Christine Lamberty

Angie: Es geschah auf dem Heimweg


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der Tür ließ Stella ihrem Unmut freien Lauf. „Du! Was willst du hier? Wochenlang interessierte ich dich nicht. Wenn ich fragte, ob wir etwas unternehmen so wie früher, hieß es, geht nicht, kann nicht, habe keine Zeit. Also, was willst du heute?“ „Mit dir reden, dann verstehst du es. Bitte, hör mich an.“ „Na gut, auf die Story bin ich gespannt.“ Wie früher setzten sie sich auf Stellas Bett und Angie sagte: „Es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen. Im Krankenhaus hatte ich mir geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren, aber es gibt Ausnahmen. Ich bitte dich, lass mich ausreden, fragen kannst du später.“ Stockend erzählte sie, was damals auf dem Heimweg passierte und den entstandenen Folgen. Stella saß zusammengesunken auf dem Bett und weinte. Sie wiederholte immer wieder: „Warum sprachst du nicht früher mit mir?“ „Ich musste zuerst selber klar kommen.“ Angie spürte erneut, wie nahe und verbunden sie Stella war. Zum Abschied versprach sie, so oft wie möglich zu schreiben.

      5

      Sie fuhren früh am Morgen los. Beim Abschied drückte Herr Möller Angie einen Kuss auf die Wange und sagte: „Es wird alles gut werden.“ Nach angenehmer Fahrt erreichten sie nachmittags Zürich. Frau Möller reservierte zwei Einzelzimmer in einer kleinen Pension mit Blick auf den See. Beide fühlten sich von der Fahrt ermüdet und gingen nach dem Abendessen, sofort in ihre Zimmer, keinem war nach Reden zumute. Schon während der Fahrt hatten sie kaum ein Wort gewechselt. Stattdessen schaute Angie starr und verkrampft aus dem Fenster, ohne die Schönheiten der vorbeiziehenden Landschaft zu sehen.

      Nach dem Frühstück fuhren sie zum Heim. Es lag zehn Kilometer von Zürich entfernt inmitten einer wunderschönen Parkanlage. Über dem Eingangsportal stand Haus zur Sonne.

      Beim Betreten des Hauses umgab sie eine angenehme Atmosphäre, die Angies Nervosität umgehend verschwinden ließ. Sie suchten das Büro der Leitung des Hauses auf. Sie saß an ihrem Schreibtisch, stand auf und fragte, während sie ihnen zur Begrüßung die Hand reichte: „Mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Entschuldigung! Möller, das ist meine Tochter Angie, die eine Zeit lang bei Ihnen bleibt.“ „Das trifft sich gut. Ihre Akten liegen soeben bei mir auf dem Schreibtisch, weil ich beabsichtigte, sie anzurufen.“ „Wir reisten früher an, um noch einige Tage gemeinsam zu verbringen.“ „In welchem Hotel sind Sie abgestiegen?“ „Pension Seeblick.“ „Eine hübsche Pension. Wenn es für Sie in Ordnung ist, kann ihre Tochter in drei Tagen einziehen.“ „Selbstverständlich! Wir sind dankbar, dass wir so schnell den freien Platz erhielten.“ „Dann wünsche ich ihnen eine schöne gemeinsame Zeit.“ Draußen fragte Angies Mutter: „Was hältst du von dem Haus?“ Spontan antwortete Angie: „Der erste Eindruck gefällt mir.“

      Angie erlebte wunderschöne Tage mit ihrer Mutter, so, wie sie sich immer eine Beziehung zwischen Mutter und Tochter vorstellt hatte. Sie bummelten durch die kleinen Gassen der Altstadt, fuhren mit dem Boot über den Zürichsee und machten einen Ausflug in die nahe gelegene Bergwelt. Sie lachten viel und vergaßen für einen Augenblick, den Grund ihrer Anwesenheit. An ihrem letzten Abend versuchte Angie, ihre innere Unruhe zu unterdrücken. Sie ängstigte sich vor dem morgigen Tag und dem Ungewissen, das sie erwartete.

      Frau Groß begleitet sie in Angies Zimmer. „Ich schlage vor, wir beginnen mit der Hausführung, damit deine Mutter sieht wie du die nächsten Monate verbringst. Dein Gepäck packst du später aus.“ Nach der Besichtigung saßen sie bei Frau Groß im Büro und besprachen die restlichen Einzelheiten. Sie hieß Angie nochmals herzlich willkommen, reichte ihr eine Mappe mit alle Informationen der Hausordnung betreffend und ihren Stundenplan. Dann hieß es Abschied nehmen. Angie winkte dem Auto so lange hinterher, bis es ihrem Blickfeld entschwand. Anschließend ging sie in ihr Zimmer. Es lag in der ersten Etage, war sehr geräumig und mit großen Fenstern ausgestattet. Von hier aus schaute sie in den hinteren Teil des Parks. Unter hohen Bäumen standen Bänke die zum Verweilen einluden. Hübsch angelegte Blumenbeete gaben dem Park Farbe. Ihr Zimmer war modern und funktionell eingerichtet. Es enthielt alles Nötige. Am besten gefiel Angie der große Schreibtisch vor dem Fenster. Ein eigenes Duschbad vervollständigte ihr Domizil. Sie war sehr zufrieden mit ihrer Unterkunft. Bis zum Mittagessen dauerte es noch eine Stunde. Zeit genug, ihren Koffer auszupacken.

