Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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der Bilder. Und dann noch das ganze auf der Stelle stehen, bringt den Kreislauf auch nicht gerade in Schwung.“

      Carla war ihr irgendwie dankbar, dass es zumindest für diese Frau eine ganz normale Erklärung zu geben schien. Und jetzt, nach ein paar weiteren Momenten, und nachdem sie den Rest des Wassers getrunken hatte, konnte sie der Frau matt entgegenlächeln. „Ja, ja, der Kreislauf. Ist bei mir nicht so gut, und auch zu wenig gegessen heute.“

      „Sehen Sie? Dann schaffen wir Sie jetzt erst einmal hier raus, und mit ein bisschen frischer Luft und einem ordentlichen Mittagessen wird es Ihnen schon besser gehen.“

      Die frische Luft tat tatsächlich gut. Der Nachmittag war noch nicht einmal richtig angebrochen, und nachdem Carla ein paar Minuten verwirrt und ziellos durch die Straßen geirrt war, setzte sie sich tatsächlich in ein kleines Café und bestellte etwas zu Essen. Allerdings eher aus dem Bedürfnis, den bodenständigen Rat der Museumsangestellten zu befolgen, als aus einem tatsächlichen Hungergefühl heraus. Nach dem Essen ging es ihr tatsächlich besser, und der lange Spaziergang nach Hause erfrischte sie so, dass zumindest körperlich kein Gefühl von Schwäche mehr zurückgeblieben war.

      Dennoch fühlte sich Carla den ganzen restlichen Nachmittag und Abend noch verwirrt und erschöpft. Gleichzeitig aber auch neu und verändert, so wie es nur tiefe Erfahrungen und Erlebnisse schaffen, uns verändert zurückzulassen, wenn sie vorbei sind.

      Sie dachte an dem Tag noch lange an dieses Bild und an all die Gefühle, die sie beim Betrachten übermannt hatten. Und auch am späten Abend war ihr Gefühlszustand noch weit von neutral entfernt. Fast fühlte sie sich auf eine schwer zu fassende Art schuldig, schuldig aufgrund ihrer eigenen Unvollkommenheit gegenüber etwas so Vollkommenem. Und klein, so winzig klein, gegenüber so unfassbarer Schönheit.

      Das alles hatte sie Annabell erzählt an diesem frühen Morgen oder in dieser sehr späten Nacht im Bett. Sie wollte sie nicht abspeisen mit irgendwelchen belanglosen Erklärungen, warum sie tat, was sie tat, und warum sie liebte, was sie tat und sich nicht vorstellen konnte oder wollte, etwas anderes zu tun. Sie wollte ihr in dieser Nacht etwas Echtes erzählen, etwas von sich, etwas, worin Annabell erkennen konnte, wer sie war, zumindest wer ein Teil von ihr war.

      Annabell hatte sie angesehen, und in diesem Moment hatte Carla sofort verstanden, dass Annabell keine Ahnung hatte, wovon sie redete. Sie machte irgendwelche Bemerkungen, an die sich Carla nicht mehr genau erinnerte, und küsste ihr die Stirn, so als hätte Carla gerade etwas Kleines, Süßes, Niedliches erzählt, das auf eine putzige Art bewies, dass auch Carla eine Frau war, die berührt werden konnte von, sagen wir, Hundebabys oder tollpatschigen Kinderzeichnungen.

      Aber das Gefühl, das Carla an diesem Sonntag empfunden hatte, mit dessen Hilfe es ihr gelungen war, sich bis ans Ende ihres Studiums zu quälen und sich durch all die anstrengenden Jahre zu schuften, um ihre Galerie aufzubauen, nur um jetzt tatsächlich von der Kunst und mit der Kunst leben zu können, von auch nur einer ungefähren Ahnung dieses Gefühls war Annabell unendlich weit entfernt gewesen.

      Das hatte sie auf jeden Fall gedacht, als sie dort im Bett gelegen hatten. Aber mittlerweile wusste Carla, dass Annabell in diesem Moment zumindest eines begriffen hatte. Dass dieses Bild von unendlicher Wichtigkeit für Carla war, wichtiger als die meisten Menschen und wichtiger als Annabell.

      Das, was Carla an diesem Sonntag im Museum erlebt hatte, hatte sich bis jetzt nie wiederholt. Sie hatte im Laufe ihrer Karriere unendlich viel Kunst gesehen. Hatte sich begeistern können, war in stundenlange Betrachtungen von Bildern und Fotografien versunken gewesen und hatte mittlerweile ein kleines Vermögen für ihre eigene Sammlung ausgegeben, aber so etwas wie bei ihrer ersten Begegnung mit der „Madonna“ war ihr nie wieder passiert.

      Auch all die vielen folgenden Male, bei denen sie das Bild aufgesucht hatte, waren kein Vergleich gewesen. Aber über all die Jahre hatte sie sich immer wieder eine Ahnung dieses Gefühls ins Gedächtnis rufen können. Es war ein erhabenes, befriedigendes und verbundenes Gefühl, und sie hatte sich immer eingeredet, dass sie dieses Gefühl tatsächlich in gewisser Weise erhaben machte. Erhaben über all die Theoretiker, die nur dazu in der Lage waren, Kunst zu analysieren, ohne sie zu fühlen. Über all die Kunsthändler und Galeristen, die genauso gut teure Autos hätten verkaufen können, weil es für sie eigentlich ohnehin keine Rolle spielte, was sie verkauften.

