Christine Lamberty

Angie: Es geschah auf dem Heimweg


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Sie fragte sich: „Wie wird es hier werden?“ Fest klammerte sie sich an ihren Teddy, die einzige Verbindung aus ihrem alten Leben. Mit einem tiefen Seufzer schlief sie ein.

      Zur gleichen Zeit saßen ihre Eltern im Wohnzimmer. „Prosit Helen! Jetzt, wo Angie bei uns ist, sind wir komplett. Wir können Stolz sein auf das, was wir in den paar Jahren erreichten. Du siehst, harte Arbeit zahlt sich aus.“ „Nicht nur! Oder hast du die Hilfe meiner Eltern vergessen? Ohne sie wären wir noch lange nicht soweit.“ „Was ist los mit dir? Warum bist du so nachdenklich?“ „Entschuldige Richard, selbstverständlich bin ich glücklich über unseren Erfolg, aber ich frage mich, wie Angie empfindet. Sie wirkte den ganzen Tag in sich gekehrt und traurig. Hast du das nicht bemerkt?“ „Mach dich nicht unnötig verrückt. Du wirst sehen, sie lebt sich schneller ein, als du denkst. Außerdem fängt bald die Schule an, dort wird sie eine Menge neuer Freundinnen finden. Bis dahin fällt uns sicher einiges ein, gemeinsam die Zeit zu gestalten. Schluss jetzt, mit den düsteren Gedanken. Es gibt Besseres, den Abend zu verbringen.“ Dann nahm er sie in den Arm, und sie küssten sich innig.

      Ihre Eltern bemühten sich sehr, damit Angie sich schnell an die neue Umgebung gewöhnte. Frau Möller verkürzte ihre Arbeitszeit, um für Angie da zu sein. Bereits am ersten Tag erkannte sie schmerzhaft, wie wenig sie von ihrer Tochter wusste. Sie sah von ihrer Zeitung auf, während Angie zögernd die Küche betrat. „Guten Morgen, ist etwas passiert? Du siehst so schreckhaft aus?“ „Als ich aufwachte, vergaß ich für einen Moment, wo ich war. Anschließend fand ich die Küche nicht sofort.“ „Komm, setzt dich zu mir. Soll ich dir ein Brot schmieren oder machst du das schon selber? Was möchtest du? Käse, Wurst, Kaffe?“ „Oma hat mir meistens Grießbrei und Kakao gekocht, Marmeladenbrote mag ich auch.“ Die Unwissenheit, was ihre Tochter morgens am liebsten aß, gaben ihr einen Stich ins Herz. Sie zweifelte, ob sie sich damals richtig entschieden hatte, Angie in den ersten Jahren bei ihren Eltern zu lassen. Sie nimmt sich vor, in Zukunft mehr um Angie zu kümmern.

      In den folgenden Wochen rissen die Besuche und Einladungen nicht ab. Angie lernte so viele Leute kennen, dass es ihr schwerfiel, sich alle Namen zu merken. Die Wochenenden verbrachten sie meistens mit Freunden und deren Kinder. Manchmal fuhr sie mit ihrer Mutter nach München und wurde von einer Kinderboutique zur nächsten geschleift. Sie taumelte in einen Zwiespalt zwischen Freude und Traurigkeit. Einerseits freute sie sich über die schönen Dinge, die ihre Eltern ihr kauften, anderseits machte es sie traurig, dass sie nie etwas alleine unternahmen. Immer waren irgendwelche Leute zugegen. Mit ihrem Großvater spielte sie abends öfters „Mensch ärgere dich nicht“, das gefiel ihr. Leider lag dieses beschauliche Leben hinter ihr. Sie hoffte das sich mit Beginn der Schule einiges änderte.

      Am Tage der Einschulung strahlte Angie über das ganze Gesicht. Zu ihrer Überraschung standen am Morgen die Großeltern vor der Tür. Ihr Jubelschrei tönte durch alle Ecken des Hauses. Mit einer riesigen Schultüte im Arm, eingerahmt von ihrer Familie, betraten sie den Festsaal der Schule. Im Anschluss der Feier wurden die Schüler ihren Klassen zugewiesen. Neben Angie saß ein Mädchen namens Stella. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu dicken Zöpfen geflochten, und tiefbraune Augen schauten Angie freundlich an. Beide waren sich sofort sympathisch und legten an diesem Tag den Grundstein für ihre Freundschaft. Ihre Klassenlehrerin Frau Kumbrow stellte sich vor. In ihrem blauen Kostüm und straff zurückgekämmten Haaren, die in einem Knoten endeten, wirkte sie auf den ersten Blick streng und unnahbar. Ihre Augen jedoch blickten warmherzig und gütig. Angie verglich sie mit Frau Keller. Beim näheren Betrachten war sie der gleiche mütterliche Typ. Der erste Schultag endete mit dem Verteilen der Stundenpläne. Beim Mittagessen pochte Angies Herz wie wild und sie brachte vor Aufregung keinen Bissen herunter. Ihre Augen wanderten abwechselnd zwischen ihren Eltern und Großeltern hin und her. Es war der glücklichste Tag in ihrem Leben und zum ersten Mal fühlte sie sich hier zu Hause.

      Mit zunehmendem beruflichen Erfolg ihrer Eltern veränderte sich ihr Familienleben gewaltig. Kurze Zeit nach Angies Einschulung widmete sich Frau Möller wieder ganz ihrer Arbeit und eröffnete innerhalb eines Jahres zwei Edelboutiquen. Wenn sie nicht in ihren Geschäften arbeitete, hetzte sie von einer Modenschau oder Modemesse zur nächsten.

