Eberhard Schiel

Mein Lieber Sohn und Kamerad


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ein Weltdiplomat von Gottes Gnaden sein müssen. Die sind aber vorher schon gegangen worden, wenn man nur an Bismarck denkt. Zwangsläufig erfährt die Welt im Jahre 1914 von einer weiteren Balkankrise, der dritten im dritten Jahr. Sie ufert in eine weltweite Krise aus, weil die führenden Politiker der Stunde mit "bedingtem Vorsatz" in die Katastrophe steuern. Österreich-Ungarn glaubt, jetzt, ergo nach dem Attentat, sei die Zeit für eine endgültige Unterwerfung Serbiens gekommen. Ein Ultimatum wird aufgesetzt, von dem man am Wiener Hof genau weiß: die darin enthaltenen Forderungen sind unerfüllbar. Drei Tage später erfolgt die Kriegserklärung. Deutschland hat nichts dagegen. Die Weichen sind gestellt, der Kriegskurs abgesteckt, die Soldaten stehen Gewehr bei Fuß. Manöver hier, Manöver dort, der europäische Konflikt kann sich nach Belieben ausweiten. Wer die Gefahr des Augenblicks begreift, sendet noch schnell Telegramme, Appelle, Aufrufe. Alles wertloses Papier. Fortan regiert nur noch das Militär. Die Waffen sprechen. Es entwickelt sich, was man in Militärkreisen die Eigendynamik der Kriegsmaschinerie nennt. Rußland ordnet am 30. Juli eine Teilmobilmachung, angeblich zum Schutze Serbiens. Dies geschieht ohne Rücksprache mit dem Bündnispartner Frankreich. Daraufhin fordert Deutschland die Russen auf, diesen bedrohlichen Akt unverzüglich einzustellen. Depeschen werden gesendet und empfangen. Von Kaiser zum Zaren, vom Zaren zum Kaiser, von Vetter zu Vetter, denn die beiden mächtigen Herrscher sind tatsächlich miteinander verwandt. Da trifft mitten in diesem Geplänkel die endgültige Entscheidung von Zar Nikolaus II. in Berlin ein. Es bleibt bei der russischen Mobilmachung. Kaiser Wilhelm II. gibt schließlich dem Druck des Militärs nach, ruft am 1. August ebenfalls die Mobilmachung aus, Frankreich bleibt auch nicht untätig, und wenige Stunden später ist es soweit. Deutschland erklärt Rußland den Krieg. Bedeutende Kundgebungen für den Frieden finden statt. Ein Strohfeuer, denn am 2. August ruft das Volk in Berlin nach dem Kaiser. Erst zögert der Monarch, dann betritt er den Balkon seines Berliner Schlosses und ruft der Menge zu: Aus tiefem Herzen dank ich Euch für den Ausdruck Eurer Liebe, Eurer Treue. Im jetzt bevorstehenden Kampf kenne ich in Meinem Volk keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche. Und welche von den Parteien auch im Laufe des politischen Streits sich gegen Mich gewandt haben, Ich verzeihe ihnen allen!"Ein Satz, der die Runde macht, der Wirkung erzielt, ein psychologischer Schachzug allererster Güte. Anschließend Glockengeläut vom nahen Dom, zackige Marschmusik, die "Wacht am Rhein" erklingt, schmetternde Hurras auf den Kaiser und ein Ruf erschallt wie ein Donnerhall: "Deutschland, Deutschland über alles:" Alle liegen sich in den Armen. Die Lehrer, Priester und die Militärs. Ihre Saat ist aufgegangen. Deutschland marschiert.

      Die Deutschen marschieren nach dem Schlieffen-Plan von 1905, der bewußt die Verletzung der Neutralität Belgiens und Luxemburgs einkalkuliert, allerdings nicht berücksichtigt, dass England diese Rechtsverletzung zum Anlass für ihre Kriegserklärung an die deutsche Monarchie nehmen könnte. Der Plan des ehemaligen Chefs des Generalstabes war auf einen Zweifrontenkrieg ausgerichtet. Die Franzosen sollten in einer gigantischen Umzingelungsschlacht im Stile von Cannae eingekreist und vernichtet werden, ehe das vermeintlich schwache russische Heer ihre Mobilmachung abgeschlossen hatte. Nach der geglückten Operation im Westen sollte der Schwerpunkt nach Osten verlagert werden. General Schlieffen hatte sich am Plantisch sicher nicht vor weiten Entfernungen gefürchtet, die allerdings auf der Karte weit angenehmer zu ertragen waren als in der Wirklichkeit, bei Morast und Schlamm und Hunger und Kälte und Schmerzen. Die Infanterie war für diesen Plan nicht mobil genug. Auf der Gegenseite hatte der französische Oberbefehlshaber Joffre auch kein besseres Konzept zur Hand. Sein sogenannter Plan 17 spielte eher der deutschen Armee in die Karten und brachte die Franzosen an den Rand einer Niederlage. Die Franzosen greifen ab dem 7. August im Elsaß, in Lothringen und gleich darauf in den Ardennen an. Alle Versuche eines Durchbruchs scheitern. Die deutsche Feuerkraft, die Disziplin der Soldaten, und das organisatorische Talent geschulter Offiziere ist von der Gegenseite unterschätzt worden. Die deutsche Offensive findet gemäß des Schlieffen-Planes weiter nördlich statt. Trotz des Widerstands in Lüttich (4.-16. August) durchquert das deutsche Heer Belgien. Und während sich die Belgier nach Antwerpen zurückziehen, bedrohen deutsche Truppen das weniger befestigte Nordfrankreich. Französische und britische Einheiten vermögen den deutschen Vormarsch nur zu verlangsamen, zuerst an der Sambre, wo die Schlacht von Charleroi tobt, dann bei Le Cateau und Guise. Die Aisne und die Marne werden von den Deutschen überschritten. Paris liegt für sie in Reichweite. Schon beginnt man in der französischen Hauptstadt mit der Evakuierung. Die deutsche Presse jubelt: "Flucht der französischen Regierung aus Paris !" Die Einnahme der Metropole ist nur noch eine Frage von Stunden. Doch der Gewaltmarsch erschöpft die deutschen Truppen, insbesondere natürlich seine Infanterie. Zudem hatte Joffre die Wochen des Rückzuges dazu benutzt, um zahlreiche Generäle wegen erwiesener Unfähigkeit zu ersetzen und frische Truppen aus den Vogesen in die Champagne zu verlegen. Anfang September sind die Allierten soweit. Sie starten zum Gegenangriff.

