Jürgen Ruszkowski

Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern


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ist jetzt 9 Jahre alt. Wir sitzen mit unserer Mutter am Esstisch im Wohnzimmer. Plötzlich heulen die Sirenen, und der schreckliche Panzeralarm verbreitet die höchste Gefahrmeldung über unserer Heimatstadt Köslin. Das Geburtstagskind stößt vehement unter lautem entsetzlichem Weinen den Satz hervor: „Mama, die Russen kommen.“ Dadurch springt die Angst auch in mich hinein. Ich bin erst sechseinhalb Jahre alt und weiß noch nicht, was ein Krieg bedeutet. Aber der bisweilen auch nächtliche Fliegeralarm gehört selbstverständlich zu unserem Leben. Im grauen Luftschutzkeller ist es sehr kalt. Ich friere sogar in meinem Wintermantel. Unsere Mutter liegt im Wochenbett. Am 18. Februar hat die Hebamme sie von einem gesunden Mädchen in unserer Wohnung entbunden. Jetzt bin ich nicht mehr das Nesthäkchen. Am 1. März sitzt unsere Mutter schon wieder an der Nähmaschine, und in Eile näht sie einen Brustbeutel aus weißem Stoff für die wichtigen Papiere. Einen Tag später konsultiert sie unseren vertrauten Hausarzt, der sie mit folgenden Worten zur Tür begleitet: „Frau Mieck, es geht noch ein letzter Zug aus Köslin heraus, danach werden alle Brücken gesprengt. Die Russen sind schon im Gollenwald und haben eine totale Übersicht über die ganze Stadt. Gehen sie mit ihren fünf Kindern sofort auf die Flucht!“ „Aber Herr Dr. Schweinitz, ich konnte doch nicht eher, weil ich im Wochenbett lag.“ Mein aus brauner Presspappe gefertigter Tornister ist mit Strümpfen vollgepackt. Zwei Wintermäntel trage ich übereinander. So bin ich gut vor der bitteren Kälte, die Anfang März 1945 noch in Hinterpommern herrscht, geschützt. In meinem Puppenwagen, den ich erst 1944 zu Weihnachten geschenkt bekam, liegt mein erst 12 Tage altes Schwesterchen, und es schläft fast immer. Meine Mutter drückt mir noch eine Milchkanne in die Hand, deren Inhalt ich aber nicht mehr benennen kann. Der älteste Bruder kann schon zwei Koffer tragen. Er ist die Stütze der Mutter auf der langen dramatischen Flucht in den Westen. Die beiden anderen Brüder tragen auch kleinere Gepäckstücke, jeder nach seinen Kräften. Menschen in großer Ansammlung drängen auf den Bahnhofsvorplatz von Köslin.

      Ich habe bisher noch niemals so viele Menschen dicht beieinander stehen gesehen. Ein Güterzug nimmt unsere sechs jungen kostbaren Leben in seine fahrbare schützende Obhut auf. Wir sitzen dicht beieinander auf Stroh oder einem Gepäckstück. Es fällt kaum Tageslicht in den Viehwaggon. Meine Mutter wärmt über einer Kerze das Milchfläschchen für unseren kleinen Säugling. Der langsam sich fortbewegende Zug braucht für die nur etwa 40 km bis nach Kolberg einige Tage, weil die Einfahrten nach Kolberg, das bereits von den sowjetischen und polnischen Verbänden eingeschlossen ist, von mehreren Seiten her mit vielen Flüchtlingszügen verstopft sind. So bleibt der Zug manchmal plötzlich auf freier Strecke lange stehen. Und wir wissen nicht, wann er seine Fahrt fortsetzt. Ein alter Mann hebt mich aus der Enge der hockenden Menschen aus dem Dunkel des Zuges heraus. Draußen im Tageslicht im Freien erledige ich unter schrecklicher Angst, der Zug könnte ohne mich weiterfahren, mein menschliches Bedürfnis. Feindliche Flieger beherrschen den Luftraum.

      In dem unter Artilleriebeschuss liegenden Kolberg bekommen wir in einem großen dunklen Bunker Unterschlupf. Total übermüdete alte Männer, Frauen und Kinder sitzen gebeugt auf Stühlen, lassen zeitweise ihre Köpfe auf die Tische sinken. Auf manchen Tischen erhellt ein Hindenburglicht das angstvolle Dunkel. Ein fremder alter Mann rüttelt meine eingenickte Mutter am Arm mit den Worten: „Sind sie meine Frau?“ Später werden die Namen von zwei Kindern von einem Uniformierten aufgerufen. Ihre Mutter hat die Nerven verloren, sich die Pulsadern aufgeschnitten und ist in die eiskalte Ostsee gelaufen. Die mutterlosen Kinder werden aus dem Bunker herausgeholt. Und in meiner jungen Kinderseele spüre ich immer mehr Angst. Den dunklen kalten Bunker hinter uns lassend, sehen unsere Augen endlich wieder helles Tageslicht.

