Michael Stuhr

DIE NOVIZEN


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wieder um und setzte sich. Sie war ganz auf die geöffnete Pralinenschachtel konzentriert und hatte den verstohlenen Seitenblick nicht bemerkt. "Die hier mag ich!", erklärte sie nach einigen Sekunden und zeigte auf eine helle Praline, die mit dünnen, tiefschwarzen Schokoladenstreifen verziert war. "Das ist bestimmt Nougat. - Darf ich wirklich?"

      "Sicher doch!", sagte der Mann und lächelte, als sie zugriff. - Nougat war immer der Renner. Die anderen Pralinen hätte er gar nicht zu präparieren brauchen. "Ich mag Marzipan am liebsten" erklärte er dann. "Das sind die mit der Mandel drauf."

      Der Mann trieb den 220er zügig den Weg hinab, um möglichst schnell, und vor allen Dingen ungesehen, die Hauptstraße zu erreichen.

      "Toll!", fand Änne. Sie fuhr gern Auto, vor allem, wenn es richtig schnell voranging.

      Der Mann hatte im Moment ganz andere Sorgen. Nervös schaute er in den Rückspiegel und seitlich über die Felder hinweg, aber da war niemand zu entdecken, der den Wagen hätte sehen können. Wäre da jemand gewesen, dann hätte er Änne die Pralinen weggenommen, während der Fahrt ein ernstes Gespräch mit ihr geführt, und sie als guter Freund der Familie nach einer halben Stunde zu Hause abgeliefert. Aber da war niemand, und als sie auf die Hauptstraße einbogen, war Ännes Schicksal so gut wie besiegelt.

      "Toll!", sagte Änne wieder, als der schwere Wagen wie von der Sehne geschnellt die Hauptstraße entlangschoss. Ihr Vater fuhr einen Weltkugel-Taunus mit Dreiganggetriebe, da war nicht viel zu holen. "Auf der Autobahn drehen Sie dann richtig auf, ja?"

      Der Mann nickte, während er konzentriert nach vorne sah. Der Tacho pendelte jetzt schon um die 140 km/h-Marke herum. Weit voraus tauchte auf der rechten Straßenseite ein Motorroller auf, dessen Fahrer sich weit über den Lenker gebeugt hatte. Innerhalb weniger Sekunden hatte der Mercedes ihn eingeholt und war an ihm vorbei. "Das war Harry!", rief Änne aus und drehte sich auf dem Sitz um.

      Der Mann sah in den Rückspiegel. Der Roller war weit zurück und kaum noch zu erkennen.

      "Harry ist auch öfters in der Eisdiele", erzählte Änne. "Der ist lustig - erzählt lauter Blödsinn, damit die anderen lachen müssen."

      "Hat er dich erkannt?", wollte der Mann wissen.

      "Ich glaube nicht", meinte Änne. "Wir waren viel zu schnell. - Ich habe ihn ja kaum erkannt."

      "Schade", meinte der Mann. "Was meinst du, wie der guckt, wenn du ihm erzählst, wie wir an ihm vorbeigebraust sind."

      "Der wird vor Neid ganz grün", vermutete Änne und der Mann stimmte in ihr Lachen ein. "Nimm dir doch ruhig noch eine Praline."

      "Und Sie?" Auffordernd hielt Änne ihm die Schachtel hin, die die ganze Zeit auf ihrem Schoß gelegen hatte.

      "Eigentlich esse ich beim Fahren nichts." Der Mann zog den Wagen auf die Gegenspur, um einen Traktor zu überholen. Das knatternde Geräusch des kleinen Diesels wehte kurz durch das offene Fenster herein.

      "Och!" Änne wollte die Schachtel enttäuscht zurückziehen.

      "Aber bei Marzipan kann ich eben nicht widerstehen." Er griff in die Schachtel und hob eine der Pralinen an der halbierten Mandel aus der Packung. Er mochte Süßigkeiten eigentlich überhaupt nicht, aber er hatte viel gelernt, seit er vor vier Jahren sein erstes Opfer betäubt hatte. Es hatte sich gezeigt, dass es manchmal nötig war, die Mädchen ein wenig zu animieren - ihnen Appetit zu machen - ihren Futterneid zu erregen, wie der Mann es bei sich nannte. - Also hatte er die Marzipanpralinen nicht mit Schlafmittel gespritzt, und da die meisten Mädchen genug Anstand besaßen, sich nicht an seinen erklärten Lieblingsleckereien zu vergreifen, konnte er so eventuell aufkeimendes Misstrauen schnell entkräften.

      "Gleich sind wir an der Autobahn." Der Mann sah aus dem Augenwinkel, dass Änne sich schnell noch eine dritte Praline nahm. Dann verschloss sie die Schachtel, legte sie wieder auf den Rücksitz und setzte sich für den zu erwartenden Geschwindigkeitsrausch in Positur.

