Gabriele D`Amori

Der Lehrling


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das Wohlbehagen stetig und zunehmend in Anstrengung und Mühe. Pauls kleine Füße begannen zu schmerzen. Er beneidete nun seinen jüngeren Bruder, aber zunehmend stärker auch seine um ein Jahr ältere Schwester, die immer öfter auf dem Wagen mitfahren durfte. Als er darüber klagte, sagte die Mutter wie auch die Tante, er sei doch ein ausdauernder und willensstarker Junge und solle durchhalten. Dies erfüllte ihn derart mit Stolz, dass er weiterlief. Er hielt durch bis zu der neuen Behausung im Weinort Maikammer und genoss die Bewunderung der Erwachsenen, obwohl er total erschöpft war und keinen Meter mehr gehen konnte.

      Die Ankömmlinge waren nicht sehr willkommen. Der Bürgermeister, bei welchem sie ihre Ankunft meldeten, klagte über die Belastung des Ortes durch die vielen Zwangszugewiesenen, vor allem über fehlenden Wohnraum, und zeigte sich als wenig verständnisvoll. Die Verwandtschaft von Anna verwies auch prompt auf die eigenen, beengten Wohnverhältnisse und die vorhandene schlechte Ernährungslage, da mit Wein in diesen Zeiten kaum etwas zu verdienen sei und man mit Wein nicht satt werden könne. Nur durch Mitarbeit im Wingert sei eine gewisse Hilfe möglich, so offerierten sie Anna. Wie sollte sie dies aber mit ihren drei kleinen Kindern bewerkstelligen? Tante Marga musste schnell wieder abreisen, da sie in der Kriegswirtschaft gebraucht wurde. Anna war nun ganz auf sich selbst gestellt in diesen unerfreulichen Verhältnissen. Die Kinder hatten es ebenfalls nicht leicht im Dorf. Erwachsene wie Kinder des Ortes sahen in ihnen unerwünschte Fremde und behandelten sie entsprechend unfreundlich. Der Mensch war in dieser Zeit reduziert auf das Überleben des eigenen Ichs; ein Selbsterhaltungswille, der alles andere dominierte. Anna war gezwungen ihre Kinder überallhin mit zunehmen, auch zur Arbeit in den Weinbergen.

      Um für den kommenden Winter Brennholz zu besorgen, zog sie mit ihren Kindern in den nahen Wald, in dem es jedoch nur erlaubt war, Reisig aufzusammeln, nicht aber Äste oder kleine Bäume zu schlagen oder gar Hölzer von Holzstapeln zu entnehmen. Alles wurde genauestens beobachtet und notfalls geahndet. Vor Wildtieren brauchte sich Anna jedoch nicht zu fürchten. Wildschweine, Rehwild, Hasen und anderes Getier waren längst aus dem Pfälzerwald verschwunden und als Mahlzeit geendet. Paul erinnerte sich später noch genau an eine solche Reisigsammelaktion. Auf einem Weg zur Kalmit (einer Bergeshöhe nahe des Weinortes), als Anna eine Anhöhe an der Straße erklomm und damit aus seinem Blickfeld verschwand, überkam ihn ein panikartiges Gefühl des Verlustes, das ihn dazu trieb, der Mutter hinterher zu steigen. Der Hügel war jedoch zu steil. Auf halber Höhe verlor er den Halt und stürzte ab. Im Sturz spürte er zum ersten Mal in seinem bisher kurzen Leben Todesangst, die sich von allen bisherigen Ängsten unterschied, unbeschreiblich und grauenhaft. Er landete glücklicherweise im Gestrüpp ohne eine Schramme.

      Der Krieg neigte sich dem Ende, im Weinort allerdings einem Höhe- punkt, zu. Die amerikanischen Truppenverbände waren in die Pfalz vom Westen her eingedrungen und standen kurz vor dem Einfall in die Ebene, den Rhein als Ziel. Im Weinort sprach man von nichts anderem, als von dem bevorstehenden Einmarsch der Amerikaner am nächsten Tag. Vor Sorge um Beschuss und Zerstörung des Ortes ordnete der Bürgermeister an, weiße Flaggen oder Tücher an den Häusern auszuhängen und den Ort somit zu übergeben. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages waren bereits Kettengeräusche von Kampfpanzern zu vernehmen, als ein Militärfahrzeug mit SS Besatzung am Rathaus vorfuhr. Eilig zerrten sie den Bürgermeister heraus und, vor den Augen der Bürger, hängten sie ihn an der Laterne davor auf. Dann fuhren sie davon. Wenig später, zu spät, rollten die amerikanischen Panzer durch den Ort, um ohne Halt weiter in die Ebene vorzustoßen. Man hängte den Bürgermeister ab, schaffte ihn zum Friedhof, legte ihn in die Leichenhalle und kehrte in die Häuser zurück, um die weiteren Dinge abzuwarten. Bis zum späten Nachmittag geschah nichts. Dann ging schnell das Gerücht um, die mit den Amerikanern verbündeten französischen Soldaten würden nun nachrücken und ihre marokkanischen Truppenteile vorausschicken. Diese Schreckensmeldung hatte zum Inhalt, dass diese Marokkaner, mit dem Messer quer im Mund, völlig enthemmt, jede deutsche Frau, ob jung oder alt, vergewaltigen oder töten würden, ohne, dass französiche Vorgesetzte einschritten.