      Herr Möller, nicht minder erfolgreich mit eigener Immobilienfirma in München, beteiligte sich gleichzeitig an einigen ausländischen Maklerbüros. Aus diesem Grunde saß er zeitweise mehr im Flugzeug, als zu Hause. Der Erfolg forderte eine Menge geschäftliche Verpflichtungen, die sich, ohne dass sie es merkten, in ihr Privatleben einschlichen. Sie luden ein oder wurden eingeladen und ließen sich überall dort sehen, wo es ihrem Vorteil diente. Neue Mitgliedschaften in angesagten Klubs öffnete ihnen Türen. Sie liebten diese Art zu leben. Ihre Vorsätze, sich mehr um Angie zu kümmern, verblassten. Natürlich liebten sie Ihre Tochter, gaben ihr alles und nahmen sie zu vielen Veranstaltungen mit. Leider bemerkten sie nicht, dass Angie unglücklich war. So wuchs Angie ohne Geldsorgen, aber auch ohne die Elternliebe auf, die sie sich wünschte. Durch diesen Umstand entwickelte sich Frau Keller, im Laufe der Jahre, zu Angies Ersatzmutter.

      Der Wunsch, eigene Kinder zu bekommen, blieb leider unerfüllt. Umso dankbarer nahm sie das Angebot der Möllers an, sich um Angie und den Haushalt zu kümmern. Ihrem Mann boten sie ebenfalls eine Tätigkeit an. Er erledigte kleine Reparaturen im Haus und hielt den Garten instand. Beide waren glücklich, diese Beschäftigung gefunden zu haben, zumal sie in der Nähe wohnten.

      Die Schule bereitete Angie von Anfang an keine Mühe. Alle Aufgaben erledigte sie mit leichter Hand, zählte schnell zu den Klassenbesten und war beliebt bei ihren Mitschülerinnen. Trotzdem verhielt sie sich zurückhaltend. Die beste und einzige Freundin blieb Stella. Nach der Schule verbrachte sie öfters die Zeit bei ihr zu Hause. Stellas Eltern arbeiteten beide als Rechtsanwalt. Ihre Kanzlei befand sich praktischerweise im Untergeschoss ihres Hauses. Durch diese Gegebenheit, bewältigte Frau Hermann den Haushalt und kümmerte sich gleichzeitig um ihre Tochter. Sie pflegten ein ausgesprochen harmonisches Familienleben. Angie fühlte sich dort sehr wohl, abgesehen davon, lag ihr Elternhaus nur fünfzehn Minuten Fußweg entfernt. Diesen Weg waren beide Mädchen schon hundertmal gegangen. Am heutigen Nachmittag wurde er Angie zum Verhängnis, welches ihr zukünftiges Leben verändert.

      2

      Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick wanderte durch den Raum. „Wo bin ich?“ „Willkommen zurück im Leben.“ Eine weiß gekleidete Frau beugte sich über sie und sagte: „Ich rufe den Arzt.“ „Arzt! Warum?“

      Wenige Minuten später tastete der Arzt nach ihrem Puls und legte eine Hand an ihre Stirn. „Wie fühlst du dich?“ „Meine Beine sind so schwer und mein Brustkorb schmerzt.“ „Das kommt von dem Gips. Deine beiden Beine sind gebrochen und einige Rippen gequetscht. Du hast uns einen großen Schrecken eingejagt. Vor zwei Tagen wurdest du schwer verletzt hier eingeliefert. Wir vermuteten, dass du Opfer eines Autounfalls mit Fahrerflucht wurdest. Bei weiteren Untersuchungen stellten wir Verletzungen im Genitalbereich fest, die auf ein Gewaltverbrechen schließen. Zum Glück fanden dich zwei Jogger rechtzeitig. Erinnerst du dich an irgendetwas?“ „Nein, an gar nichts.“ „Zerbreche dir nicht den Kopf darüber. Das Wichtigste im Moment ist absolute Ruhe, damit du gesund wirst. Deine Mutter darf dich kurz sehen.“ Erstaunt blickte Angie den Arzt an: „Ist sie hier?“

      Leise betrat Frau Möller das Krankenzimmer. Angie erschrak, so blass hatte sie ihre Mutter noch nie gesehen. Sorgte sie sich etwa wegen ihr? Frau Möller setzte sich neben ihrem Bett auf einen Stuhl und hielt ihre Hand. Ein Gefühl von Wärme durchströmte Angie. Keiner sagte ein Wort, beide wollte den ungewohnten Augenblick festhalten. Minuten später fielen Angie die Augen zu. Die Schmerzmittel taten ihre Wirkung.

      Überwältigt von dem Anblick ihrer Tochter, stand Frau Möller im Flur des Krankenhauses und versuchte ihre Tränen zurückzuhalten. Zwei Polizeibeamte sprachen sie an. Der Ältere reichte ihr die Hand und stellte sich als Hauptkommissar Burger vor. „Wie geht es ihrer Tochter? Wann können wir ihr einige Fragen stellen?“ „Was erwarten sie! Meine Tochter hat gerade das Bewusstsein wiedererlangt.“ „Wir möchten sie nicht bedrängen, aber eine schnelle Aufklärung des Falls dürfte auch in ihrem Sinne sein. Es gibt keine Anhaltspunkte. Die einzigen Informationen, welche uns die Ärzte mitteilten, betrafen die