Jörgen Dingler

Oskar trifft die Schwiegermutter


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auf den Plan treten, würde alles so verlaufen, wie ursprünglich angedacht. Davon war nicht auszugehen. Familie ist Familie. Die blutjunge Kali war sicherlich ähnlich gerissen wie sie. Es war von Komplikationen auszugehen. Folgerichtig waren entsprechende Mittel einzusetzen, um diese Komplikationen überleben zu können. Der Lover, der ihr für geraume Zeit ein neues Leben ermöglichen konnte, war nicht mehr und nicht weniger als ein ersetzlicher Kollateralschaden. Genauso kam es. Er war ein Schwerkrimineller nach normalen Maßstäben, aber ein Leichtgewicht verglichen mit den Qualitäten ihrer Familie. Genau deswegen war er jetzt tot. Aber sie nicht.

      Lichtstrahlen durchbrachen die Wasseroberfläche, durchleuchteten das Hafenwasser. Die tödlichen Schwestern waren körperlich perfekt, perfekt ausgerüstet… und schlau. Den Qualitäten ihrer Familie entsprechend, wollte sich die Frau nicht zu dem toten kriminellen Leichtgewicht gesellen. Er war ein Werkzeug für diesen Abend, vielleicht für ein neues Leben. Wäre es anders gekommen, wäre ‚Kali‘ nicht erschienen, hätte sie das Werkzeug früher oder später selbst entsorgen müssen – je nachdem, wie lange er von Nutzen war und sie bei Laune halten konnte. Diese Entsorgung war nun nicht mehr nötig. Die ‚Ratschläge‘, ihr Lover solle schleunigst verschwinden oder sogar ins Wasser springen, waren nichts anderes als Psychologie – quasi ein Verstärker, damit er genau das nicht tun würde. Als typischer Gangstermacho würde er den Teufel tun, sich vor einem zierlichen jungen Mädel zu verpissen. Da konnte die noch so möchtegern-gefährlich im Batgirl-Look daherkommen. Auch hätte er niemals getan, was eine Frau ihm befahl. Insofern waren ihre ‚Empfehlungen‘, sich aus dem Staub zu machen, die Garantie für sein Bleiben und somit für seinen Tod.

      Jetzt waren nur noch Vaarenkroogs – oder Duchamps – unter sich.

      Die sonst so furchtlose Frau reagierte verschreckt. Als wären die Lichtstrahlen tödliche Laserstrahlen, die sie nur knapp verfehlten. Und es würde ihren Tod bedeuten, entdeckten ihre Töchter sie – noch in Bewegung, also auch noch lebendig. Die Frau begab sich mit geschickten wie anmutigen Schwimmbewegungen wieder dorthin, wo die Strahler nicht hinreichten und wartete. Sie klammerte sich mit allen Vieren an den hinteren Kiel der ‚Rickmer Rickmers‘ und würde so lange verharren, bis die Lichtstrahlen erloschen. Und noch ein wenig darüber hinaus. Ihre Unauffindbarkeit war kein unzweifelhaftes, aber zumindest brauchbares Indiz für ihren Tod. Die Zwillinge hatten schließlich nicht alle Zeit der Welt, im ‚schwarzen Strampler‘ auf dem Schiff rumzuturnen. Ihre Töchter mussten auch aus einem anderen Grund bald verschwinden. Die Frau sog immer weniger Sauerstoff, dafür mehr und mehr Wasser durch das Röhrchen ein. Kein Wunder, dass das ‚Wunderding‘ sogar nach jahrzehntelanger Forschung und Entwicklung noch nicht serienreif war.

      »Nichts. … Sie ist tot«, sagte das eine Phantom auf Französisch. Das andere schüttelte den Kopf, war skeptisch.

      »Sie ist ein Luder… und verdammt clever«, sagte die später auf der Bildfläche Erschienene auf Deutsch. Sie erklomm das höher liegende Achterdeck und clippte die Lampe an den Gürtel. Sekundenbruchteile später vollführte sie mehrere Flicflacs. Ihre mit minimaler Geräuschentwicklung vorgetragene Turneinlage katapultierte sie geradewegs ans Heck des Schiffes. Sie griff erneut zur Stablampe, ging am Ruderstand vorbei, warf einen Blick auf den daran anschließenden, sargähnlichen Kasten mit dem Schiffsnamen an beiden Seiten: nichts. Dann beugte sie sich grazil über die Reling, hielt den kompakten Strahler auf das Wasser und durchleuchtete alles, was in ihrem Bereich lag. Ihr Anblick war ausnehmend sexy, und doch würde niemand in dieser Situation an Sex denken. Zumindest keiner, der das Teenageralter hinter sich gelassen hatte und einen IQ oberhalb der an diesem Abend vorherrschenden Temperaturen besaß. Wieder schüttelte sie ihren Kopf, war nach wie vor skeptisch. Sie begab sich zurück in Richtung Hauptdeck, wo sich ihre Schwester befand.