      Anna und die vielen Frauen im ehemaligen Weingut waren verzweifelt und standen noch im Hofgelände herum, als der polnische Zwangsarbeiter Rudkowski, ein kräftiger Mann, welcher in den Weinbergen arbeiten musste und den die Frauen wegen seiner vielfältigen Dienste, die er ihnen nebenbei leistete, man spricht durchaus auch von einigen Liebesdiensten, sehr gut behandelt hatten, herbeieilte und ihnen befahl, sie sollten sich augenblicklich in ihre Räume begeben und ihm alles weitere überlassen. Etwa eine Stunde später rückten die marokkanischen Truppen tatsächlich in den Ort ein und begannen mit der befürchteten Plünderung. Rutkowski stand am verschlossenen Tor des Weingutes, angetan mit seiner Jacke, die ihn als Zwangsarbeiter kenntlich machte, und erklärte den immer wieder Einlass begehrenden dunkelhäutigen Soldaten in einem recht passablen Französisch, dass in diesem heruntergekommenen Haus nur Zwangsarbeiter wie er selbst, untergebracht seien. Sie glaubten ihm, zumal die französischen Offiziere zur Eile drängten, da diese die Bezirkshauptstadt als lohnenderes Objekt vor Augen hatten. Rutkowski hatte sich menschlich gezeigt, weil er zuvor entsprechend behandelt worden war und, bei uns Menschen selten genug, dafür Dankbarkeit zeigte. Keiner wusste später zu sagen, was aus ihm geworden war. In der Erinnerung der Frauen blieb er für immer ein Held. Paul hatte diese Geschichte nicht von seiner Mutter Anna, sondern später von seiner Großmutter Kati erfahren. Obwohl die doch gar nicht dabei gewesen war. Also, ob sich alles genauso zugetragen hatte? Jedenfalls schwor die Großmutter, so und nicht anders sei es gewesen.

      Der Krieg war noch nicht zu Ende, die Pfalz jedoch war erobert. Die Front verlief jetzt mitten durch den Rhein. In der Stadt Ludwigs I. standen die Amerikaner und Franzosen. In der Schwesterstadt Mannheim mit dem größten Barockschloss Deutschlands, nur durch den breiten Strom getrennt, die deutschen Truppen. Im hastigen Rückzug der deutschen Armee wurde ein großer Teil der Ausrüstung zurückgelassen. Paul konnte sich noch genau erinnern, dass auf dem Weg von ihrem Evakuierungsort Maikammer, dem Weinort an der Deutschen Weinstraße, zu dem neuen Wohnort Oggersheim, einem Vorort der zerstörten Großstadt am Rhein, links und rechts der Landstraße Fahrzeuge aller Art sowie Geschütze, Panzer, Gewehre, Helme und andere Dinge in wildem Durcheinander herumlagen.

      Zu diesem Zeitpunkt, also der Rückkehr der kleinen Familie zum Ausgangspunkt ihrer Flucht, war der Krieg vorbei. Amerikanische Truppen hatten zuvor den Rhein trotz zerstörter Brücken überquert und schnell den Rest Deutschlands, mit ihren Alliierten zusammen, erobert. Für kurze Zeit, das heißt für wenige Wochen, blieben die Amerikaner noch in der Pfalz, ehe sie diesen Landesteil den Franzosen überließen. In diesen amerikanischen Tagen, so konnte sich Paul weiter erinnern, trafen mit ihm noch andere Kinder auf die amerikanischen Soldaten, die ihnen die noch unbekannten Kaugummis schenkten und die Zigaretten rauchten, auf deren Packungen die Aufschrift Luky Strike stand. Einmal warfen vorbeifahrende Amerikaner aus dem Lastwagen Rosinenbrote zu den am Straßenrand winkenden Kindern hinunter. Paul eroberte zusammen mit seinen Geschwistern ein solches Brot, das sie triumphierend nach Hause trugen.

      Die Heimstadt von Annas Familie nach Kriegsende war zunächst das Haus der Schwiegereltern, die Eltern von Annas Mann Emil, welcher sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, fern der Heimat, befand. In Frankreich gefangen genommen, war er gerade unterwegs nach den Vereinigten Staaten. Man fuhr diese Gefangenen mit dem Schiff an der Freiheitsstatue vorbei und dann weiter nach Kanada, wo sie bei klirrender Kälte mit Pferden als Transportmittel, in den Wäldern der Rocky Mountains Bäume fällen mussten.

      Die Schwiegereltern waren ein seltsames Paar. Die Schwiegermutter Maria, kurz Ria, war fünf Jahre älter als ihr Mann Alfred. Diese Ria war einmal eine sehr schöne, rassige Frau gewesen, die jedoch vom Schicksal wenig rücksichtsvoll behandelt wurde, so dass sie vorzeitig gealtert war. Als junge Frau gerade ein Jahr verheiratet und mit einem männlichen Nachkommen gesegnet, welcher Emil getauft wurde und später einmal Annas Ehemann werden sollte, verlor ihren geliebten Paul, Großvater unseres Paulchen, in den ersten Tagen des Ersten Weltkrieges. Als Tambour, im Namen des Großherzogs von Baden die Anhöhen der Vogesen erstürmend, wurde er verwundet und starb am fünfzehnten September des Jahres 1914. Sein Grab kann heute noch bei St. Die auf einem Soldatenfriedhof gefunden werden.

      Eigentlich besaß Paul drei Großväter, anstatt nur zwei, wie es normal ist. Aber von den dreien war nur einer, nämlich Alfred Jasper, verfügbar. Von den anderen zwei, das heißt den leiblichen Großvätern, war der eine, Paul