Hans J. Muth

Lautlos


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haben, dass die Frau mit einer Plastiktüte erstickt wurde. Sehen Sie, die Petechien? Entschuldigen Sie, das sind kleine, punktförmige Blutungen, die zuerst in den Augenbindehäuten, dem Weiß des Augapfels und auf den Augenlidern auftreten. Petechien entstehen nicht, wenn der arterielle Blutfluss zum Kopf unterbrochen ist, also bei Erwürgen oder Erhängen. Petechiale Blutungen sind das äußerlich sichtbare Anzeichen für einen Erstickungstod. Ich hoffe, dass Ihnen das nicht allzu fachmännisch war, Herr Thalbach.“

      Habermann lächelte mich verständnisvoll an. „Aber Sie hatten mit Ihrer Vermutung recht. Ich glaube kaum, dass wir Anhaltspunkte für eine andere Todesart finden werden. Ich werde die obligatorischen Untersuchungen durchführen, Sie kennen das ja: Öffnen der Brust und der Bauchdecke und Entnahme von Proben aller Organe. Sie müssen nicht dabeibleiben, falls Wichtiges auf Sie wartet.”

      Er sah mich fragend an.

      Ich nickte. „Ja, ich hätte tatsächlich Wichtiges zu tun. Dies hier wird kein Einzelfall bleiben.” Ich deutete auf die Frau. „Den Täter zu finden, und das so schnell wie möglich, hat Priorität vor Allem.”

      Ich nickte Habermann und Kronauer zu und verließ den Sektionsraum. Ich wartete nicht, bis ich die Dienststelle erreichte, sondern rief Laufenberg an.

      „Gibt es was Neues?”

      „Kann man wohl sagen“, ertönte es mir durch den Lautsprecher des Mobiltelefons entgegen. „Wir wissen nun endlich, wer die Tote ist.“

      Kapitel 12

      Das Herz schlug Frederik Brunner bis zum Hals, als er den Schlüssel in das Schloss seiner Haustür aus eloxiertem Leichtmetall steckte und aufschloss. Sein Haus hatte er vor einigen Jahren am Stadtrand als Bungalow erbauen lassen. Dieser war nicht sehr groß, aber so, dass er seinen Bedürfnissen entsprach und auch denen von Vera und vor allem, dass die Finanzierung sich in einem vertretbaren Rahmen hielt.

      Er drückte die Tür nach innen auf, blieb dann jedoch stehen und lauschte einen Augenblick in die Räumlichkeiten hinein. Jetzt ein Geräusch, Schritte, Atmen oder die Stimme von Vera, und alles wäre wieder gut gewesen. Alle sorgenvollen Stunden, die hinter ihm lagen, wären vergessen. Er würde sie in die Arme schließen und sie nicht mehr loslassen.

      Er neigte den Kopf nach vorne, als verstärke sich dadurch die Möglichkeit, Geräusche wahrzunehmen. Er hielt den Atem an.

      Es blieb still. Außer dem Klopfen seines Herzens war da nichts. Er schloss langsam die Tür hinter sich und ging bedächtig die schmale Diele entlang, vorbei an den geschlossenen Türen des Baderaums, seines Büros und des Abstellraums. Er achtete nicht darauf, ob sich dahinter Vera befand. Die letzte Tür des Flurs hatte ihn in seinen Bann gezogen und plötzlich ging sein Atem schneller. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

      Unter der Tür schimmerte es gelblich hindurch. Die Beleuchtung in der Küche brannte. Brunner kam es nicht in den Sinn, dass es noch später Nachmittag und daher draußen keineswegs dunkel war. Er sah nur das Licht.

      Vera! Sie ist zuhause!

      „Vera!“

      Sein Ruf verhallte ungehört und Nachdenklichkeit ergriff von Brunner Besitz.

      „Vera!“ Er rief es ein zweites Mal, dann stieß er die Tür zur Küche auf.

      Die Deckenbeleuchtung brannte. Der Rollladen des Fensters war herabgelassen. Es war niemand im Raum.

      Brunner trat ein und sah sich um. Es war alles so, wie es an jedem Tag war. Er drehte sich im Kreis. Alles schien an seinem Ort zu sein. Und doch war es nicht wie sonst. Das Licht brannte, der Rollladen war verschlossen. Tagsüber!

      Das war anders als sonst.

      Warum hat Vera das getan? Ist sie doch im Haus?

      Der Bungalow hatte ja keine zweite Etage und auch keinen Keller, nur ein Schuppen stand hinter dem Haus. Dort hatte er seine Gartengerätschaften abgestellt. Einen Raum gab es noch. Das Wohnzimmer.

