Michael Stuhr

DIE GABE


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die Waffe fiel zu Boden. Hastig griff der Jäger nach seinem Messer, aber er spürte nur die Hand seines Gegners, die den Griff bereits fest umklammerte, während die andere Hand sich in seine Kleidung krallte.

      Ohne auf den Widerstand seines Gegners zu achten, riss Taureau blitzschnell das Messer heraus und brachte es an den Hals des Jägers. Statt ihm aber nun einfach die Kehle zu durchstechen, führte er die breite Klinge in den Kragen des Hemdes und schnitt seinem Gegner mit einer einzigen Bewegung die Kleidung bis hinunter zum Gürtel auf.

      Der Jäger stieß einen Wehlaut aus und krümmte sich Taureau entgegen, Eine blutige Spur zog sich vom Hals hinab über Brust und Bauch. Der Mann ahnte, was der Darksider vorhatte und versuchte zurückzuweichen, aber es war ihm unmöglich, dem eisernen Griff seines Gegners zu entkommen.

      Der Dolch fiel in den Sand und mit unwiderstehlicher Gewalt presste Taureau den Brustkorb des Jägers an seinen nackten Oberkörper. Haut traf auf Haut, und sofort begann die Lebenskraft zu fließen.

      Die Knie des Jägers knickten ein, aber er wurde unerbittlich aufrecht gehalten. Er war kaum mehr als eine Lumpenpuppe in den Armen des Darksiders, dessen Kräfte von Augenblick zu Augenblick immer mehr anwuchsen.

      „Nein!“ Ein letztes Aufbäumen, aber der Jäger war schon zu schwach, um mit seinen Abwehrbewegungen noch etwas ausrichten zu können. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren und die angstvoll aufgerissenen, dunklen Augen in dieser grauen Maske des Entsetzens verliehen seinem Kopf das Aussehen eines Totenschädels. „Ich will nicht sterben!“

      „Aber du wirst leben!“, lachte Taureau. „In mir wirst du weiterleben für alle Zeiten“, aber das hörte der Jäger schon nicht mehr. Ausgelaugt hing sein Körper in den Armen seines Feindes, und der Kopf sackte zur Seite. Taureau umfasste ihn noch fester und brach ihm mit einem kleinen Ruck das mürbe gewordene Rückgrat, bevor er ihn zu Boden gleiten ließ.

      Nicht ein einziger Funke Lebenskraft war noch in dem Körper, der wie ein Bündel Lumpen im Sand lag. Lumpen mit grauer, alter Haut und ein paar brüchigen Knochen darin. Niemand wäre je darauf gekommen, dass dieser ausgedörrte Leichnam vor wenigen Augenblicken noch ein junger Mann gewesen war.

      Der Darksider schaute auf und wandte sich dem Kind zu, das immer noch starr vor Entsetzen dastand und die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Die Kleine war jung und voller Lebenskraft. Die Flamme der Gier züngelte in ihm hoch. „Komm her!“, sprach er das Mädchen an. „Du musst keine Angst haben. Komm her!“

      Der Mann, der bei dem Toten stand sah schrecklich aus. Sein nackter Oberkörper war blutverschmiert und aus seinem Rücken ragte immer noch der Schaft des Armbrustbolzens. Ein Ruck ging durch den Körper des Mädchens, als wolle es fortlaufen.

      „Nun komm schon! Ich tu dir nichts!“

      Etwas in der Stimme des Mannes bewirkte, dass das Mädchen langsam und zögerlich Schritt für Schritt auf ihn zuging. Taureau konnte sehen, dass die Kleine Angst hatte, aber gehorsam setzte sie Fuß vor Fuß. Er streckte ihr die Hand entgegen und als sie in seine Reichweite kam, griff er zu.

      „Du wirst mir jetzt den Pfeil aus dem Körper ziehen“, forderte er, und als das Mädchen ihn erschreckt ansah, setzte er hinzu: „Ich habe Schmerzen und nur du kannst mir helfen. Das willst du doch?“

      Die Kleine nickte stumm und Taureau kniete sich vor sie in den Sand, damit sie den Pfeilschaft besser erreichen konnte. „Du musst es mit einem einzigen Ruck schaffen“, sagte er. „Setz mir ruhig einen Fuß auf den Rücken, damit du genug Kraft hast, und dann – ein einziger Ruck!“

      Aus den Augenwinkeln nahm Taureau wahr, dass die Kleine aus ihren Holzschuhen schlüpfte. Schon spürte er einen warmen Fuß auf seinem Rücken und die wütenden Schmerzwellen in seinem Körper zeigten ihm an, dass sie ihre Hände fest um das Ende des Pfeils schloss. „Jetzt!“, kommandierte er und brüllte im gleichen Moment laut auf, als der Armbrustbolzen mit einem hässlichen Knirschen an der zersplitterten Rippe entlang glitt. Zum Glück war die Spitze glatt und hatte keine Widerhaken.