      "Wenn wir wieder von der Autobahn runterfahren, sollten wir aber wirklich mal über dich reden", meinte der Mann. - Aber er verließ die Autobahn nicht an der nächsten Abfahrt, denn da war Änne bereits auf dem Beifahrersitz in sich zusammengesunken, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Der Mann machte sich keine Gedanken deswegen. Der Rekord lag bei fünf Pralinen, und das Mädchen war noch in der selben Nacht wieder voll da gewesen. - Diese kleinen Schlampen vertrugen mehr, als man ahnen konnte.

      Änne war nach links gekippt und lehnte nun an der Schulter des Mannes, aber noch konnte man sie von draußen sehen. Die anderen Fahrer mochten sie für ein Liebespaar halten, aber so langsam begann sich der Rücken des Mannes zu versteifen, weil er ständig einen Druck nach rechts ausüben musste. Als er sicher war, dass Änne nichts mehr spürte, zog er die Schulter nach hinten und ihr Kopf glitt auf seinen Schoß. Nach wenigen Sekunden spürte er die Wärme ihrer Wange an seinem Schenkel und die Reaktion blieb nicht aus. - Aber so lief das nicht. So lief das nie!

      Der Mann sah auf die Uhr. - In etwa einer Stunde würde es dunkel sein, und gute vier Stunden brauchte er bis nach Hause. Das würde eine harte Zeit werden, aber der Lohn für seine Beherrschung würde umso größer sein.

      Der Tacho pendelte um die 150 km/h-Marke. Schneller zu fahren hatte keinen Sinn, weil die Reifen das auf Dauer nicht mitmachen würden. Ein neuer Opel Rekord tauchte im Rückspiegel auf, schob sich langsam näher und überholte schließlich. Der Fahrer sah starr geradeaus, aber der Mann merkte, wie stolz er war, einen Mercedes überholt zu haben. "Davon kannst du deinen Enkeln noch erzählen", knurrte er. Es wurde langsam dunkel. - Knapp vier Stunden noch bis nach Hause. Der Mann konnte es kaum erwarten. Flüchtig dachte er an Carstens. Sein Freund tat ihm wirklich Leid. - Geradezu tragisch, dass seine Tochter so ein Flittchen war, aber nun war es nicht mehr zu ändern.

       KAPITEL 8 - Juli 1994 - DIE LEKTION

      Gunther machte es sich zur Gewohnheit, abends für ein-zwei Stunden zu Sander hinauszufahren, aber es war nicht mehr die jungenhafte Schießwut, die ihn zu der alten Mühle trieb. Sicher - er hatte neue Patronen besorgt; in der Stadt hatten sie ihm zwar keine verkaufen wollen, aber im letzten Dorf vor dem Grundstück gab es einen kleinen Kramladen, der neben anderen Eisenwaren auch Munition führte. Ein Anruf von Sander hatte genügt, und man hatte Gunther die schweren 12er Patronen ohne weitere Formalitäten ausgehändigt. Als die Frau hinter dem Tresen die Posten aufaddierte, staunte Gunther, wie teuer die Munition war, und da es keine Möglichkeit gab, mit Kreditkarte zu bezahlen, war er fast pleite, als er aus dem Laden kam. Sie schossen noch ein paar Mal auf irgendwelche Sachen, die auf dem Hof herumlagen, aber Gunther sah vor seinem inneren Auge jedes Mal eine Hand voll Münzen davonfliegen, wenn er abdrückte, und so war ihm das Spiel bald verleidet. Das machte aber nichts. Sander zeigte sich ihm gegenüber als geistreicher und schlagfertiger Gesprächspartner, wenn er nicht gerade einen seiner ordinären Anfälle hatte, und das bedeutete Gunther mehr, als er sich selbst eingestehen mochte.

      "Das intelligenteste an dir ist deine Frau!" hatte sein eigener Vater zu ihm gesagt, als Gunther seine Familie zum letzten Mal besucht hatte, und das war nun über zwei Jahre her. - Dabei war der Alte selbst eine Niete. Seit Gunther denken konnte, arbeitete sein Vater in der selben Firma als Lagerist. Gunther hatte nach seiner Beförderung schon oft daran gedacht, ihn mal wieder zu besuchen, und ihm zu zeigen, dass er es doch zu etwas gebracht hatte, aber er war noch nicht so weit. Wenn sie das Haus erst hatten, dann würde Gunther seine Familie einladen und er freute sich schon auf die erstaunten Gesichter, wenn er ihnen vorführte, was er sich alles leisten konnte. Und dann: Tschüs ihr Lieben! - Schade, dass ihr in eure piefige Dreizimmerwohnung zurückmüsst!

      Sander war da doch ein ganz anderes Kaliber als sein Vater, fand Gunther. Der Alte hatte es in seiner aktiven Zeit gelernt, sich in allen Kreisen sicher zu bewegen. Er hatte in seinem langen Leben viel gesehen, und er ließ Gunther gern an dem reichen Schatz seiner Erfahrungen teilhaben. Mochten seine Ansichten über Frauen und Partnerschaft auch fragwürdig sein, so wusste er doch viel über das Leben, und in Gunther hatte er einen gläubigen, ja, nahezu ausgehungerten Zuhörer gefunden, der hier endlich einen Weg sah, der Kerl zu werden, der er immer schon hatte sein wollen.

      Julia