Hans J. Muth

Lautlos


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war schließlich in sich zusammengesunken und hatte ihr versprochen, noch einmal über alles nachzudenken.

      Dann fiel ihr noch etwas ein. Während ihres Streits hatte sie geglaubt, eine Bewegung draußen vor dem Wohnzimmerfester wahrgenommen zu haben. Sie hatte der Feststellung jedoch keine Bedeutung beigemessen und außerdem war sie zu sehr in das Gespräch mit Frederik vertieft gewesen, als dass sie sich Gedanken darüber hätte machen können. War es ihr Entführer, der an dem Tag vor dem Fenster ihren Streit beobachtet hatte? Aber es war doch kaum möglich, akustisch etwas wahrzunehmen. Durch die dreifache Verglasung war es für jemanden außerhalb des Hauses eigentlich nicht machbar, etwas vom Inhalt mitzubekommen. Er hat sich an meinem Verhalten orientiert, an meinen Gesten. Sie erschrak. Habe ich mich denn wie eine Furie verhalten?

      Veras Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sie Schritte vor der Tür hörte. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Wieder fiel das grelle Licht in den Raum und blendete Veras Augen. Dann wurde die Gestalt dieser Person sichtbar, die an der Tür stehenblieb und sich nach unten bückte. Vera beobachtete jede der wenigen Bewegungen der vom Lampenschein umfluteten Konturen und war sich sicher: Das ist ein Mann!

      Sie hörte etwas Weiches zu Boden fallen, dann folgte ein scharrendes Geräusch. Der Unbekannte erhob sich und entfernte sich rückwärts von der Tür. Mit ihm verschwand auch die helle Aura hinter seinem Körper und das Schlagen der Tür sagte Vera, dass sie wieder mit der Dunkelheit alleine war.

      Kapitel 11

      Professor Theodor Habermann schien beschlossen zu haben, nicht weiter zu altern. Dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war schon eine Weile her. Nicht in jedem Fall wurde seine Person angefordert, um für unsere Dienststelle eine Leiche zu obduzieren. Heute gab er uns einfach deshalb die Ehre, weil er in der Region zu tun hatte.

      Es war mir ferner kaum möglich, sein Alter zu bestimmen. Vielleicht war er fünfzig, vielleicht auch zehn Jahre älter. Oder zwanzig? Seine hochaufgeschossene, schlanke Figur trug erheblich zu einem jugendlichen Aussehen bei, während sein weißer Menjou-Schnurrbart und seine weißen kurzen Haare dies in die andere Richtung wieder wettmachten. Er war einer jener zeitlosen Typen, die ihr gesamtes Leben über optisch für älter gehalten werden, als sie es tatsächlich sind. Solche Menschen halten offensichtlich auch im fortgeschrittenen Alter ihre Optik über Jahre auf einem Level, zeitlos eben.

      Als ich den Sezierraum im Kellertrakt der Stadtklinik betrat, schlug mir die bekannte Kälte der rund 50 Quadratmeter großen Räumlichkeit entgegen. Mit einem Blick erfassten meine Augen das Inventar, das in den vergangenen Jahren nie erneuert worden war: zwei Seziertische aus blinkendem Metall, in respektvollem Abstand voneinander platziert, ein Ablagetisch an der gegenüberliegenden Wand, ein großer Abfallkorb und ein fahrbarer, metallener Tisch, auf dem zahlreiche Werkzeuge ausgelegt waren, die bei einer Obduktion ihre Verwendung fanden.

      Genau über diesem Tisch stand gebeugt die schlanke Gestalt des Professors, der sich bei meinem Eintreten in die Aufrechte erhob, um dann da zustehen wie ein preußischer Offizier mit dem vielbesagten Stock in der Wirbelsäule.

      Als er mich sah, legte sich ein freudiges Lächeln um seine Lippen, das ich gerne erwiderte. Wir hatten schon mehrere Male das Vergnügen gehabt, miteinander zu arbeiten und Habermann hatte mit seiner preußischen Gewissenhaftigkeit mehrfach zur Klärung von Todesfällen beigetragen.

      Sein Lächeln schwand, nachdem wir uns begrüßt hatten. Er zeigte in Richtung einer der metallenen Tische und ging voran. Ich folgte ihm. Ich erkannte die Tote aus der Mosel. Habermann hatte sie weder zugedeckt noch irgendwelche körperlichen Stellen mit irgendwelchen Tüchern bedeckt. Das war seine Art. Bei einer Obduktion ging es nicht mehr um Scham, das war seine Devise. Es ging um Aufklärung eines Verbrechens, um die Untersuchung eines menschlichen Körpers, nicht um die Untersuchung eines Menschen. Da war Scham nur ein unnützer Hindernisfaktor.

      „Was ist nur los bei euch, hier in dieser doch meist so ruhigen Stadt?“, fragte Habermann und begab sich, ohne auf eine Antwort zu warten, auf die andere Seite des Seziertisches. Ich blieb auf dieser Seite stehen und wartete ab.