      Das alles hatte sie Annabell nicht mehr erzählt. Und sie hatte ihr auch nicht erzählt, dass sie erst viele Jahre später, als sie mit dem Studium schon fertig war, durch einen Zufall erfuhr, was das eigentlich gewesen war, was sie da an diesem Sonntag im Museum erlebt hatte. Zufällig hatte sie einen Zeitungsartikel überflogen, in dem von einer Frau berichtet wurde, die in den Uffizien in Florenz in Ohnmacht gefallen war und mit einer nicht ungefährlichen Platzwunde am Kopf ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Es war eigentlich seltsam, dass sie noch nie zuvor dieses Wort gelesen hatte, aber hier stand es nun schwarz auf weiß: das „Stendhal Syndrom“.

      Sie war tatsächlich ein bisschen aufgeregt gewesen, als sie erkannte, dass der Artikel genau von dem handelte, was ihr damals vor der „Madonna“ passiert war. Gleichzeitig beschlich sie auch fast ein fades Gefühl der Enttäuschung, weil das, was sie erlebt hatte, offensichtlich nicht exklusiv zu sein schien. Im Gegenteil, es war anscheinend nicht nur einigen wenigen passiert, sondern immerhin so vielen Menschen, dass es gleich ein „Syndrom“ war. Wie viele Menschen brauchte man wohl für ein „Syndrom“? In diesem Fall nicht mehr und nicht weniger als 106.

      Carla hatte ein wenig nachgeforscht damals und war schnell auf die italienische Ärztin Graziella Magherini gestoßen, die in einer Studie genau 106 Krankengeschichten unterschiedlicher Patienten veröffentlicht hatte. Und nach dieser Studie gab es nicht nur 106 Krankengeschichten, sondern ein Syndrom, das „Stendhal Syndrom“.

      Dem französischen Schriftsteller Stendhal schien irgendwann im neunzehnten Jahrhundert in Florenz etwas ganz ähnliches passiert zu sein wie Carla vor der „Madonna“ in der Kunsthalle. Erschlagen von den unglaublichen Kunstschätzen der Stadt, fühlte er sich berauscht, wie im Wahn, bald nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

      Die Symptome ihrer Patienten, welche die Ärztin in ihrer Studie beschrieb, waren unterschiedlich und reichten von Wahrnehmungsstörungen und Halluzinationen über tiefe Schuldgefühle bis hin zu Panikattacken und Ohnmachtsanfällen. Aber eines hatten alle beschriebenen Fälle gemeinsam. Alle Patienten erlitten diese seltsamen Veränderungen im unmittelbaren Zusammenhang mit der eingehenden Betrachtung von Kunstwerken. Wobei Carla durchaus nicht fand, dass „erleiden“ hier das richtige Wort war, denn sie persönlich hatte dieses Erlebnis nie bedauert oder gar rückgängig machen wollen. All die Jahre hatte es ihr mehr gegeben als die meisten anderen Erlebnisse.

      Das alles hatte sie Annabell also nicht mehr erzählt. Aber das wenige, was sie Annabell in dieser Nacht erzählt hatte, hatte ausgereicht, um nur wenige Wochen später zu einer absoluten Katastrophe zu führen.

      Auf irgendeine Art hatte Carla eigentlich immer gewusst, dass das, was sie tat, nicht für immer und ewig gut gehen konnte.

      Sie war jetzt seit neun Jahren mit Anja zusammen, und sie hatte in diesen neun Jahren nie die geringste Absicht gehabt, diese Beziehung zu beenden und Anja zu verlassen. In vielerlei Hinsicht konnte sie sich keinen Menschen vorstellen, der besser zu ihr gepasst hätte, zumindest war ihr in all der Zeit niemand begegnet, von dem sie das hätte behaupten können. Und es war durchaus nicht so, dass Anja im Grunde genommen nur ein Trostpreis für sie war, weil da einfach niemand war, der besser geeignet gewesen wäre, nein, so war es ganz und gar nicht. Sie konnte wirklich sagen, dass sie diese Beziehung zufrieden stellte.

      Was heißt das schon, zufrieden, hatte sie immer wieder von Freunden gehört, wenn mal wieder irgendein Beziehungsdrama oder eine Trennung im Bekanntenkreis diskutiert wurde. Sie wusste, was es hieß, zufrieden zu sein, denn das war genau das Gefühl, das sie all die Jahre durch ihre Beziehung getragen hatte. Mit mehr oder weniger großen Höhen und Tiefen, war das tatsächlich das grundlegende Gefühl, wenn sie an ihre Beziehung mit Anja dachte.

      Was sie auch immer wieder gehört hatte, war die anscheinend sehr verbreitete Ansicht, dass eine Affäre, und sei es auch nur ein kurzer Seitensprung, innerhalb einer Beziehung