Elisabeth Eder

Die Wächter


Скачать книгу

des Regens hörte. Blinzelnd blickte sie auf, erhob sich zitternd und wankte zum Fenster. Mit rasendem Herzen starrte sie auf die verschwimmenden Umrisse des Dorfes im prasselnden Regen. Die Räuber … Einen Moment stockte sie. Diese rücksichtslosen Männer waren Schuld. Sie hatten Unschuldige überfallen und getötet. Sie zogen mordend durch die Länder, betrogen, stahlen, misshandelten und ruinierten alles. Alles. Familien, Freundschaften, Reichtum, Besitz, Herzen, heile Knochen … und den Frieden. Lyas Mund spannte sich an, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Die blauen Augen blitzten gefährlich, ihre Wangen wurden brennend heiß. Diese nichtsnutzigen, behinderten, kranken, sich von Alkohol ernährenden, barbarischen Hundebastarde! Mit einem wütenden Knurren fuhr sie herum, fand sich plötzlich auf allen Vieren wider, kümmerte sich aber nicht darum. Sie war erfüllt von dem Hass, der Wut, die ihr Kraft und Energie gaben. Wie eine Wildkatze rannte sie aus dem Zimmer, an Leyihos Leiche vorbei, die Stufen hinunter, in den Regen. Wasser fiel auf sie nieder, durchweichte ihr Fell und ließ ihre Nackenhaare aufstehen. Trotzdem roch sie alles, das Blut, die Angst, den Schweiß, den Schmutz und den Gestank, den die Räuber hinterlassen hatten. Sie sah die scharfen Umrisse des Gartentores vor sich und verharrte einen Moment lang so. Regen perlte an ihrem Fell entlang, tropfte von ihrer weichen Schnauze. Dann sprang sie mit einem gewaltigen Satz über den Zaun, landete auf allen Vieren und rannte die Straße entlang hinaus. Sie überquerte die Hügel, zwischen deren Gräsern sich Lacken bildeten und ihre Pfoten eiskalt badeten. Mit geschmeidigen, schnellen Bewegungen arbeitete sie sich zu den Bergen vor, die wie schwarze Schatten unheimlich in der Ferne aufragten.

       8 Ein Schneeleopard im Wald

      Lya sprang rasch in die schützenden Schatten. Dunkle Zweige, Äste und Büsche ragten neben ihr auf. Knurrend sprang sie weiter, zwischen aus der Erde ragenden Felsen umher, an Wurzeln vorbei und über kleine Flüsse.

       Irgendwann begann sie zu keuchen. Sie wurde langsamer und betrachtete ihre Umgebung eingehender. Die Wut war längst verflogen, das Gefühl von Hunger und Kälte hatten sich in ihr breitgemacht. Unsicher blieb sie stehen und starrte hinab auf das schlammbedeckte, schneeweiße Fell und die scharfen, schwarzen Krallen. Sie roch Wasser. Nicht den Regen, der gegen das Blätterdach trommelte und den Waldboden feucht machte. Flusswasser.

       Die Pfoten des Raubtieres wühlten den Boden auf. Es duckte sich unter Farnen und Kräutern, die seine Haut streiften und unter kleinen, schattenhaften Ästen, die im Weg waren. Die Pfoten hinterließen tiefe, schwere Abdrücke im aufgewühlten Schlamm. Schließlich wurde Lya fündig.

       Vor ihr rauschte ein Fluss, der sich tief in den Boden gegraben hatte, dank dem Unwetter allerdings hoch stand. Sie blickte hinein und zuckte zusammen, denn ein schneeweißer Leopard mit blauen Augen blickte ihr entgegen. Die feinen Schnurrhaare standen elegant von der Schnauze ab, die Ohren zuckten nach vorne, als sie sich für ihren Anblick interessieren zu begann und das Fell verschob sich leicht, als sie ihre geschmeidigen Muskeln bewegte, um den Kopf zu senken und mit der Zunge Wasser in ihre ausgetrocknete Kehle zu schöpfen.

       Lange kauerte sie auf diese Weise da. Die schwarzen Punkte auf ihrem Fell wirkten wie von Künstlerhand aufgetragen. Allerdings würde das schneeweiße Fell ein Problem darstellen – so war sie für jeden sichtbar.

       Dann kam ihr der Gedanke, dass ihre Verwandlung mit dem Wutanfall zu tun gehabt, den sie bekommen hatte. Oder von der seltsamen Erscheinung des Leoparden, der ihr die Kette überreicht hatte. Die Kette!

       Sie starrte zu ihrem Fuß. Da war sie, das Lederband hatte sich im Fell ihrer Tatze vergraben, der Diamantschlüssel verschmolz mit dem Weiß der feinen, dichten Haare.

       Was sie auf die Frage zurückführte … Warum war sie ein Leopard? Konnte sie wieder Menschengestalt annehmen? Wenn ja, wie? War sie eine Art Hexe, dass sie das konnte? Sie war dafür strafbar, ohne die Erlaubnis des Königs Magie auszuüben … Oder kam das davon, weil ihr Vater ein Elf war und ihr so gewisse Fähigkeiten vererbt hatte?

       Lya schüttelte leise den Kopf. Das war nun nicht von Bedeutung. Sie war weggelaufen und würde nicht so schnell auf diese lächerliche Burg zurückkehren. Vermutlich waren dort bereits alle tot. Leid tat es ihr um niemanden. Außer um Clemin. Schlechtes Gewissen überfiel sie, dann wandte sie sich ab und ging zu einem Baum mit dickem Stamm.

