Christine Lamberty

Angie: Es geschah auf dem Heimweg


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zu verändern. In einer Modezeitung fand sie die nötigen Tipps. Wie die Kleidung, entnahm sie auch einige Schminksachen aus dem Kosmetikkoffer ihrer Mutter. Außer an Karneval hatte Angie sich noch nie geschminkt. Überraschenderweise bereitet es ihr keine Mühe. Zum Schluss machte sie sich daran ihre Haare zu stylen. Aus praktischen Gründen band sie ihre hellblonden lockigen Haare immer zu einem Pferdeschwanz zusammen. Deswegen hänselte man sie in der Schule häufig, weil sie noch kein Interesse an modischen Dingen zeigte. Heute wollte sie reifer wirken und folgte den Abbildungen in der Zeitung. Kopf nach unten, Stylingcreme einkneten, Kopf zurück werfen. Wau! Was für eine Mähne. Ein letzter Blick in den Spiegel. Sie staunte über ihr Erscheinungsbild, ein anderer Mensch blickte ihr entgegen. Sie hoffte, dass ihr Aussehen den gewünschten Erfolg brachte. In den letzten Tagen durchlebte sie die Hölle. Ständig in Angst, dass irgendetwas ihr Vorhaben gefährdet, zerrte an ihren Nerven. Schnell packte sie die Sachen in ihre Tasche und verließ die Toilette. Sie atmete dreimal tief durch und sagte zu sich selbst: Auf in den Kampf! Ihr Herz pochte bis zum Hals. Angie steuerte die Apotheke im Untergrund zur S- Bahn an. Sie war sicher, dass bei der Vielzahl der Menschen, die täglich hier ein und aus gingen, die Angestellten sich keine Gesichter einprägten. Sie atmete noch einmal tief durch und ging hinein. Eine der Angestellten, eine junge Frau mit einem freundlichen Lächeln, zog Angie automatisch an ihre Theke. Sie verlor jede Scheu und äußerte ihren Wunsch. Minuten später stand Angie mit einer Tüte in der Hand vor der Apotheke. Die erste Hürde war geschafft. Mit allen Utensilien marschierte sie zurück zur Toilette. Schritt für Schritt befolgte sie die Gebrauchsanweisung. Nun hieß es warten. Ihre Nerven zerbarsten vor Spannung. Wie hypnotisiert starrte sie auf ihre Uhr. Die Stunde der Wahrheit rückte näher. Ängstlich schloss sie die Augen und umklammerte krampfhaft den Test in ihrer Hand, als gelänge ihr, somit das Resultat zu beeinflussen. Schließlich gab sie sich einen Ruck, öffnete ihre Hand und schaute nach unten. Sie stutzte, weil sie nicht klar und deutlich erkennen konnte, was der Befund aussagte. Angie verglich erneut das Ergebnis mit der Gebrauchsanweisung. Genauso schlau wie vorher, warf sie wütend und enttäuscht die Gegenstände in den Mülleimer. Sie steuerte das nächste Café an und bestellte sich dass erste Mal in ihrem Leben einen Cappuccino. Verunsichert saß sie dort, führte mechanisch die Tasse zum Mund, schaute nach rechts und links zu den anderen Leuten, ohne sie zu registrieren. Sie überlegte, regte sie sich in den vergangenen Tagen umsonst auf? Sie leerte ihre Tasse, zahlte und begab sich auf den Rückweg. Im Zug band sie ihre Haare wieder zusammen und entfernte die Schminke. Zu Hause angekommen sagte sie zu Frau Keller, dass sie keinen Hunger verspüre und früh zu Bett ginge. Ohne eine Reaktion abzuwarten, verschwand sie umgehend in ihrem Zimmer. Sie betete, dass alles gut wird. Die Idee, sich jemanden anzuvertrauen, verwarf sie sofort.

      Mit starken Bauchschmerzen erwachte sie. Angie schleppte sich zum Bad, und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Ihre Periode hatte sich endlich eingestellt. Schwankend und schwindelig krabbelte sie zurück ins Bett. Ihr Blutdruck schien sehr niedrig zu sein. Frau Keller entschuldigte sie in der Schule, und sie blieb den ganzen Tag im Bett. Ihre Eltern kehrten am Sonntagabend von ihrer Reise zurück und vergewisserten sich, ob es nötig wäre einen Arzt zu rufen. Angie lehnte ab, weil sie sich bereits besser fühlte.

      Beim Verlassen des Klassenzimmers sagte Frau Kumbrow zu Angie: „Mir fällt auf, dass du in letzter Zeit meistens abwesend bist. Ich vermute, dass dies nicht an deinen körperlichen Verletzungen liegt, sondern glaube, dass dich irgendetwas bedrückt. Weißt du, man kann auch an der Seele erkranken. Wenn du darüber reden möchtest, ich bin für dich da.“ „Danke, aber mir geht es gut“, damit verließ sie den Klassenraum. Frau Kumbrow schaute ihr nach und war sicher, dass sie sich nicht täuschte. Ihre langjährige Tätigkeit als Pädagogin vermittelte ihr ein Gespür für kranke Seelen.