      Im Osten greifen die Russen ab dem 18. August Ostpreußen an. Eine ihrer Armeen, die zweite unter Samsonow, wird jedoch bei Tannenberg völlig aufgerieben. Die Deutschen unter Hindenburg und Ludendorff nehmen mehr als 100.000 Mann gefangen und erbeuten 500 Geschütze. General Samsonow nimmt die Verantwortung auf sich. Er begeht Selbstmord. Und Deutschland hat einen neuen Helden, Paul von Hindenburg. Der Kult mit ihm nimmt schon bald groteske Formen an. Unterdessen wird zwei Wochen darauf die andere russische Armee, befehligt von Rennenkampf, durch die Sümpfe der masurischen Seenplatte der Grenze zu getrieben. Glück für die Russen, wenn sie auf Österreicher treffen. Mit ihnen werden sie fertig und schlagen sie in Galizien, obwohl das kein militärisches Kunststück ist, denn selbst die Serben bringen den österreichischen Soldaten eine empfindliche Niederlage bei und befreien Belgrad. Vier Monate haben genügt, um alle strategischen Theorien über den Haufen zu werfen. Der Krieg hat seine eigenen Regeln spielen lassen. Auf dem Höhenrücken der Vogesen tritt eine Stabilisierung der Frontlage ein. Ab dem 6. September greifen die Alliierten die Flanke des rechten deutschen Flügels in der Champagne an. Die Marne-Schlacht (6.-9. September) wird zum Prüfstein des deutschen Schlieffenplanes. Beinahe, aber nur beinahe, wäre er aufgegangen. Man geht aber am rechten Flügel zu forsch zu Werke. Dort hatte plötzlich die Zweite Armee keinen Kontakt mehr zur Ersten, weil man im unterschiedlichen Tempo vorrückte. Es tat sich eine Lücke auf, in welche die Engländer auf 50 km Breite heineinstießen. Ein Oberst Hentsch übermittelte oder gab den Befehl, so genau weiß man das nicht, zum Rückzug der Zweiten Armee, dem die Erste folgte. Die Deutschen beziehen darauf Stellung auf den Höhenzügen an der Aisne. Sie heben Schützengräben aus. Nach vergeblichen Angriffen machen es ihnen die Alliierten nach, arbeiten ebenfalls an Stellungen für die Verteidigung. Vom 13. September an versuchen es mal die Deutschen, mal die Alliierten, den Gegner einzukesseln. Der Wettlauf zum Meer beginnt. Es ist dies der letzte verzweifelte Kampf, dem Bewegungskrieg zum Erfolg zu verhelfen. Doch diese Kämpfe, die an der Somme bei Arras und am belgischen Yserkanal stattfinden, verlängern nur die Front, bis hin zur Nordsee. Ende 1914 liegen sich die Deutschen und die Alliierten auf einer Länge von 750 km im Schützengraben gegenüber. Ein Krieg neuen Typus ist geboren, der Stellungskrieg, nach dem der Bewegungskrieg gescheitert ist.

      BRIEFE 1914

      AN ALBERT SCHIEL (1)

      Stralsund, den 9. 8. 1914

      Lieber Onkel!

      Soeben komme ich von den Großeltern und habe Deine Karten vom 5/8 gelesen. So wie Du denke ich auch. Ich verstehe, was es heißt, Freunde, die einem jahrelang mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, ziehen zu lassen. Aber: Der König rief und alle, alle kamen. Deine Freude würde groß sein, wenn Du sehen könntest, wie auch in Stralsund alles freudig und voll Gottvertrauen zu den Waffen will. Es haben sich mehr junge wie alte Leute freiwillig gestellt als erwartet war, denn in Stralsund sind jetzt etwa 50 Mann überzählig. Hier sammelten sich aber auch über 20.000 Soldaten. Viele meiner Bekannten haben schon des Königs Rock angezogen. Die ganze Prima des Gymnasiums, mit Ausnahme von zwei Schülern, die nicht tauglich sind, spaziert schon auf dem Kasernenhof. Auch Studenten aus Greifswald dienen hier. Wenn man sieht, wie freudig die Freiwilligen ihren Dienst versehen, wie freudig auch unsere 42-er gestern zur französischen Grenze fuhren, dann muß man sagen: es ist nicht auszudenken, daß ein Volk, das so begeistert in den Kampf zieht wie wir, zu Grunde gehen kann. Darum wollen wir den Lenker der Schlachten um den Sieg bitten. Wir werden denen, die den Krieg leichtsinnig heraufbeschworen haben,