durchfuhren Grevesmühlen. Einige Fahrzeuge, sie wurden meist von Farbigen gesteuert, machten in den Anlagen vor dem Bahnhof halt und richteten sich dort erst mal ein.
Einige Tage später, es herrschte Anfang Mai 1945 schon eine große Hitze, marschierten endlose Kolonnen gefangener deutscher Soldaten durch Grevesmühlen. Sie waren so durstig und völlig verschwitzt, aber es war uns Anwohnern nicht erlaubt, ihnen etwas zu trinken zu geben. Am Stadtrand von Grevesmühlen wurde beim Vielbecker See ein riesiges Gefangenenlager eingerichtet. Von der Zivilbevölkerung durfte niemand in die Nähe kommen, die Amerikaner schossen sofort. Im Lager muss sich Grausames abgespielt haben, die Gefangenen lagen auf dem nackten Boden, bald hatten sie sich Erdlöcher gewühlt. Nach einiger Zeit wurden die Gefangenen weiter westwärts nach Schleswig-Holstein gebracht. Der Hang am Vielbecker See hat Jahre gebraucht, um wieder grün zu werden.
Ende Mai brach eine schreckliche Typhusepidemie aus, die den ganzen Sommer über wütete. Fast in jedem Haus waren Erkrankte. Viele Menschen erlagen dieser schlimmen Krankheit, auch junge nahe Bekannte aus der Nachbarschaft, mit denen ich gespielt hatte.
Einige Wochen später lösten britische Besatzer die Amerikaner ab und am 30. Juni 1945 ging die Schreckenskunde von Mund zu Mund: Die Russen kommen! Es wurde eine Ausgangssperre verhängt. Wir liefen im Haus von einem Fenster zum anderen und wollten sehen, was sich draußen abspielte. Das Wohnzimmer der Familie Tanger war wieder frei: Die Krankenschwestern waren plötzlich verschwunden. Dort hatten wir nun einen freien Logenplatz und konnten die Straße übersehen. Am Nachmittag tauchten dann plötzlich Pferdewagen auf, hochbeladen mit Kriegsbeute, sogar Spülklosetts waren angebunden! Die Russen marschierten nebenher. Der ganze lange Tross bewegte sich in Richtung Waldesrand. Nun war die Straße leer, und wir Kinder drückten uns an der Fensterscheibe unsere Nasen platt. Plötzlich kam ein einzelner Russe anmarschiert und steuerte genau auf unser Haus zu. Wir waren alle furchtbar erschrocken. Meine Mutter, so couragiert sie war, ging als einzige an die Haustür. Der Russe trat in den kleinen Flur, drückte meiner Mutter ein Bündel in die Hand und machte eine Bewegung, die hieß, sie solle die Wäsche waschen. Dann verschwand er wieder. Na ja, ich nehme an, die Frauen haben sich angestrengt, alles sauber zu bekommen. Am Abend des nächsten Tages kam der Russe jedenfalls wieder, um seine Sachen abzuholen. Er brachte einen Klumpen in Zeitung gewickelte Butter als Lohn mit. Wir waren alle sprachlos. Diesen Russen haben wir nie wiedergesehen. Dafür lernten wir andere Russen kennen, die uns Kinder immer nett behandelten und uns sogar manchmal Essen gaben. So lernte ich damals das russische Brot kennen, das so feucht und klebrig war, dass man es trocken essen konnte. Einige Russen konnten etwas deutsch sprechen, sie stammten meist aus der Ukraine. Sie erzählten uns von ihrem Zuhause. Manchmal weinten die ganz jungen Soldaten auch, sicher hatten sie Heimweh. Es kam auch noch vereinzelt zu Übergriffen und Vergewaltigungen an der deutschen Zivilbevölkerung, aber das waren im Juli 1945 schon Ausnahmen.
https://sites.google.com/site/zeitzeugen1945/schicksale-1945/stettin-im-bombenkrieg
Flucht per Treck aus Zoldekow / Hinterpommern
Friedrich Meyer berichtet:
Dieser Treckbericht wurde im Sommer 1945 an Hand von Tagebuchaufzeichnungen geschrieben.
„Labes wurde gestern von den Russen besetzt. Bei Stargordt stehen Panzerspitzen im Kampf mit unseren Nachhuten. Bei Pyritz und Stargard scheint die Lage etwas gefestigt. Zwischen Reetz und Märkisch-Friedland, im Raume Kallies, sind vor zwei Tagen stärkere russische Kräfte durchgebrochen, die in Richtung Schievelbein-Regenwalde vordringen.“
Oberleutnant Werner, der Kommandeur des dem Brückenkopf Dievenow vorgelagerten kleinen Stützpunktes Raddack, sagt es in seiner knappen, nüchternen Art auf meine Frage nach der militärischen Lage am Vormittag des 3. März 1945.