      „Ich mache das hier schon einige Jahre“, hörte ich Habermann sagen. „So etwas Perverses ist mir bisher nicht untergekommen. Machen Sie Fotos von der Obduktion?“, fragte er und sah mich abwartend an.

      Ich nickte. „Ja, natürlich, in allen Einzelheiten.“

      „Das ist gut“, erwiderte er. „Mein Gehilfe wird die Prozedur hier auch fotografisch festhalten, aber eben aus anderer Sicht.“

      Dann sah er auf seine Armbanduhr. „Wir müssen noch einige Minuten warten ... er müsste eigentlich schon hier sein. Aber vielleicht wurde er aufgehalten.“

      Sein Gehilfe, Wladimir Paulsen, war nur dann sein Gehilfe, wenn der Professor hier in der Stadt obduzierte. In anderen Städten hatte Habermann andere Gehilfen. Das war so und das war normal. Paulsen war ein beliebter Pfleger in der Stadtklinik und das nicht nur wegen seines freundlichen Auftretens und der jugendhaft anmutenden, lockigen Haarpracht. Er wurde normalerweise bei Obduktionen für diese Zeit von seinen gewohnten Arbeiten freigestellt. Eine entsprechende Ausbildung hatte er durchlaufen und er hatte eine Routine, wie man es sich von einem Obduktionsgehilfen kaum vorstellte. Eigentlich machte er die Arbeit, das Gröbste sozusagen, das Unappetitliche, wenn man bei einer Sektion überhaupt Unterschiede machen kann. Ja, in manchen Fällen vielleicht, bei Wasserleichen oder Toten, die erst längere Zeit nach ihrem Tod aufgefunden wurden. Ansonsten waren es Routine-Tote, deren Obduktionen immer die gleichen Schemata aufwiesen.

      „Wer macht so etwas? Haben Sie einen Täter oder einen Verdacht?“ Habermann holte mich aus seinen Gedanken. Ich verneinte.

      Habermann wies auf das Gesicht der Toten. „Normalerweise bin ich hier für das Nähen zuständig.“ Er schien diese unpassende Bemerkung einzusehen, denn sein Gesicht wurde ernst, als er sagte: „Ich glaube, zur Klärung dieses Falles sollten Sie einen Psychologen zu Rate ziehen. Das ist unglaublich. Aus welchem Motiv heraus hat der Täter wohl gehandelt? Es reichte ihm nicht, die Frau umzubringen. Irgendwie wollte er auch ihre Stimme töten.“

      Er schaute mich fragend an und mir blieb nur ein ratloses Schulterzucken.

      „Ich weiß es nicht. Aber da sind auch Würgemale, oder zumindest Male die auf den Versuch einer Strangulierung hinweisen. Wir glauben, dass die Striemen auch vom Zubinden einer ... Plastiktüte herrühren könnten. Was meinen Sie?“

      „Möglich. Es wäre eine weitere perverse Handlung des Täters. Aber eines, Herr Thalbach, steht fest. Gewürgt wurde sie nicht.“

      Habermann beugte sich zu der Toten und tastete den Halsbereich ab. Dann nickte er.

      „Nein, das sind keine Würgemale. Das sind andere Druckstellen, Hämatome. Sie können recht haben mit ihrer Annahme. Eine Plastiktüte? Wäre möglich. Aber wir sollten endlich beginnen. Wo bleibt er nur?“

      Habermann richtete auf und streckte seinen Rücken nach hinten durch. Er schaute erneut ungeduldig auf die billige Wanduhr auf der kahlen, weißgetünchten Wand. Doch ehe er zu einer weiteren missmutigen Beschwerde ansetzen konnte, öffnete sich die Tür. Herein trat ein Mann, allerdings nicht der, den ich erwartet hatte. Es konnte eigentlich nur der Gehilfe sein, der für die Obduktion abgestellt worden war. Ich hatte ihn noch nie gesehen, im Gegensatz zu Habermann, der anscheinend schon mit ihm zusammengearbeitet hatte.

      „Da sind Sie ja endlich, Kronauer!“, rief Habermann ihm ungehalten zu, doch das schien den Mann nicht zu berühren. Er nickte uns kurz zu, schloss wortlos die Tür hinter sich und begab sich in den kleinen Nebenraum, wo die Möglichkeit bestand, sich für die bevorstehende Tätigkeit umzuziehen. Dieser Nebenraum beinhaltete auch das Telefon und all diejenigen Dinge, die auf Vorrat dort auf ihren Einsatz warteten, beispielsweise Latex-Handschuhe, Kanülen und vieles andere mehr.

      Es dauerte nur wenige Minuten, da erschien der Gehilfe in grüner Rundum-Gummischürze und mit einer grünen Einweghaube auf dem Kopf. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, begab er sich zu dem Seziertisch und hangelte sich mit dem rechten Fuß den fahrbaren