      Er durchquerte die Küche und streckte die Hand nach der Türklinke zum Wohnzimmer aus, da sah er es. Die Türen der Schränke standen offen, einige Schubladen waren halb geöffnet. Doch es gab keine Unordnung. Nichts war auf dem Fußboden verstreut, keine Bücher oder Akten aus den Regalen gerissen, nichts. Nur die Türen und einige Schubladen waren geöffnet.

      „Vera!“, rief Brunner erneut und hastete durch den Raum, schaute hinter die Sesselgarnitur, warf einen Blick in das integrierte Esszimmer.

      Vera war nicht da.

      Das Schlafzimmer! Vielleicht hatte sie sich etwas hingelegt. Er durchquerte das Wohnzimmer, eilte durch den Flur und blieb kurz vor der Schlafzimmertür stehen. Er atmete tief ein, dann drückte er die Klinke der Tür hinunter.

      Der Raum war dunkel. Er schaltete die Beleuchtung ein. Auch hier waren die Rollläden herabgelassen.

      Warum, am hellen Tag?, fragte er sich und sah sich um. Wiederum standen die Schränke offen und als Brunner an den Kleiderschrank trat, stellte er mit einem Blick fest, dass Kleidungsstücke fehlten. Er ging die noch vorhandenen mit seinen Blicken durch und wusste sofort, welche Dinge da fehlten. Ein Sommermantel, mehrere Kleider und ein Koffer, dessen war er sich sicher. Welche Wäsche genau fehlte, konnte er nicht sagen, nur dass sie teils fehlen musste, denn die Schubladen, wo Vera diese Dinge aufbewahrte, standen offen.

      Was ist hier los?

      Brunner stand fassungslos im Raum.

      Vera, was hast du getan? Warum?

      Er dachte an die Anspielung des Kriminalbeamten. Er konnte es nicht glauben. Sie hatte doch keinen Grund, ihn zu verlassen, und wenn sie es tatsächlich getan hatte, woran er mit jeder Faser seines Herzens zweifelte, sie hätte es nicht getan, ohne es ihm ins Gesicht zu sagen. Nein, sie wäre nie so davongelaufen. Aber wieso stand er dann hier in ihrem gemeinsamen Heim und stellte alle diese Dinge fest, die für das Gegenteil sprachen? Die Tür war ordnungsgemäß verschlossen gewesen, also war niemand eingebrochen. Vera führte immer einen Hausschlüssel mit sich, wenn sie das Haus verließ. Also gab es eigentlich keine andere Möglichkeit als die, dass ihn seine Frau verlassen hatte.

      Nein! Vera hat mich nicht verlassen!

      Nein, nein, nein! Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Er überlegte fieberhaft. Wie konnte er die Wahrheit herausfinden? Brunner sah sich hektisch im Raum um, lief ins Wohnzimmer, ließ seine Blicke durch den Raum schweifen. Auch in die Küche und die restlichen Räume des Hauses schaute er. Irgendetwas musste es doch geben, das ihm weiterhalf.

      Er lief zurück ins Schlafzimmer. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Seine Gedanken überschlugen sich.

      Dann wusste er es.

      Das Foto!

      Es war eigentlich kein Foto, es war vielmehr eine Ultraschall-Aufnahme. Sie zeigte ihr ungeborenes Baby im Mutterleib. Franzi. Sie hatten ihr, obwohl sie eine Totgeburt war, einen Namen gegeben, denn beide wollten das Andenken an das Liebste, das nie das Licht der Welt erblickt hatte, immer in ihrem Herzen tragen. Die Aufnahme und der Name würden die Erinnerung an ihre Tochter ein Leben lang gegenwärtig lassen.

      Brunner atmete schwer bei dem Gedanken an Franzi, schließlich begann er zu suchen. Wenn Vera ihn verlassen hatte, würde sie die Aufnahme mitgenommen haben. Dieses Ultraschallbild würde sie niemals zurücklassen. Sollte er die Aufnahme finden, konnte er auch mit Bestimmtheit sagen, dass Vera ihn nicht verlassen hatte.

      Wo hatte Vera die Aufnahme abgelegt? Sie trug sie nie mit sich, die Angst vor dem Verschleiß im Laufe der Zeit war zu groß. Vera vergaß die Aufnahme beim Start in den Urlaub oder bei irgendeiner sonstigen längeren Abwesenheit nie. Wenn das Bild also nicht mehr aufzufinden war … oh, Gott, er wagte nicht, darüber nachzudenken … hatte ihn seine Frau wirklich verlassen. Dann war sie mitsamt der Aufnahme von ihm gegangen, ohne eine Erklärung.

      Nein, das hat sie nicht getan. Ich muss dieses Bild finden! Ich muss wissen, was hier los ist!

      Brunner