Michael Stuhr

DIE NOVIZEN


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hörte nicht mehr zu. Obwohl in seiner Schulter bei jedem Herzschlag das Blut pochte, musste er plötzlich kichern, als er an das Bild dachte, das er eben geboten hatte. Sander hatte ja Recht. - Ja! Auf seine Art hatte der Alte wirklich Recht! Es war ein Spiel unter Kerlen gewesen. Sander hatte ihn reingelegt, wie ein Kerl einen anderen Kerl eben manchmal reinlegt. Hier war kein Platz für wehleidiges Getue und Beleidigtsein, nur weil man die Regeln nicht kannte. So lief nun mal ein Spiel unter echten Kerlen, zu denen Gunther nie gehört hatte, zu denen er sich aber heimlich immer schon hingezogen fühlte. Was war er doch für ein Idiot gewesen, als er sich von seiner Mutter zum Zivildienst hatte überreden lassen. Wenn er beim Bund gewesen wäre, dann hätte er sich heute bestimmt nicht so reinlegen lassen. - Aber vielleicht ließ sich noch so Einiges nachholen - und vielleicht war Sander der Schlüssel dazu. Sander war zwar alt, aber knochenhart, ganz anders als die Leute, mit denen es Gunther sonst zu tun hatte. Der Alte war todkrank, aber er schoss mit daumendicken Bleikugeln, zog eine Granate nach der anderen ab und kackte in Müllsäcke, wie es ihm gerade gefiel. Man konnte verdammt viel von ihm lernen, wenn man wissen wollte, was es bedeutete, ein richtiger Kerl zu sein.

      "Na, dann Prost!" Gunther verkniff sich den Schmerz und hob Sander seine Flasche entgegen.

      Der Alte zog die Augenbrauen hoch und beugte sich vor.

      "Danke für die Lektion", grinste Gunther, immer noch leicht verlegen. Das dicke Glas klickte leise, als ihre Flaschen sich berührten, und dann tranken sie in tiefen Zügen. "Haben Sie noch Munition?", wollte Gunther danach wissen.

      "So sicher, wie Scheiße stinkt", sagte Sander und sein Gesicht strahlte so etwas wie Anerkennung aus. "Gleich auf dem Balken hinter der Tür."

      Eine halbe Stunde später war die Schubkarre kaum noch mehr als ein locker zusammenhängendes Bündel von Metallfetzen und Gunther war so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Sander war aufgestanden und hatte sich an der Schießerei beteiligt. - Immer zwei Schuss er und zwei Schuss Gunther. Zuerst hatten sie die schweren Brenneke-Bleigeschosse genommen und dann mit 4mm-Schrot weitergemacht, bis alles in Fetzen hing und die Schubkarre über den ganzen Hof geschlittert war.

      Gunthers Schulter musste ein einziger Bluterguss sein. Es war ihm noch zweimal passiert, dass er die Flinte nicht fest genug einzog. Auf die Art hatte er sich zwei heftige Eselstritte, wie Sander das nannte, eingehandelt, aber er war jetzt schon ziemlich betrunken, und es machte ihm nichts mehr aus.

      Schließlich gingen die schweren Patronen zu Ende und es war nur noch Vogelschrot da. "Das bringt nichts", meinte Sander und brachte die Flinte wieder ins Haus. "Das Zeug spritzt nur unnötig durch die Gegend und macht nichts kaputt."

      Gunther hatte einen Moment lang die irre Idee, für Julia eine Ente, eine Wildgans oder einen Fasan zu schießen, aber erstens hätte er nach der Knallerei auf dem Hof in weitem Umkreis kein jagdbares Wild mehr gefunden, und zweitens fiel ihm ein, dass sie alles was tot war, aus tiefster Seele verabscheute. - Memme! Gunther verzog das Gesicht und sah Sander entgegen, der mit zwei neuen Flaschen aus dem Haus kam.

      Gunther hätte gern noch weiter geschossen. Bedauernd sah er auf den Torflügel, hinter dem die Flinte nun wieder stand. Das war ja fast wie im Film gewesen. Es hatte unheimlich viel Spaß gemacht, die alte Schubkarre Schuss für Schuss immer weiter quer über den Hof zu jagen. Wenn Julia und er erst hier wohnten, dann würde er vielleicht einen alten Autoreifen an einen Baum hängen. Den konnten sie dann als Ziel benutzen, so wie Bonnie und Clyde es im Film gemacht hatten. Vielleicht würde Julia dann nicht mehr so verflucht zimperlich sein. Hoffentlich ließ Sander die Flinte hier, wenn er nach Chile ging.

      Gunther begann Sander zu mögen. Der Alte war wirklich in Ordnung. Den hätte er kennen lernen sollen, als er noch jung war. - Dann hätten sie bestimmt noch ganz andere Dinger zusammen gedreht. - Ganz bestimmt sogar!

       KAPITEL 6 – 1948-1962 - DER FREUND

      Wenn jemand ihn gefragt hätte, würde der Mann Reinhart Carstens als seinen besten Freund bezeichnet haben; sowohl vor, wie auch nach jenem Tag im Juni 1962.