      „Danke!“, presste Taureau mühsam hervor. Warm rann das Blut über seinen Rücken. Nun wurde es wirklich Zeit, dass er ins Wasser kam, um die Heilkräfte des Meeres auf sich wirken zu lassen. Nur dann konnte er überleben. Aber zuerst gab es hier noch etwas zu erledigen. Er schaute die Kleine, die neben ihm stand und immer noch den blutigen Pfeil in der Hand hielt, nachdenklich an.

      „Wirf das weg!“

      Gehorsam ließ das Mädchen den Pfeil fallen.

      „Gib mir deine Hand!“

      Die Kleine streckte ihm die Hand entgegen. Der Darksider ergriff sie, bedeckte sie mit der anderen Hand und konzentrierte sich.

      „Tut das gut?“, wollte Taureau von dem Mädchen wissen.

      Die Kleine sah ihn verwundert an und nickte stumm.

      „Spürst du die Kraft, die in dich hineinströmt?“

      Wieder ein Nicken.

      „Du wirst lange leben“, sagte Taureau und ließ die Hand des Mädchens los. „Geh jetzt!“ Er nahm den Bann der Hypnose von ihr.

      Die Kleine schaute sich erstaunt um, sah den Leichnam, das Blut, den Pfeil und die Waffen. Mit entsetztem Gesichtsausdruck wich sie vor dem fremden Mann zurück, wirbelte herum und rannte davon. Schnell wie ein verängstigtes Reh flüchtete sie über die Düne und war Augenblicke später verschwunden.

      „Langes Leben, Kleine“, flüsterte Taureau, lächelte, streifte achtlos den Rest seiner Kleidung ab und ging hinunter zur Wasserlinie, die in der kurzen Zeit schon deutlich zurückgewichen war. Erleichtert seufzte er auf, als die erste Brandungswelle ihn erreichte und seine Füße mit Salzwasser benetzte. Viel zu lange hatte er auf das Meer verzichten müssen. Langsam und kontrolliert ging er voran. Jeder Schritt tiefer in die eiskalte Brandung hinein brachte mehr Erleichterung. Er spürte, wie sein Körper begann, sich umzustellen. Er spürte die beißende Kälte des Wassers nicht mehr. Der Schmerz in seinem Rücken war unbedeutend geworden. Es gab nur noch das wohlige Gefühl, endlich da angekommen zu sein, wohin er wirklich gehörte.

      Nach diesem Vorfall würde Taureau nicht mehr nach Saint Malo zurückkehren können, das war ihm klar, aber es war nicht das erste Mal, dass er eine Stadt fluchtartig verlassen und seine Identität ändern musste. Vielleicht würde er für eine Weile nach Cornwall gehen, wo Sochon, der König seines Volkes zurzeit residierte. Alles Weitere würde sich finden.

      Ein letztes Mal schaute Taureau sich um, aber außer dem Toten war niemand mehr am Strand zu sehen. Kraftvoll stieß er sich von einem Felsen ab und war sofort in den Wellen verschwunden.

      01 TOTENGANG

      Mir ist kalt. Die Luft ist feucht und es riecht modrig. Der Boden ist mit kalkiger Nässe und milchigen Pfützen bedeckt. Fröstelnd ziehe ich die dünne Sweatjacke enger um meine Schultern. Aber die Gänsehaut bleibt.

      Langsam gehe ich weiter durch diesen düsteren Gang, der kein Ende zu nehmen scheint. Die anderen sind schon lange vorgegangen, aber ich kann mich nicht so schnell trennen von diesem Anblick. Dunkle Augenhöhlen starren mich aus Totenschädeln an, die ordentlich ausgerichtet in Reih und Glied an beiden Seiten des Stollens gestapelt sind.

      All diese vergangenen Leben voller Freude und Trauer, Liebe und Hass. Was mögen diese nun leeren Augenhöhlen wohl alles gesehen haben? Ich stehe vor einem Schädel und versuche mir auszumalen, wie dieser Mensch wohl ausgesehen haben mag. War es ein Mann oder eine Frau? Wie alt war er? War er glücklich in seinem Leben? Hat er geliebt, wurde er geliebt, musste er einen schmerzhaften Tod sterben?

      Mich schaudert, denn mir wird bewusst, dass nichts übriggeblieben ist von all diesen Menschen, weder ihre Namen, noch ihr Geschlecht oder ihr Alter. Sie durften noch nicht einmal die Knochen behalten, die früher zu ihrem Körper gehört haben. Die liegen nun seit Jahrhunderten in einer grotesk geometrischen Anordnung aufeinandergestapelt in diesem Gruselkabinett.

      Ein paar von Diegos Leuten könnten diese Menschen hier noch