist er wohl eine Gefahr“, sagt der Pfleger und klopft mir jetzt kollegial auf die Schulter, als er sich mit „Ich muss dann mal wieder“ von mir verabschiedet.

      Ich schaue noch einmal zu James, als ich weitergehe, und sehe auf dem Boden ein ungefähr dreißig mal vierzig Zentimeter großes Stück Himmel mit Wolken liegen. Es sind nicht mehr all zu viele Puzzelteile, die um ihn herum liegen.

      „Das