       Sie benutzte ihre scharfen Krallen, die sich in das Holz bohrten, um hinaufzuklettern und suchte sich einen Platz in der dichten Krone, umgeben von smaragdgrünen Blättern. Lya legte sich in einer bequemen Position hin – soweit man es als bequem betrachten konnte, in einem Leopardenkörper auf einem Baum zu liegen – und ließ ihren Kopf auf den großen Pranken ruhen.

       Sie schloss die Augen. Kopfschmerzen überfielen sie, ebenso wie die Müdigkeit von der Aufregung und dem langen Lauf. Schneller, als ihr lieb war, glitt sie in einen traumlosen Schlaf.

      Am nächsten Tag fand sie heraus, dass es nicht einfach war, von dem Baum wieder hinunterzukommen. Auf allen Vieren glitt sie zum Wasser und senkte den Kopf, um zu trinken. Goldenes Licht fiel zwischen den Bäumen auf den Waldboden und wärmte ihr Fell. Sie streckte sich, wobei sie die Vordertatzen in den Boden grub und gähnte. Sie stellte sich vor, wie die spitzen Reißzähne entblößt wurden und entschied, dass sie einen furchterregenden Eindruck machte.

       Lyas Magen grollte.

       Was sollte sie essen? Sie hatte ja nicht einmal das Bündel mitgenommen, das ihr Jastia hergerichtet hatte. Ein schmerzlicher Stich überfiel sie. Sie schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich auf ihre jetzigen Probleme. Essen. Sie brauchte Nahrung.

       Wäre sie doch nur ein Mensch! Kaum hatte sie das gedacht, stand sie auf allen Vieren – wie ein Kleinkind – mit blutverschmierter Bluse und grauem Magdrock auf der Lichtung. Rasch richtete sie sich auf, ging zum Fluss und kniete sich nieder, wusch Gesicht und Hände und hängte sich die Lederkette mit dem Diamantschlüssel um den Hals. Sie versteckte sie gut unter ihrer Bluse. Dann starrte sie auf die Farne und Büsche ringsum, auf denen Beeren wuchsen. Lächelnd rappelte sie sich auf, ging hin und pflückte einige, wusch sie im Fluss und aß sie. Lya suchte den halben Tag nach essbaren Früchten und Kräutern. Sie bekam einiges an Nahrung zusammen. Allerdings fehlten ihr Brot und Fleisch, doch sie wusste, dass sie nicht jagen würde können, schon alleine nicht, weil sie dafür töten musste. Dann fand sie flussabwärts etwas, dass ihr Herz höher schlagen ließ: Wilde Apfelbäume! Sofort nahm sie sich einen der goldgelben Äpfel und biss herzhaft hinein. Süßer Saft ergoss sich über ihre Zunge und sie schloss zufrieden die Augen. Nachdem sie einige dieser Früchte gegessen hatte, fragte sich, was sie machen sollte. Der letzte Wille ihrer Mutter war gewesen, zu ihrem Vater zu gehen. Lya überlegte. Sie wusste nicht, wer ihr Vater war, aber sie wusste, wo er war, sollte er leben und sich nicht in Gefangenschaft befinden: Im Waldreich. Sie ahnte, dass sie dort anfangen müsste, zu suchen, auch wenn sie vielleicht auf grausame Elfen stieß. Seufzend rief sie sich die Karte Cintas ins Gedächtnis. Wenn sie durch die Kette reiste, dann würde sie unerkannt bleiben. Außerdem gehörten Schneeleoparden bekanntlich in die Berge. Sie würde nicht auffallen, das war ein großer Vorteil. Lya würde die ganze Kette entlanglaufen – vermutlich in ihrer Leopardengestalt – und dann am Rande, zwischen dem weiten Ozean und dem großen Grenzgebirge, ins Waldreich gehen. Sollte sie bis dahin überleben, dann würde sie weiter darüber nachdenken. Entschlossen ging sie zum Fluss. Sie betrachtete ihre verdreckte, blutbeschmierte Kleidung und zog sich aus, wusch das Gewand im rauschenden Wasser, breitete es auf Felsen aus und legte sich selbst hinein. Die Kälte umfloss ihre Haare und ließ sie im Wasser treiben. Entspannt starrte sie auf das Blätterdach über ihr und lauschte dem Gesang der Vögel. Hin und wieder knackste ein Zweig. Lya stieg aus dem Wasser und sah sich unbehaglich um, doch natürlich war niemand in der Nähe. Leopard!, dachte sie und schon fand sie sich auf vier Pfoten und in einem wärmenden Pelz auf dem Waldboden wider. Zufrieden begann sie einen kleinen Streifzug. Kleinere Tiere wichen vor ihr zurück, die Vögel hörten mit ihrem Gesang auf, als sie vorbeikam. Ein gefährliches Raubtier zog durch den Wald und niemand wollte mit einer falschen Bewegung als Mahlzeit enden. Lya erkundete die Bäume, die saftigen Wiesen und die verborgenen Lichtungen, betrachtete die Farbspiele der verschiedenen Grün- und Brauntöne und bewunderte den Wald für seine Schönheit. Eigenartigerweise fühlte sie sich hier sicher. Die Bäume, die im Wind rauschten, schienen wie