„Ist etwas bekannt von Gegenmaßnahmen auf unserer Seite?“ „Nein! Aber es ist kaum anzunehmen, dass wir über genügend Kräfte dazu verfügen..“
„Das bedeutet also die Aufgabe von Ostpommern bis an die Dievenow?!“
„Ja! Wir haben den Befehl, uns auf die Brückenkopfstellung Dievenow zurückzuziehen und die Front im Abschnitt Kalkberg zu verstärken.“
Ich verabschiede mich von dem wackeren Offizier und guten Nachbarn, um möglichst schnell nach Hause, nach Zoldekow zurückzufahren. Wie lange wird es noch unser Zuhause sein? Die militärische Lage hat sich nach dem Durchbruch der Russen bei Kallies für uns bedrohlich zugespitzt! Es muss schnell gehandelt werden, wenn das Leben der mir anvertrauten 100 Familien gerettet werden soll. Der treue Kutscher Johannes, wortkarg wie alle Pommern, fragt mich, ob wir bald trecken müssen. Ich erzähle ihm, was ich soeben in Raddack gehört habe. Er treibt wortlos die Braunen zur Eile an.
Bald kommt Zoldekow in Sicht. In der Märzsonne leuchtet der braune Lehmboden des Schilfberges, gekrönt vom dunklen Schatten des Parks. Auf Schlag I fahren die Gespanne Dung. Es geht noch alles ganz friedensmäßig zu. Auf der Straße ziehen Treckfahrzeuge aus dem Osten. Ein gewohntes Bild seit Wochen. Ich halte beim Statthalter Potratz an.
„Wir müssen aufhören mit Dungfahren! Alle Wagen in Ordnung bringen. Pferdebeschlag nachsehen! Wir müssen packen und unseren Treck vorbereiten!“ Im Dorf verbreitet sich mein Befehl mit Windeseile. Ein geschäftiges Treiben beginnt. Es ist aus mit der Ruhe und Beschaulichkeit. Der unerbittliche Krieg bricht in den Frieden des pommerschen Gutsdorfes ein.
Zu Hause gleichfalls bange Fragen, klare und eindeutige Antworten und Anordnungen.
Das Telefon klingelt. Der Amtsvorsteher in Groß-Justin will von mir die letzten Nachrichten über die militärische Lage wissen. Er ist selbst ohne Nachrichten aus der Kreisstadt Cammin. Ich berichte ihm das in Raddack Gehörte und vereinbare, dass Sonntag, der 4. März dazu benutzt werden soll, alles für den Treck vorzubereiten. Ab 18 Uhr soll alles treckbereit sein. Wir wollen dann den Treckbefehl der Kreisleitung abwarten. Falls die militärische Lage es aber erforderlich macht, wollen wir auf eigene Verantwortung den Treckbefehl geben.
Nach kurzer Mittagsrast muss ich auf den Nachbarbetrieb Schwenz. Auch dort wird Treckbereitschaft angeordnet. Die Treckstraße für Schwenz führt über Cammin. Ich vereinbare mit den zu Treckführern ernannten Volksstürmern, dass der Schwenzer Treck sich an den Zoldekower Treck anschließen soll, da es mir fraglich erscheint, dass der Treckbefehl früh genug erteilt wird, um die Straße über Cammin noch passieren zu können. Da der Moorweg aufgeweicht ist, soll der Raupenschlepper die Fahrzeuge durchziehen.
Zurück nach Zoldekow! Auf der Straße, die von Groß-Justin über Zoldekow nach Stresow führt, rollen in endloser Reihe Treckfahrzeuge. Leute aus Ostpreußen und dem Warthegau, die teilweise schon seit Mitte Januar unterwegs sind. Seit Wochen kommen sie bei uns bereits durch. Jeden Abend haben wir Pferde und durchfrorene, hungrige Menschen untergebracht und verpflegt. In den Strom dieser großen Völkerwanderung werden wir nun selber hineingerissen, erbarmungslos und ohne Gnade. Auch heute wieder sind lange Reihen von Treckfahrzeugen auf dem Gutshof aufgefahren. Die Pferde stehen in der Heu-Scheune und fressen sich in die großen Heubansen hinein. Auch für die hungrigen Menschen ist wieder gesorgt. Werden wir auf unserer Flucht auch immer ein freundliches Quartier bekommen?
Es wartet noch eine Fülle Arbeit auf mich. Die einzelnen Familien werden auf die Fahrzeuge verteilt, Pferde und Fahrer bestimmt, Sonderwünsche nach Möglichkeit erfüllt, Zank und Streit geschlichtet. Zwischendurch klingelt immer wieder das Telefon. Freunde und Bekannte aus der Nachbarschaft wollen Neues wissen; sie werden unterrichtet und gewarnt. Die Gutsfrau des Nachbarbetriebes, deren Mann an der Front steht, wird verständigt, das vereinbarte Stichwort gegeben.
Für jeden Einzeltreck wird ein