      Im Speisesaal lernte sie die anderen Mädchen kennen. Mit ihr waren sie zu acht. Erst jetzt registrierte Angie, wie exklusive dieses Haus war und schätzte ihre Privilegien, dass sie hier einen Platz bekam. Eine nach der anderen stellte sich vor. Zwei von ihnen, beide achtzehn Jahre Alt und hochschwanger, hofften, dass sie ihr Abitur noch vor der Entbindung schafften. Vier Mädchen, zwischen fünfzehn und sechzehn, legten die Hände auf ihren Bauch und schleuderten, ohne sich zu schämen, ihre Schwangerschaftsmonate in den Raum, fünf...sechs... sechs...fünf...! Schockiert verdüsterte sich Angies Gesichtsausdruck. Dies blieb Marlies, der jüngsten der Gruppe, nicht verborgen. Sie setzte sich neben Angie. Die Augen, fixiert auf ihre Hände gerichtet, nannte sie ihren Namen und ihr Alter. Ihre Stimme brach ab, und sie flüsterte: „Ich bin im vierten Monat.“ Angie griff nach ihrer Hand und lächelte sie an. „Ich bin wie du vierzehn und im gleichen Monat.“ Alle kamen aus reichen Elternhäusern. Nachdem sich jeder vorgestellt hatte, schauten sie gespannt auf Angie. Sie wirkte verlegen, wie locker diese Mädchen ihre Schwangerschaft hinnahmen. Angie rannte aus dem Speisesaal in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und weinte. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür. Als sie öffnete, stand Marlies mit einer Tasse Tee dort. „Trink das, es beruhigt. Darf ich herein kommen?“ „Natürlich! Du hältst mich bestimmt für zickig, aber das war ein Reflex, mir fällt es schwer darüber zu reden.“ „Das verstehe ich gut. Zu Beginn empfand ich es auch als peinlich und bin immer noch verwundert, wie ungezwungen die anderen damit umgehen. Außerdem gehöre ich, genau wie du, zu den Neuen, weil ich erst vor drei Wochen hier ankam. Übrigens, Herr Schober sucht dich. Zu Beginn führt er mit jedem neuen Mädchen ein Gespräch. Er ist der Hauptlehrer und Ansprechpartner, so ähnlich wie der Schulleiter einer normalen Schule. Er unterrichtet Mathe und Deutsch. Alle anderen Fächer teilen sich Frau Greiner und Frau Koch. Mit Frau Rossmann, der Gymnastiklehrerin, machen wir spezielle Schwangerschaftsgymnastik und sie hält Beratungs- Seminare ab. Du wirst sehen, alle Lehrer sind sehr nett und keiner macht dir Vorhaltungen, warum du hier gelandet bist. Ich denke auf unserer alten Schule bekämen wir mehr Probleme.“ „Das Gleiche sagte meine Mutter, als wir überlegten, ob ich hierher komme oder zu Hause bleibe.“ „Sei froh, dass du dich für dieses Haus entschieden hast. Sie tun alles, damit es uns gut geht.“ „Dann will ich Herrn Schober nicht länger warten lassen. Danke für den Tee.“ „Keine Ursache. Wir müssen doch zusammenhalten.

      Angie klopfte an die Bürotür von Herrn Schober und trat ein. „Guten Tag. Ich bin Angie Möller. Sie suchten nach mir?“ „Bitte, nimm Platz. Auch ich möchte dich herzlich willkommen heißen. Die Begrüßungsmappe wurde dir schon ausgehändigt. Lass dir erklären wie der Unterricht hier abläuft. Uschi und Barbara werden separat unterrichtet, weil sie kurz vor dem Abitur stehen. Alle anderen unterrichten wir trotz eurem unterschiedlichen Level zusammen. Es wird am Anfang ungewöhnlich für dich sein, aber mit der Zeit erkennst du, dass es bestens funktioniert. Ihr lernt intensiver, im Gegensatz zu einer regulären Schule, weil wir in der Lage sind, uns persönlicher um jeden Einzelnen zu kümmern. Wir berücksichtigen eurer Schwangerschaft und beachten eure Ruhepausen. Genieße den Rest des Tages und morgen nach dem Frühstück geht es los! Wenn du außerhalb der Essenszeiten Hunger verspürst, findest du etwas in der Küche, sie ist gleich neben dem Speisesaal.“

      Mit einem Glas Orangensaft in der Hand erkundete Angie das Haus. Bei ihrem ersten Rundgang mit Frau Groß, war sie viel zu aufgeregt, um sich alles zu merken. Die meisten Räume im Untergeschoss kannte sie: den Speisesaal, die Küche, das Büro von Frau Groß, das Lehrerzimmer, in dem sie mit Herr Schober gesprochen hatte. Sie entdeckte drei weitere Räume. Aus einem hörte sie Stimmen, die anderen standen offen und sie sah Schreibpulte. Das sah nach Klassenzimmer aus. Sie folgte der Treppe nach unten und stand in einem Gymnastikraum mit allen erdenklichen Sportgeräten. Durch eine Glastür gelangte man ins Schwimmbad. In den beiden oberen Etagen lagen die Zimmer der Heimbewohner. Zurück in ihrem Zimmer schaute sie hinaus in den Park. Nach langer Zeit fühlte sie sich zum ersten Mal ruhig und entspannt. Sie setzte sich an den Schreibtisch und las in ihrer Broschüre.

      Der