Gabriele D`Amori

Der Lehrling


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Andere, der dritte schließlich, Ludwig Reich, der Ehemann von Großmutter Kati, war Anfang der zwanziger Jahre, der Arbeitslosigkeit überdrüssig, in die USA ausgewandert; unter Zurücklassung von Frau und drei Kindern! Wie man Paul einmal sagte, hätten nur die Ehefrau, nicht jedoch die Kinder, aufgrund der amerikanischen Einwanderungsbestimmungen, mit Ludwig einreisen können. Das lehnte Kati natürlich ab. Ansonsten war das Thema amerikanischer Großvater tabu. Letztlich blieb Paul ein Großvater erhalten, der Stiefgroßvater Alfred, auf welchen wir in dieser Geschichte noch oft stoßen werden.

      Großvater Alfred

      Eine Gruppe wartender Menschen stand sehr früh an diesem Sonntagmorgen an der Haltestelle für den Postbus am Schillerplatz in Oggersheim. Die Kinder und Erwachsenen trugen feste Schuhe und zum Wandern geeignete Kleidung und, was besonders auffiel, fast jeder, ob alt oder jung, hielt einen Wanderstock in der Hand, welcher mehr oder weniger umfangreich mit aufgenagelten blechernen Abzeichen, manche sogar in emaillierter Ausführung, bestückt war. Es waren Trophäen von erwanderten Orten im Pfälzerwald, denn hier standen etwa dreißig erwachsene Mitglieder des Pfälzer Waldvereins, Ortsgruppe Oggersheim, mit Kindern und Jugendlichen, zusammen etwa fünfzig Personen.

      Der gelbe Postbus kam jetzt in Sicht. Großvater Alfred sagte nun zu Paul: „Sieh zu, dass du für deine Großmutter und mich ein paar schöne Plätze im Bus reservierst.“ Paul drängte sogleich nach vorne, mitten in die ebenfalls vordrängende Kinderschar, die vermutlich dieselbe Aufgabe hatte, hinein. Der Busfahrer hupte, trotz Sonntagsstille im Ort, aus Sorge, er könne eines der herandrängenden Kleinen verletzen, bog langsam in die Haltebucht ein und hielt an. Kaum hatte sich die Bustür geöffnet, ergoss sich die Kinderschar ins Innere wie ein vorher aufgestautes Gewässer nach Entfernung des Dammes. Paul war von der Meute mitgerissen worden und fand in der Mitte des Busses noch zwei freie Plätze, die er belegte, indem er den zum Gang liegenden Platz einnahm und seinen Stock auf den Fensterplatz legte. Danach folgten die Erwachsenen, welche mit ihren Blicken die Platzhalter suchten und, durch Winken und Rufen aufmerksam gemacht, auf ihre reservierten Plätze zusteuerten. Großvater Alfred und Großmutter Maria waren mit ihren Plätzen zufrieden und schickten Paul nach hinten zu den anderen, wie sie sich ausdrückten. Die Jugend saß hinten im Bus. So war es Brauch, wie Paul von einem der Kinder erfuhr. Er war zum ersten Mal dabei und kannte niemanden hier. Seine Geschwister Eva und Gerhard waren längst schon einmal oder mehrmals von den Großeltern mitgenommen worden, nur er, Paul, nicht. Warum? Wie er später erfuhr, war sein jüngerer Bruder Gerhard, der zuallererst dabei war, den Wünschen des Großvaters nur widerwillig oder gar nicht gefolgt. Zudem hatte er wohl nicht zur Geselligkeit beigetragen, sondern nur laufend nach Essen und Trinken verlangt. Die ältere Schwester Eva, die auch schon mitgenommen wurde, hatte jedoch, da sie fast stets das Wochenende bei ihrer Tante Marga verbrachte, gar keine Zeit, obwohl gerade Großvater Alfred wegen des kleinen niedlichen, blonden Mädchens viel Aufmerksamkeit unter den Mitwanderern erhalten hatte und sie deshalb gerne bevorzugt mitgenommen hätte. Nun also war der stille Paul dabei, sozusagen als Notnagel! Er hatte die erste Probe bestanden, denn er konnte von hinten aus beobachten, dass der Großvater, auf dem Gangplatz sitzend, in reger Konversation mit einem Nachbarn vertieft war. Dies liebte der alte Mann, der sehr viel von gepflegter Unterhaltung und Gedankenaustausch hielt.

      Die Tour am heutigen Sonntag sollte von der zurückzulegenden Strecke nicht allzu anspruchsvoll sein. Andere Wanderungen hatten jedoch auch schon mal acht oder neun Stunden betragen. Die Wanderungen waren stets so organisiert, dass eine ausgiebige Zwischenrast nach etwa der Hälfte der Strecke, sowie eine noch ausgiebigere Schlusseinkehr vorgesehen waren. Zur Vorreservierung in Hütten und Gaststätten für die große Gruppe war am Wochenende davor einer, in der Regel aus zwei Vereinsmitgliedern bestehender, Vortrupp unterwegs, der auch die Strecke klarmachte. Der gelbe Bus war noch keine halbe Stunde unterwegs, als er Bad Dürkheim erreichte und mitten im Ort auf dem Stadtplatz anhielt. Alles stieg nun aus, richtete die Kleidung und Hüte zurecht und bewegte sich langsam durch die Gassen des Ortes in Richtung der Limburg, auf die ein Wegweiser hinwies. Der grüne Hut von Großvater Alfred zierten mehrere Abzeichen des Pfälzerwaldvereins, die sich in Details ein wenig voneinander unterschieden. Paul, der neben dem Großvater Schritt hielt, erkundigte sich danach und erhielt einen längeren Vortrag über die Länge der Mitgliedschaft und der damit verbundenen Ehrenabzeichen.