      Die andere, Ersterschienene ließ den gleißenden Strahl ihrer kleinen Stableuchte das Wasser seitlich des Schiffsrumpfes durchbrechen – auch hier nichts. Sie löschte das Licht, steckte die Leuchte in ihren Gürtel, beobachtete ihr schwarzgewandetes Ebenbild, das nun die andere Seite ebenso vergeblich absuchte und blieb auffallend cool.

      »Chris, lass uns abhauen«, sagte sie schließlich auf Deutsch, obwohl sie im Gegensatz zu ihrer Schwester eine Vorliebe für das Französische hegte, »falls sie noch lebendig ins Wasser fiel, ist sie ertrunken.«

      Die Zweiterschienene mit der Präferenz fürs Deutsche und der auffallend niedlichen Stimme schüttelte erneut den Kopf, schaltete den kompakten Strahler aus, steckte ihn in ihr Halfter, senkte ihr schönes maskiertes Gesicht, sah die andere ernst an und bestätigte

      »Oui, cherie. On y va.«

       Paris, April 2006

      Die wohlgeformten roten Lippen einer jungen Dame sprachen in den Hörer eines öffentlichen Telefons in der Pariser Innenstadt. Sie sprach abwechselnd deutsch und französisch.

      »Wieso? Was ist mit dem Bubblegum?«, fragte sie auf Französisch. Die Stimme am anderen Ende antwortete. »Von einer neuen Quelle???«, wiederholte sie den letzten Teil der auf Französisch gegebenen Information etwas zu laut auf Deutsch. Die junge Dame trug eine große Sonnenbrille, ihre langen dunklen Haare hatte sie nach oben zusammengesteckt und unter einer modischen Baskenmütze von Kangool verborgen. Hinter ihr quälte sich der Verkehr durch die Millionenmetropole. Sie war nicht sonderlich groß, aber von aufregender Statur mit perfekten Proportionen. Ihre – geachtet ihrer übersichtlichen Größe – aufregend langen Beine steckten in knallengen Bluejeans, an den Füßen trug sie Highheels mit Lederriemen und Nieten. Sie war ein Hingucker, selbst in der Welthauptstadt der Mode, einer Metropole, die nicht eben arm an Topmodels und anderen stilsicher gekleideten, aufregenden Frauen ist.

      Sie selbst hatte auch etwas mit Mode zu tun.

      »Das ist unsicher, cherie«, merkte sie an. »Ein neuer, noch unbekannter Lieferant für Bubblegum ist unsicher. Wie vertrauenswürdig ist er?«

      ‚Bubblegum‘ war die sprachliche Codierung für Plastiksprengstoff. Bevorzugtes ‚Bubblegum‘ war ein in jeder Hinsicht illegaler, daher noch schwerer zu bekommender Plastiksprengstoff ohne eingebaute taggants, die international vorgeschriebenen, von Spürhunden oder Röntgenstrahlen detektierbaren Zusatzstoffe. Lieferanten für derartige Substanzen waren auch für einflussreiche Menschen schwer bis gar nicht aufzutreiben. Der letzte Lieferant sprang aus nicht näher genannten Gründen plötzlich ab, und die Selbstversorgung, sprich Eigenentwicklung und -fertigung befand sich noch im Aufbau, war also noch nicht soweit.

      Ein kräftiger Mann – Ende dreißig, blaue Handwerkerlatzhose – erschien und herrschte die junge Frau an, sie solle ihr Telefonat langsam mal beenden.

      »Moment, cherie«, gab sie der Stimme am anderen Ende zu verstehen. »Hier gibt es grad eine kleine Störung.«

      »Hast du kein Handy, oder was?«, blaffte sie zurück. »Verpiss dich!«

      Weil ihn eine zierliche junge Frau angeblafft hatte, beging der Störende einen entscheidenden Fehler: Er versuchte, sie anzufassen. Eine kräftige Männerhand griff nach dem Arm der sonnenbebrillten Schönheit mit dem beigen Kangool-Barett und der beigen Weste über einem ebenfalls beigen Pullover. Fast im selben Moment lag er waagerecht in der Luft, platschte anschließend rücklings auf den Boden und blieb dort liegen. Selbst, wenn man es genau beobachtet hätte, wäre schwerlich auszumachen gewesen, dass die zierliche junge Frau dafür verantwortlich war. Wie bei den besten Zaubertricks hätte sogar eine verlangsamte Wiederholung nicht wirklich viel zutage gefördert. Es war einfach zu gut gemacht, zu schnell sowieso.

      »So, wir können weiterreden«, sprach sie ungerührt in die Sprechmuschel, »Wir haben keine Zeit mehr, das Zeug vorher noch großartig zu testen. Naja, wahrscheinlich werden wir es ohnehin nicht brauchen… hoffentlich brauchen wir es nicht«, brabbelte sie und zischte abschließend

      »Shit! Ich hasse sowas!«

      Sie knallte den Hörer auf die Gabel – da war doch noch was! – und drehte sich zu dem Handwerker um. Er lag nach wie vor auf dem Boden, kam nun langsam wieder zu sich, bewegte sich, röchelte. Ihre Mundwinkel, die bis eben noch hängend ihre miese Laune widerspiegelten, schnellten