      Um den vorrückenden feindlichen Truppen zu entfliehen, gibt es nur noch den Wasserweg. Weil wir ein Neugeborenes mit uns tragen, werden wir bevorzugt auf einem Rheindampfer vom Kolberger Hafen aus mitgenommen. Der Kapitän überlässt unserer tapferen Mutter und uns fünf Kindern seine eigene Kajüte. Die große Bodenvase nimmt die Folgen unserer unübersehbaren Übelkeit klaglos auf. Nur meine kleine Schwester muss sich nicht übergeben. Sie liegt am Fußende der Liege, auf der Mutter und ich Platz haben. Meine drei älteren Brüder treibt die Neugierde auf das Deck des Rheindampfers, der kaum dem hohen Wellengang der Ostsee gewachsen ist. Sie haben vor Entsetzen weit aufgerissene Augen, als sie wieder zu uns in die warme Kapitänskajüte kommen. „Mama, die vielen Flüchtlinge auf den kleinen Fischkuttern ertrinken alle in der kalten Ostsee.“ „Legt euch auf den Fußboden und versucht etwas zu schlafen.“ Am nächsten Morgen breitet sich ein neuer entsetzlicher Satz wie ein schnelles Feuer auf dem Dampfer aus: „In der Dunkelheit der Nacht wären wir fast auf eine Mine gelaufen. Aber unser Kapitän hat glücklicherweise nahe der Küste Schutz gesucht.“ Wir sind wieder einmal mit dem Leben davon gekommen.

      Im Hafen von Swinemünde verlassen wir den Rheindampfer. Wir stehen am Kai, Menschen wie Trauben dicht gedrängt. Vielleicht gibt uns die Menschenansammlung etwas Wärme und Geborgenheit? Plötzlich fliegen Splitter von Artilleriegeschützen in die wartende Menschenmenge. Instinktiv ducken wir uns vor Schreck. Unversehrt stehen wir etwas später in einer Schlange von Flüchtenden vor einem stehenden Lazarettzug. Wieder rettet uns unser neugeborenes Schwesterchen. Wir finden in dem geheizten Zug Aufnahme. In zahlreichen Doppelstockbetten liegen verwundete Soldaten. Ein Arzt kümmert sich um die an der Front stark verletzten Männer. Meine Kinderaugen sehen ungewollt den blutdurchtränkten Kopfverband eines jungen Mannes. Im hellen Tageslicht des Zugfensters wechselt der Arzt den Verband. Der Soldat hat nur noch ein Auge. Ich flüchte mich schnell in die körperliche Nähe meiner Mutter, die mit dem Windelwechseln beschäftigt ist. Mittags gibt es zum Nachtisch Erdbeeren aus der Dose. Ein schwacher Trost, für das, was ich ohne zu weinen still ertrage. Etwa am 9. März fährt der Lazarettzug in den Bahnhof von Flensburg ein. Mit unseren wenigen Habseligkeiten verlassen wir den Zug, in dem wir Schutz, Wärme, ein Bett und auch Verpflegung bekommen haben. Dem verheerenden amerikanischen Bombenangriff am 12. März auf die Hafenstadt Swinemünde, sind wir nur knapp entkommen. 22.000 Menschen, zum größten Teil Flüchtlinge, sollen hier den Tod gefunden haben.

      In einem sogenannten Auffanglager landen wir in einem Saal, in dem zahlreiche Doppelstockbetten stehen. Auf den Betten liegen dünne Decken, die uns nicht vor der Kälte ausreichend schützen können. Vor Erschöpfung schlafe ich zunächst ein. Aber ich bibbere am ganzen Körper, werde immer wieder wach. Schließlich klettere ich aus dem hohen ungewohnten Bettgestell und setze mich zu den anderen Frierenden, die dicht um den kleinen Kanonenofen herum auf Bretterstühlen sitzen. Wir warten tagelang, nächtelang. Worauf warten wir? Wir möchten endlich ankommen an einem Ort, an dem es uns besser geht. Wir sehnen uns nach einer warmen Stube, einem Bett in dem man auch schlafen kann und einer sättigenden Mahlzeit. Wann hat diese grausame Flucht endlich ein Ende?

      Unververhofft werden dann unsere Namen, die auf einer Liste stehen, aufgerufen. Die Kleinbahn befördert uns von Flensburg bis in den kleinen Ort Gelting, der 30 km entfernt, nahe der Flensburger Förde liegt. Auf dem Sammelplatz wird wieder unser Familienname aufgerufen. Ein alter Bauer, mit einem Hut auf dem Kopf, steht mit seinem Pferdegespann vor dem Bahnhof. Er hat ein mürrisches Gesicht und ist wortkarg. Ich spüre, dass er uns nicht gerne mitnimmt. Das ist meine erste Fahrt auf einem Pferdewagen. Wir fahren bis auf seinen großen prächtigen Hof.

      In dem schmucken Bauernhaus bekommen wir zwei möblierte Zimmer zugewiesen. Für diese Strecke von Köslin bis Gelting, etwa 600 Kilometer Entfernung, haben wir 9 Tage gebraucht. - Endlich haben meine kleinen Füße wieder Bodenberührung. Ich laufe in Freiheit über den fremden Hof, atme wieder frische Luft und sehe den schönen blauen Märzhimmel.

      Monica Maria Mieck mit ihrer Mutter und kleinen Schwester ein Jahr nach der Flucht

      https://sites.google.com/site/zeitzeugen1945/flucht-1945/flucht-aus-koeslin

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