      Großvater Alfred war bereits lange vor dem Krieg Mitglied im Pfälzerwaldverein aus zweierlei Gründen geworden. Zunächst war er, der im Schwarzwald in der Nähe von Waldshut, der Stadt an der Schweizer Grenze, geboren wurde, von der Pfalz begeistert und bezeichnete sie als die Toskana Deutschlands und zum anderen, war er, der eine Praxis für Naturheilkunde in Oggersheim betrieb, an Kontakten mit Personen interessiert, die er während der Waldspaziergänge als zukünftige Patienten zu gewinnen suchte. Dieser, nunmehr etwas über sechzigjährige Mann mit dem Schnäuzer, äußerlich dem berühmten Chirurgen Sauerbruch zum Verwechseln ähnlich sehend, hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Als zweitjüngster Sohn eines Schreinereibesitzers hatte er nach der Lehre als Schreiner nur die Möglichkeit den Heimatort zu verlassen. Er versuchte es in verschiedenen Berufen, wie beispielsweise im Badischen als Gerichtvollzieher in Karlsruhe oder als Straßenbahnführer in Mannheim. Als junger Mann hatte er sich im ersten Weltkrieg freiwillig zur Marine gemeldet, jedoch diese, wegen nicht ausreichender Schulbildung, nach Kriegsende nur mit einem niedrigen Dienstgrad verlassen. Allerdings hatte er sich eine verbesserte Aussprache angeeignet; er sprach nun ein fast perfektes Hochdeutsch ohne Anlehnung an sein ursprüngliches Alemannisch. Er versuchte mit einem Partner zusammen sich in die Naturheilkunde einzuarbeiten. Hier erschienen sich ihnen aussichtsreiche berufliche Perspektiven zu eröffnen, zumal Alfred, der schrecklichen Weltkriegserfahrung zufolge, sich dem katholischen Glauben und der Natur in besonderer Weise geöffnet hatte. Dabei waren ihm Schriften der Hildegard von Bingen in die Hände gefallen, die ja bekanntlich in der katholischen Kirche als Heilige verehrt wird. Diese Frau, die im zwölften Jahrhundert im Kloster Rupertsberg bei Bingen am Rhein, lebte, hatte sowohl auf den Gebieten der Theologie, der Biologie und der Medizin, wie auch der Musik, Erstaunliches geleistet und schriftlich hinterlassen. Wenn auch Alfred zu der Lehrmeinung in der katholischen Kirche tendierte, dass Frauen aus eigener Kraft und Gedankenstärke nicht zu theologischen Erkenntnissen in der Lage seien, so war er doch von ihren Abhandlungen über Pflanzen und Krankheiten fasziniert. Das Buch über Ursachen und Heilungen (Causae et Curae), welches über die Entstehung und Behandlung von verschiedenen Krankheiten, sowie das Buch über Beschaffenheit und Heilkraft der verschiedenen Kreaturen und Pflanzen (Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum), die beide zu den Standardwerken der Naturheilkunde zählen, hatte er zwar nicht im Original, jedoch einiges über den Inhalt der Bücher, gelesen. Was ihm einzuleuchten schien, war die grundlegende Beschreibung der menschlichen Lebenskräfte in der Einheit von Seele, Leib und Sinnen, die in ständiger Wechselwirkung stehen und aufeinander einwirken würden. Und was ihm sehr gut gefiel, waren die Empfehlungen Hildegards von Bingen hinsichtlich einer religiösen Lebensführung, der Beachtung göttlicher Naturgesetze und das Wissen um die heilsamen Kräfte der Pflanzen.

      Mit seinem Partner zusammen besuchte er nunmehr fleißig Veranstaltungen des Deutschen Heilpraktikerbundes, um die Zulassung zum Heilpraktiker zu erlangen. Was ihm dabei als besondere Mahnung eines Dozenten in Erinnerung blieb, war dessen Zitat des römischen Politikers und Philosophen Seneca: Ein Teil der Heilung ist noch immer, geheilt werden zu wollen und damit verbunden die Aufforderung, in diesem Sinne, auch auf das mentale Verhalten des Patienten einzuwirken. Was Alfred aber öfter schmerzlich bewusst wurde, war der Mangel an medizinischen Kenntnissen, der nur durch ein Medizinstudium zu beheben war. Daher beschloss er, auch ohne Studienberechtigung, an entsprechenden Vorlesungen in Heidelberg teilzunehmen, in vollem Bewusstsein an deren Illegalität und der besonderen Schwierigkeiten des Zugangs zu den Vorlesungsräumen. Sein Partner wollte da nicht mitmachen und blieb lieber zu Hause.

      Alfred hatte gerade die altehrwürdige Heidelberger Universität verlassen, wo er sich die Vorlesung zur Allgemeinen Anatomie, das heißt speziell zum Bewegungsapparat und der Eingeweidelehre, wie erwähnt, ohne Studienberechtigung, heimlich angehört hatte und war auf dem Weg in Richtung Neckarufer, als er auf dem Promenadenweg einer sehr schönen Frau begegnete, die ihm im Vorübergehen scheinbar anzulächeln schien. Das war der Moment, der in ihm den Gedanken auslöste, dass er mit seinen sechsundzwanzig