Gabriele D`Amori

Der Lehrling


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Murmeln, nach den ähnlichen, einfachen Regeln spielten, wie sie heute noch gelten. Pauls Bruder Gerhard beherrschte das Murmelspiel meisterhaft und lief stolz mit seinem großen randvollen Stoffbeutel, den Mutter Anna genäht hatte, herum. Er war ständig auf der Suche nach einem Opfer, das ihm zur Vergrößerung seines Schatzes verhelfen sollte.

      Paul hatte noch andere Vorlieben, als nur dieses Spiel. Er saß gerne in der kleinen Wohnküche der Dachwohnung in der Beethovenstraße bei Mutter Anna und spielte mit Soldatenfiguren aus Plastelin, die teilweise beschädigt waren und Uniformierte aus beiden Weltkriegen darstellten. Mutter Anna bügelte und ließ dabei den Volksempfänger laufen. Meist hörte sie volkstümliche Sendungen, wie zum Beispiel Pfleiderer und Häberle mit ihren Sketchen in schwäbischer Mundart. Manchmal jedoch kamen Musiksendungen mit klassischer Musik oder sogar Opernkonzerte, wo sie bei Arien weiblicher Sängerinnen sofort Paul aufforderte: „Stell bitte diese schrille Stimme ab“, oder bei ernster Musik, Paul um Senderumschaltung bat. „Das ist ja nicht zum Aushalten“, sagte sie dann entschuldigend. Paul jedoch fand klassische und Opernmusik durchaus nicht schrecklich, wagte aber nicht zu widersprechen. Wenn sich die Gelegenheit ergab, schaltete er den Volksempfänger ein und suchte nach dieser seltsam ergreifenden Musik.

      Großes Vergnügen fand Paul auch an der Beschäftigung mit den wenigen Büchern, welche die Familie besaß. Die kleine Bibliothek hatte Vater Emil kurz vor Kriegsbeginn auf dem Trödelmarkt in Ludwigshafen erworben. Wahrscheinlich gehörten sie, wie ebenso Möbel, Einrichtungsgegenstände jeglicher Art, Kleidung und vieles andere, was dort angeboten wurde, ehemals jüdischen Mitbürgern, die über Nacht aus der Stadt verschwunden waren. Die Sachen waren preiswert und die Verkäufer gaben keine Auskunft über deren Herkunft. Es wollte auch keiner so genau wissen. Vater Emil hatte kein besonderes Interesse an Büchern, er las für gewöhnlich nur die tägliche Zeitung, Die Rheinpfalz. Seine junge Ehefrau Anna war jedoch schwanger und er gedachte seiner Kinder, die er bald zahlreich haben wollte, als er das günstige Angebot sah und überlegte, ob er für sie einige Bücher im Voraus kaukaufen sollte. Er suchte solche Bücher aus, von welchen er annahm, dass sie für Kinder geeignet seien. Von diesen Büchern hatten tatsächlich einige, trotz Ausbombung und den Umzügen mit der Handkarre, den Krieg überlebt. Paul gefielen einige Bücher besonders gut. Das war der Band mit Brehms Tierleben, in welchem die exotischsten Tiere, oft mit angedeuteter Umgebung, zeichnerisch dargestellt waren. Da waren Elefanten vor der Savanne im Hintergrund, Menschenaffen im Urwald, Wale in den Wellen des Ozeans und viele andere, auf Hochglanzpapier zu sehen. Die gebundene Ausgabe mit kräftigem, braunen Buchdeckel war jedoch durch die vergangenen Ereignisse etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, was nicht weiter störte. Der Band Die Nibelungen war sein Lieblingsbuch, dessen Text er, nachdem er Lesen konnte, viele Male verschlungen hatte. Auch diese Ausgabe enthielt viele Bilder von Burgen, Kampfszenen und dem grimmigen Hagen, welche die kindliche Phantasie anregten. Weitere Bücher waren Grimms Märchen, ein Märchensammelband mit, unter anderem, dem Märchen von Adelbert von Chamisso, Schlemihls wundersame Geschichte, dem Mann der seinen Schatten verlor, dann einige andere Märchenbände und schließlich die Bände einer Kurzausgabe des Brockhaus Konversationslexikons. Paul konnte stundenlang in diesen Büchern lesen und, da es so wenige waren, immer wieder lesen. Die Texte, in anspruchsvoller, vielleicht etwas veralteter Ausdrucksweise geschrieben, waren im nach hinein gesehen, Pauls eigentliche Bildung seines Sprachempfindens und auch seiner Rechtschreibung. Dazu kam noch das Sprechen der Texte durch Vorlesen und das Aufsagen auswendig gelernter Gedichte.

      Im Herbst und Winter roch Oggersheim auf den Straßen nach dem Rauch der Brikettfeuerung aus den Öfen der Wohnhäuser. Das Besorgen der Kohle für den Ofen war in der Nachkriegszeit ein großes Problem. Die Eierbrikett waren rationiert und es empfahl sich, sich sehr zeitig bei Kohlenhändler Ermisch anzustellen. wer zu spät kam, den bestraften die nächsten Wintertage mit Kälte. So standen Mutter Anna und Paul um fünf Uhr früh in einer langen Schlange vor der Brennstoffhandlung, die Geschwister waren zu Hause geblieben. Die Schlange bestand zum großen Teil aus frierenden Frauen mit ihren Leiterwägelchen für die Kohle. Um sechs Uhr ging das Tor der Kohlenhandlung auf. Der Kohlenhändler Ermisch und sein Gehilfe arbeiteten sich warm, indem sie die Brikett mit einer Art Schaufel, die aus einer Reihe spitzer Zargen bestand, auf die Kohlenwaage warfen. Diese war selbst wie eine große Schaufel gestaltet, etwa wie so eine für Mehl in der Küche, nur sehr viel größer. Sobald die Schaufel mit der Kohle und die aufgelegten Gewichte im Gleichgewicht waren, löste Herr Ermisch die Arretierung, die Schaufel kippte nach vorne, wo der Gehilfe den geöffneten, mitgebrachten Sack davor hielt und die Kohle hinein rutschen ließ. Um acht Uhr war der Kohleberg verschwunden und das Tor wurde geschlossen. Alle die noch davor warteten, gingen für diesen Tag leer aus. Paul und seine Mutter jedoch fuhren ihren vollen Kohlensack auf dem Wägelchen zu ihrer Behausung zurück und schleppten ihn mühsam in den Keller.