      Die folgenden Wochen verliefen ohne nennenswerte Vorkommnisse. Allerdings beobachtete Frau Kumbrow Angie seit dem Gespräch intensiver und stellte fest, dass sie kontinuierlich blasser und apathischer wurde. Ihre Hausaufgaben erledigte sie wie bisher gewissenhaft, aber am Unterricht beteiligte sie sich überhaupt nicht mehr. Sie fragte Stella, ob sie wüsste was Angie belastet. Diese verneinte ihre Frage und sagte, „dass sie sich selber um Angie sorge. Früher habe sie ihr alles erzählt, aber seit ihrem Unfall verschließe sie sich total.“ Mit Angies Eltern zu reden, erschien Frau Kumbrow zwecklos. Bei ihrem ersten Kennenlernen, stellte sie fest, dass sie nur ihr Beruf interessiert und nicht, was ihre Tochter in der Schule macht.

      Stimmengewirr weckte sie auf. Ihre Mutter betrat ihr Zimmer. „Guten Morgen, aufstehen Geburtstagskind, unten erwartet dich eine Überraschung!“ „Arbeitet ihr heute nicht?“ „Nein.“ Angie, rieb sich die Augen. Ihren Geburtstag hatte sie vollkommen vergessen. Dass sie heute vierzehn Jahre alt wurde, interessierte sie ziemlich wenig. Seit dem frühen Morgen gingen ihr andere Dinge durch den Kopf. Sie riss sich zusammen und ging hinunter. Beim Öffnen der Esszimmertür ertönte ein „ Happy Birthday“ aus mehreren Kehlen. Diese Überraschung verschlug ihr die Sprache. Beide Großeltern waren gekommen. Sie freute sich riesig. Für einen Augenblick vergaß sie ihren Kummer und nahm dankend die Geschenke entgegen. Von ihren Eltern erhielt sie ein wunderschönes Kleid, das mit ihrem bisherigen Kleiderstil nicht zu vergleichen war. Es war ihr erstes Partykleid. Am Oberkörper war es eng anliegend, hatte einen halsfernen Ausschnitt und Puffärmeln. Ab der Taille verlief es in einem schwingenden Glockenrock. Das seidige Material schimmerte bei jeder Bewegung in den verschiedensten Türkistönen. Es passte Angie hervorragend und nach Meinung aller Anwesenden, sah sie entzückend darin aus. Unter anderen Umständen wäre sie bestimmt vor Freude durchs ganze Haus getanzt. Heute verspürte sie keine Lust dazu. Um ihre Eltern nicht zu enttäuschen, sie bemühten sich wirklich, verdrängte sie ihre Sorge und versprühte gute Laune.

      Im Laufe des Vormittags füllte sich das Haus mit Gratulanten. Die Erwachsenen saßen im Wohnzimmer und Angie spielte mit den Kindern im Hobbykeller. Der Trubel wurde ihr fast zu viel, zumal sie mit den Kindern aus dem Bekanntenkreis ihrer Eltern kaum Gemeinsamkeiten hatte. Zum Glück war Stella an ihrer Seite. Am späten Nachmittag verabschiedete sich ihr Besuch und Angie sank erschöpft auf ihr Bett.

      Leider endete ihre Feier noch nicht. Zum Höhepunkt des Tages führten ihre Eltern sie in eins ihrer Nobelrestaurants. Sie sahen den Abend als passenden Zeitpunkt an damit Angie lernte, sich in diesen Kreisen zu bewegen. Dabei merkten sie nicht, dass die Hektik des Tages Angie angestrengt hatte und sie am liebsten zu Hause geblieben wäre. Reglos ließ sie den Abend über sich ergehen. Sie konnte ihren Eltern nicht einmal böse sein. Sie wussten es nicht besser und glaubten, was ihnen gefiel, gefiele auch ihrer Tochter.

      Der Abend verlief wie erwartet. Ihre Eltern vermittelten ihr das Gefühl, dass es weniger um ihre Geburtstagsfeier ginge, sondern vielmehr darum, um bei ihren Bekannten, die zufälligerweise hier saßen, mit ihr anzugeben. Sie kam sich vor wie auf einem Präsentierteller. Dieses oberflächliche Getue widerte sie an und sie befürchtete, dass ihre Eltern vor lauter aufgesetztem Grinsen einen Krampf im Unterkiefer bekämen. Angie hätte am liebsten losgeschrien: seht her, man hat mich fast zu Tode geprügelt und vergewaltigt, das scheint hier niemanden zu interessieren. Sie schwört sich, nie im Leben so oberflächlich zu werden.

      4

      Frau Kumbrow wohnte am Stadtrand in einem älteren, aber sehr gepflegten Einfamilienhaus. Zu beiden Seiten der Eingangstür wuchsen Rosenbäumchen. Zögerlich blieb Angie vor der Haustür stehen und überlegte umzukehren. Schließlich gab sie sich einen Ruck und drückte den Klingelknopf.

      Überrascht schaute Frau Kumbrow sie an. „Was führt dich zu mir?“Sie boten mir an zu helfen, wenn mich etwas belastet. Es ist soweit, ich weiß nicht mehr weiter.“Komm herein, bei einer Tasse Tee redet es sich leichter.“ Bevor sie zur Küche ging, begleitete sie Angie ins Wohnzimmer und bat sie Platz zu nehmen. Angie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er war gemütlich mit antiken Möbeln eingerichtet, aber nicht vollgestopft. Auf einer Anrichte standen Fotos von zwei Männern. Ein älterer und ein wesentlich jüngerer. Beide hatten große Ähnlichkeit miteinander. Bestimmt Vater und Sohn, dachte Angie.

      Frau Kumbrow brachte den Tee und setzte sich neben sie.Raus mit der Sprache! Was ist los?“ „Ich