      Der Mann hatte Carstens 1948 kennen gelernt, als er sein chilenisches Exil aufgab, und er es nach über drei Jahren wieder wagte, sich in Deutschland sehen zu lassen. Die Nürnberger Prozesse waren so gut wie zu Ende, es gab neues, gutes Geld, und die Olympischen Spiele in London boten Anlass genug, die Reichen und die Sportbegeisterten in England zusammenströmen zu lassen. Das schien ihm eine hervorragende Möglichkeit zu sein, unauffällig nach Europa zu reisen, und so kam der Mann am 30.Juli 1948 zusammen mit einigen anderen Passagieren mit dem Frachter Gulbene in Southhampton an. Obwohl seine chilenischen Papiere - bis auf den Namen - so echt waren, wie sie nur sein konnten, mied er die Zollkontrolle und vor allen Dingen die Leute vom Immigration Office. Er blieb auf der `Gulbene´, bis er sie unauffällig verlassen konnte und schaute sich dann im Zollhafen nach einer Mitfahrgelegenheit um. Er hatte Glück, denn das Küstenmotorschiff `Helga´ aus Emden machte gerade zum Auslaufen klar.

      Der Kapitän war das, was manche einen guten Kameraden nennen würden, und außerdem hatte der Mann noch ein Bündel amerikanischer Dollars dabei - das gab den Ausschlag: Zwei Stunden später befand sich das Schiff auf dem Weg in den Heimathafen, und der Mann schaute belustigt auf die Steilküste Südenglands zurück. Leise summte er die Melodie von `Wir fahren gegen Engeland´ vor sich hin, denn schließlich hatte er, der er sicherlich auf den Fahndungslisten von CID und MI5 stand, englischen Boden betreten - und vor allem auch wieder ungeschoren verlassen. Er kam sich vor wie ein Held.

      Der Mann war Techniker, und da es ihm langweilig war, interessierte er sich für alles, was auf dem Schiff vorging. Der Kapitän ließ ihn gewähren, und so führten seine Wege ihn auch in den Maschinenraum, wo zwei schweigsame Mechaniker Dienst taten. Der eine war ein ehemaliger U-Boot-Mann, ein kleiner Kerl, der ab und zu Anfälle von Klaustrophobie bekam. Dann ließ er alles stehen und liegen und raste mit zitternden Gliedern die Stahltreppe empor, die hinaufführte zu Licht, Luft und erlösender Weite. Er war kurz vor Kriegsende mit seinem Boot versenkt worden, und hatte als eines von fünf Besatzungsmitgliedern mit knapper Not überlebt. Schon das kleinste Geräusch konnte so einen Angstanfall auslösen, wobei er allerdings gegen das stetige Donnern des Diesels völlig immun war. Fiel aber zum Beispiel ein schwerer Schraubenschlüssel auf die Stahlplatten, dann konnte es passieren, dass er in eine solche Panik geriet, dass er sich herumwarf und aus dem Maschinenraum verschwunden war, noch bevor man begriff, was überhaupt geschehen war. Dieser Mann war Reinhart Carstens und am Ende der Reise wollte er abmustern, weil er die Arbeit in dem engen, dunklen, lauten Maschinenraum nervlich nicht mehr verkraften konnte.

      Der andere Mechaniker war schon alt. Er war zeitlebens auf Schiffen der Handelsmarine gefahren und hatte schon so manchen komischen Vogel, wie er es nannte, kennen gelernt. Klaglos machte er die Extraarbeit, die er durch seinen Kollegen hatte, und nahm ihn sogar noch vor dem Kapitän in Schutz.

      Der Mann fand es faszinierend, mit welch tierhaftem Entsetzen Carstens floh, wenn irgendein ungewohntes Geräusch ihn erschreckte. Die `Helga´ war Anfang der zwanziger Jahre als Dampfschiff gebaut und Mitte der dreißiger auf Dieselbetrieb umgerüstet worden. Ursprünglich ein kleiner Küstenfrachter, hatte man sie im Krieg requiriert, zum Hilfszerstörer umgebaut und sie war ein paar Mal schwer getroffen worden. Nach dem Krieg hatte man sie notdürftig zum Frachter zurückgebaut und für den Abtransport von Reparationsgütern nach Frankreich und England eingesetzt. Kurz gesagt: Auf der `Helga´ passte kaum ein Teil zum anderen. Das Schiff ächzte und stöhnte bei jeder Welle; die Spannungen in der Bordwand entluden sich in unregelmäßigen Abständen mit kanonenschussartigem Getöse und jede Veränderung der Maschinendrehzahl schien das Schiff schier zu zerreißen. Der arme Mechaniker verbrachte mehr Zeit auf Deck als im Maschinenraum, und so langsam wurde der Kapitän wirklich wütend auf ihn. Er drohte ihm an, seine Heuer einzubehalten und dafür zu sorgen, dass er nie wieder auf einem Schiff fahren würde. - Da griff der Passagier ein.

      Der Mann hatte Reinhart Carstens ins Herz geschlossen. Auf eine schwer zu fassende Art mochte er den kleinen Kerl mit den großen ängstlichen Augen. Darum bot er ihm an, unentgeltlich in dessen Schicht auszuhelfen, was der Kapitän schließlich auch akzeptierte, nachdem er erfahren hatte, dass sein Passagier ein Diplom als Maschinenbauingenieur