      Der Sommer in Oggersheim war für Paul immer etwas Besonderes. Da kaum Autos fuhren, war der Ort eine wahre Idylle der Ruhe. Die Schwalben flogen durch die Gassen zu ihren Nestern unter den Dachtraufen der Häuser. Die Kinder tobten durch den Ort und die Erwachsenen bestellten ihre Schrebergärten, die teilweise noch mitten im Ort lagen, pflanzten Salate und Gemüse an, ernteten Obst und widmeten sich der Kleintierhaltung zum Zwecke der Ernährung. Hühner und Stallhasen, wie man die Karnickel nannte, bevölkerten zahlreich Gehege und Ställe in den Gärten. Paul war an einem dieser heißen Tage im Sommer gerade mit anderen Kindern auf der Straße unterwegs, als sie an einem Haus mit einem Hof davor, vorbei liefen, bei welchem das Hoftor nicht ganz geschlossen war. Kaum waren sie vorbei gerannt, als ein riesiger Deutscher Schäferhund hinter dem Tor heraus auf die Kinder stürzte. Paul, als Letzter, spürte zunächst gar keinen Schmerz, als sich die Zähne des Hundes in sein zartes Hinterteil eingruben. Er stürzte zu Boden, der Schäferhund über ihm; es schien kein gutes Ende zu nehmen. Einige Frauen auf der Straße schrien nun laut auf, was den Hund irritierte, so dass er von Paul abließ und wieder in seinem Hof verschwand. Jetzt erst erfasste Paul ein rasender Schmerz und er lief weinend nach Hause. Mutter Anna ergriff daraufhin ihren Sohn und eilte zornentbrannt in Richtung des Hauses des Hundebesitzers. Zur Beschämung von Paul machte sie jedoch auf diesem Weg jedes Mal Halt, wenn jemand Bekanntes entgegenkam, und riss Paul die zerfetzte Hose herunter um den blutenden Hinter zu entblößen und zu rufen: „Seht, wie furchtbar der Hund zugebissen hat. Man sollte die Hennings (denen der Hund gehörte) streng bestrafen. Das Kind hat doch einen Schaden fürs Leben!“

      Das damals ländliche Oggersheim und seine Umgebung waren im Sommer für Kinder ein Paradies. So zogen sie oft durch die heutige Weimarer-Straße, in welcher heute der Exkanzler wohnt, sich aber damals nur ein Fußweg befand, zu den Fischteichen hinunter, welche der örtlichen Fischereiverein für die Angler betrieb. Höhepunkt war das jährliche Fischerfest, mit Musik, Bierzelt und gebackenen Fischen aus den Teichen. Die Fische waren vormittags im Wettangeln gefangen worden. Der Angler mit der größten Fischbeute wurde abends zum Angelkönig gekürt. Paul empfand den Angelsport als zu passiv. Das stundenlange Anstarren des Schwimmers, oft ohne Erfolg, das ekelhafte Gewimmel der Mehlwürmer, die als Köder dienten und das Töten der Fische, wenn sie am Angelhaken hingen, waren nicht seine Sache. Man muss wohl zum Angler geboren sein, sagte sich Paul und zog mit den anderen weiter über die Wiesen in Richtung Maudacher-Bruch. In den Wiesen fanden sich oft prächtige Champignons, die man sofort verzehrte. Früchte, wie Mehlbeeren und die herben Schlehen, welche den Mund zusammenzogen, wurden gepflückt. Aber es gab auch Übertretungen, wie einmal, als sie einen Schäfer beraubten. Dieser war abwesend, er und seine Herde nicht sichtbar, als sie sich neugierig dem Schäferkarren näherten, einem Gefährt auf zwei Rädern mit Tür, zwei kleinen Fenstern und rundem Dach. Eine Unterkunft wie in manchen Märchen, fand Paul. Einer aus der Vierergruppe rüttelte jetzt an der Tür und siehe da, sie ließ sich öffnen. Vorsichtig betraten sie das Innere. Eine lange, grobe Holzbank und ein Regal bildeten die ganze Einrichtung. Auf der Bank lag eine Decke, ein Kissen und in der Ecke ein Stoffbündel. Im Regal befanden sich noch einige weitere Dinge, für welche die Gruppe jedoch keine Aufmerksamkeit übrig hatte, denn auf dem Tisch lagen mitten drauf mehrere Lagen weißer Hühnereier, mindestens fünfzig Stück, wie Paul schnell überschlug. Seltsam, rätselte jetzt die Gruppe, wie kommt ein Schäfer an so viele Hühnereier, und was macht der bloß damit? „Lasst uns doch einige Eier mitnehmen, es sind ja so viele, dass es kaum auffällt“, sagte einer. „Und, was sollen wir damit“, sagte ein anderer, „hat vielleicht jemand eine Pfanne mit?“ „Eier