Elisabeth Eder

Die Wächter


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mit weichem Pelz. Sträucher, Farne und Kräuter thronten am Boden, neben den gewaltigen Bäumen. Lya sprang auf einen niedrigen Ast und ihr Herz war von Zufriedenheit erfüllt. Dann machte sie kehrt, drehte sich um und lief zurück zum Flussufer. Ihre Kleidung war beinahe trocken. Offenbar war sie lange fort gewesen, während sie die Stille des Waldes genossen hatte. Mensch! Sie zog sich ihre Kleider über. Kurze Zeit später lief ein schneeweißer Leopard lautlos durch das Unterholz. Er hielt sich in der Nähe des Flusses und seine wachen, blauen Augen musterten die Umgebung genauestens. Beim kleinsten Geräusch zuckten die Ohren in die Richtung, aus der es gekommen war und wenn es ruhig blieb, sprang der Leopard elegant weiter. So glitt er geschmeidig durch den Wald, bis es dunkel wurde. Da kletterte er auf einen Baum und machte es sich in den dicken Astgabeln bequem. Der Leopard schloss die Augen und sein Atem verlangsamte sich, die Flanken hoben und senkten sich ruhig. Er schlief tief und fest. Kalter Nachtwind fuhr durch das dichte Fell und langsam wurden die Geräusche des Waldes lauter, bis sich Rehe, Wildschweine, Hasen und andere Waldbewohner aus ihren Verstecken wagten, um im Schutze des silbernen Mondes nach Nahrung zu suchen.

      Die nächsten Tage reiste Lya in ihrer Leopardengestalt. Sie fraß Beeren und Kräuter, die sie kannte und hielt sich immer nahe am Fluss. Einmal gabelte er sich und sie nahm ohne Zögern die rechte Seite, da sie so schnell wie möglich nach Osten musste.

       Lya marschierte unaufhaltsam weiter, doch am vierten Tag machte sich das ständige Magenknurren erneut bemerkbar – in einer Form von Schmerz. Ihr Raubtierkörper bog sich durch und sie grub die Krallen in den Boden. Ein Knurren entwich ihrer Kehle. Fieberhaft suchte sie in ihrem Gedächtnis nach einer Ursache für den Hunger. Vitaminmangel? Nährstoffmangel? Zu wenig Brot?

       Sie aß doch jeden Tag Beeren!

       Schließlich wurde ihr klar, was es war, als ihr der unverkennbare Geruch von Blut in die Nase stieg. Witternd hob sie den Kopf. Es roch süßlich, frisch. Lya stand eine Weile da, zitterte vor Hunger. Wieder schossen scharfe Schmerzen durch ihren Magen.

       Der Schneeleopard duckte sich, schlich mit an den Boden gedrückten Bauch weiter, zwischen einem umgestürzten Baum und erdbraunen Waldboden vorbei. Die Bäume standen nun in weitem Abstand voneinander da, Gras wucherte zwischen ihnen. Es roch nach frischem Morgentau, violette Blumen tropften vor Nässe. Nebelschwaden zogen über die Lichtung, die vor ihr lag und hüllten einige Bäume in trügerisches Grau. Mühsam unterdrückte sie das Knurren ihres Magens, als sie vorsichtig zu einigen Büschen schlich und sich duckte, auf einmal ruhig und geduldig.

       Ein verletztes Reh lag direkt vor ihr. Es strampelte hilflos mit den Beinen, während ein einsamer, hinkender Wolf auf das Tier einbiss. Lya beobachtete den Todeskampf mit einer Ruhe, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte, aber der Hunger raubte ihr Mitgefühl.

       Schließlich gelang es dem Wolf, das Reh zu besiegen. Er fraß sich an ihm satt. Lya beobachtete ihn aus schmalen Augen, als er langsam verschwand.

       Dann trat sie auf die Lichtung. Der Duft des Blutes machte sie noch hungriger. Geduldig zwang sie sich, sich nach anderen Jägern umzusehen, aber nichts regte sich im zwielichtigen Nebel. Der Himmel war stahlgrau, leichter Regen fiel ins Gras und wusch die Luft.

       Der Schneeleopard fraß gierig. Als er satt war, schleppte er sich weiter, zu einigen Büschen, legte sich unter die kratzigen Äste. Er legte seinen Kopf auf die Vordertatzen und schloss erschöpft die Augen, um zu schlafen.

      Das nächste Mal wachte Lya auf, weil sie Menschen roch. Aufgeregt sprang sie auf und beobachtete die Lichtung. Die Sonne schien und direkt vor ihr, bei dem Rehkadaver – sie weitete entsetzt die Augen … hatte sie das arme Tier wirklich gefressen?! – knieten mehrere Männer und untersuchten die Bissspuren.

       Sie hatten glänzendes, blondes Haar und ihre Kleidung, mit der sie beinahe mit dem Wald veschmolzen, bestand aus grünen Filzschuhen, braunen Stoffhosen und waldgrünen Wamsen mit Kapuzen. Außerdem trugen sie lange, schlanke Schwerter.

       „Ein Wolf“, murmelte einer von ihnen. Er nahm einen großen Speer, der neben ihm am Boden gelegen hatte. „Und etwas Größeres … sieht aus wie der Biss eines Löwen, aber hier gibt es keine.“

       „Die Kiefer waren kräftig. Und hier – die Krallenabdrücke. Das kann kein Dämonentier gewesen sein, zu unpräzise … das muss ein Raubtier sein“, sagte ein anderer.

       „Wie auch immer, wir müssen aufpassen. Je näher die Viecher sind, desto gefährlicher.“

       Die Männer standen auf und nahmen ihre Speere. Im Gänsemarsch schritten sie rasch zurück in den Wald, der ihre Silhouetten verschluckte, bis alles wieder war wie vorher.

       Lya ging nach hinten, drehte sich um und preschte dann lautlos durch das Unterholz und die Gebüsche. Keuchend und mit wild klopfendem Herzen blieb sie immer wieder stehen, um die Luft zu prüfen.

       Im stillen, grün-braunen Wald regte sich nichts. Trotzdem nahm sie einen fremdartigen Geruch wahr … der eines Tieres oder der eines Menschen?

       Noch immer herrschte der leichte Nieselregen. Kurz legte sie eine Pause ein, um zu trinken, dann erreichte sie die Baumgrenze. Sie fand sich auf einer grünen Wiese mit vielen, dunkelgrünen Nadelbüschen und kleinen violetten, weißen und gelben Blumen wider. Grobe Steine wuchsen hin und wieder aus dem Boden. Der Fluss schlängelte sich mühelos über die Unebenheiten, über den hügeligen Berg und zwischen den Felsen hindurch, wobei er immer wieder kurz unter der Erde verschwand und braune, schlammige Stellen hinterließ.

       Weit und breit war niemand zu sehen. Allerdings fand Lya auch keine Deckung. Vor ihr war eine riesige Schlucht, die in ein längliches Tal führte. Dunkelgrüne Wälder wuchsen auf den steilen Hängen. Sie erkannte nun genau die verschiedenen Zacken und Bergspitzen, die tiefen Schluchten, weiten Täler und hohen Steinwände. Je weiter die Riesen der Erde von ihr entfernt standen, desto dunkler wurde das Grün, bis es sich in einen düsteren Blauton verwandelte.

       Sie beschloss, weiterhin dem Fluss zu folgen.

       Murmeltiere pfiffen sich Warnungen zu, Steinböcke sprangen majestätisch von Fels zu Fels, als sie sich näherte. Gämse huschten davon, mit ihren scharfen Augen erkannte sie Mäuse und Kaninchen. Irgendein Teil von ihr wollte sie jagen, aber noch hatte der Menschliche Teil die Oberhand.

      Lya marschierte von Berg zu Berg, durch tiefe Schluchten, an halb verfallenen Ruinen mit morschen Türen und grasbewachsenen Höfen vorbei, deren Fliesen zersplittert herumlagen und in denen sich Tiere angesiedelt hatten. Sie folgte dem Fluss zu einem hohen Gipfel, wo es nur felsige Gesteinsbrocken gab. Das Wasser rauschte aus einer kleinen Öffnung im Fels. Die Feuchtigkeit färbte den Fels dunkelgrau und das Plätschern war ganz leise geworden. Dünne Rinnsale schlängelten sich über den Boden und befeuchteten ihre Tatzen.

       Eiseskälte wehte ihr entgegen. Der Wind heulte und rüttelte an ihrem dichten Fell. Ihre Schnurrhaare zuckten. Sie senkte den Kopf und trank die letzten Schlucke, wandte sich zögernd ab und sprang gelenkig auf einen der größeren Felsen.

       Hier ging es wieder hinunter. Unter ihr war ein riesiges Tal, unbewohnt und allem Anschein nach fruchtbar. Ein kleiner Teich befand sich im Norden, ungefähr eine Tagesreise als Leopard. Lautlos landete sie mit ihren Tatzen auf dem Geröllboden. Sie konnte sich nun in ihrer Tiergestalt beinahe so gut bewegen wie als Mensch.

       Im leichten Lauf rannte sie zwischen den Felsen umher, bis sie spärlicher wurden.

       Zu spät bemerkte der Schneeleopard das riesige, muskelbepackte, aufrecht gehende Tier mit glatter, schwarzer Haut und wolfsähnlicher Schnauze. Rot glühende Augen starrten ihr gierig entgegen. Lya blieb wie versteinert stehen.

       Der Razzor ließ sich auf alle Viere nieder und schlich auf sie zu. Er bleckte die messerscharfen Zähne und hob eine menschenähnliche Klauenhand. Lya wich rasch zurück und sah sich nach einem Ausweg um, aber der nächste Wald war zu weit von ihr entfernt.

       Die knurrende Bestie kam näher, spannte drohend die Muskeln an. Weißer Speichel lief dem Razzor aus den Mundwinkeln und tropfte aufs Gras.

       Mit einem kehligen Laut sprang er nach vor.

       Lyas Herz raste. Sie huschte rasch unter dem springenden, schwarzen Ungeheuer hindurch und hörte kurze Zeit später, wie es jaulend aufschlug. Dann