Anton Theyn

Keine Anleitung zum Mord


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sondern der richtige Abwurfmoment. Jeder Schüler lernt schon in der 10. Klasse, dass jeder Körper, ungeachtet seines Gewichts, gleich schnell fällt, sofern der Luftwiderstand keine Rolle spielt. Was mit einem kleinen Apfel funktioniert, funktioniert auch mit einem Stein, einem großen Stein.

      Nachdem ich das beherrsche, steige ich in die nächste Schwierigkeitsklasse auf. Ich nehme mir den ICE vor. Ein kleiner Apfel sollte keinen größeren Schaden anrichten. Hier ist die Situation realistischer. Ich habe nur einen Versuch und die Geschwindigkeit eines ICE kommt etwa der eines Ferraris gleich. Um das Szenarium möglichst realistisch zu simulieren, fahre ich nach dem Abwurf sofort weg. Es erhöht die Spannung und ich laufe weniger Gefahr, dass mich eine alarmierte Polizeistreife aufgreift. Ich käme in arge Erklärungsnot. Leider sind die Abwurfübungen der einfachste Teil meines Unterfangens. Wie schaffe ich es, keine Spuren zu hinterlassen?

      Den Stein durch einen Eisklotz zu ersetzen, könnte das Problem lösen. Die Wirkung dürfte etwa die gleiche sein. Der Eisklotz wird zerbersten, die Splitter in kürzester Zeit wegschmelzen und damit als Beweismittel wegfallen. Falls es erforderlich werden sollte, hätte ich kein Alibi. Da muss ich mir noch etwas einfallen lassen. Zuerst werde ich mir ein weiteres Fahrrad besorgen.

      Gleich am nächsten Samstag kaufe ich mir bei einer Fundstellenversteigerung ein brauchbares Fahrrad. Ein unauffälliges Mountain-Bike, wie es hundertfach auf den Straßen zu sehen ist, in einem technisch einwandfreien Zustand. Ich werde es ein wenig verändern. Unplattbar muss es werden. Eine Spezialfüllung in den Reifen sorgt dafür, dass selbst bei einem Nagel die Weiterfahrt problemlos möglich ist. Ich muss mich auf mein Fahrrad verlassen können. Weiterhin bekommt meine Neuerwerbung einen Gepäckträger und eine Transportbox. Die Transportbox werde ich bei Gelegenheit noch so modifizieren, dass ich sie mit wenigen Griffen abmontieren kann.

      Beim Eisklotz bin ich hin und hergerissen. Entweder absolut reines Wasser nehmen, da gibt es keine Spuren. Oder Wasser mit so viel Genmaterial, dass man bei einer Untersuchung eine halbe Stadt findet. Ich will sehr, sehr vorsichtig sein. Ich bin Naturwissenschaftler und ein gebranntes Kind.

      Schon als Kind habe ich mit Interesse Bücher über Kriminalistik und die Entwicklung der Spurensuche gelesen. Nachweise der Fingerabdrücke stellten Mitte des 19. Jahrhunderts Gesetzesbrecher vor neue Herausforderungen. Der Handschuh schützt noch heute jeden Einbrecher vor der verräterischen und eindeutigen Spur des Fingerabdrucks. Ohne Schwierigkeiten hätte man im Nachhinein dem Täter die eine oder andere Straftat nachweisen können. In Unkenntnis des Wertes dieser Spuren und mangels kriminaltechnischer Möglichkeiten hat man diese seinerzeit jedoch nicht gesichert. Glück gehabt.

      Seit Ende der 80-er Jahre kennt die Kriminalistik eine starke Waffe bei der Verbrechensaufklärung. Der traditionelle Fingerabdruck wurde durch den genetischen Fingerabdruck, kurz auch DNA-Nachweis genannt, erweitert. Durch entsprechende Kriminalarchive konnte man auch Spuren von Taten auswerten, die weit zurücklagen. Zur damaligen Zeit war aufgrund der kriminalistischen Methoden eine Täterüberführung unmöglich. Man hatte gelernt. Es wurden auch Spuren gesichert, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht verwertbar waren. Jahre und teilweise Jahrzehnte später konnten diese Taten teilweise aufgeklärt werden.

      Die Täter fühlten sich in der Zwischenzeit sicher, hatten meist schon lange nicht mehr mit einer Überführung gerechnet, lebten häufig ein bürgerliches Leben und hatten nicht selten die Tat mehr oder weniger komplett verdrängt. Es werden auch in Zukunft Straftaten aufgeklärt werden können, bei denen die Labors heute noch passen müssen. In regelmäßigen Abständen nimmt sich die Polizei ungelöste alte Fälle, meist Kapitalverbrechen, vor, um zu prüfen, ob die ständig verbesserten kriminaltechnischen Methoden zu neuen Erkenntnissen führen. Und wer weiß, welche Überraschungen die Wissenschaft für uns noch bereithält?

      Ich will sicher sein, dass keine Spuren von mir eines Tages die Ermittler zu mir führen. Tagelang, ob beim Radfahren, einer Tasse Kaffee am Nachmittag oder nachts vor dem Einschlafen - permanent überlege ich, welcher Weg der richtige ist. Ich plane alle Details.

      Letztendlich entscheide ich mich für das Prinzip tarnen und täuschen. Griffe von Einkaufwägen, Geländer, Türgriffe sind nur drei Beispiele für ein riesiges Reservoir, um Genspuren von Hunderten von Menschen zu bekommen. Ein bei Regen im Garten aufgestellte Kunststoffwanne dient mir zur Gewinnung von Regenwasser. Ich darf kein Leitungswasser nehmen. Leitungswasser hat eine völlig andere Zusammensetzung als Regenwasser. Bei einer eventuellen Untersuchung der Eiswürfel wäre sofort klar, dass das Eis nicht natürlichen Ursprungs war.

      Höchste Vorsicht ist geboten. Eine Hautschuppe, eine Wimper oder ein Schweißtropfen könnten verräterische Spuren hinterlassen. Durch meine Laborarbeit sind derartige Gebote für mich nichts Ungewöhnliches. Zwecks Konservierung friere ich das Regenwasser immer sofort ein. Bakterielle Verunreinigungen oder schlimmer noch die Eier einer Stechmücke wären verräterische Spuren. Mittlerweile habe ich nach meiner Einschätzung alle Vorbereitungen getroffen.

      Und ich bewundere täglich mein Meisterwerk: ein einfacher Eiswürfel der Kantenlänge 20 cm und einem Gewicht von 8 kg. Der Stein wäre etwas kleiner ausgefallen. Das Gewicht ist etwas geringer als das des ursprünglich vorgesehen Steins. Wie ein Blitz durchfährt mich ein Gedanke. Ich fürchte, der Klotzt ist zu stabil und braucht nach dem Aufprall zu lange, bis er weggeschmolzen ist. Ich muss ein Experiment durchführen. Mein Original bleibt unberührt. Um das ist es zu schade. Ich brauche eine Kopie, die leicht herzustellen ist. Allerdings brauche ich etwas Zeit. Ein Eisklotz lässt sich nicht in zwei Stunden herstellen. Mindestens einen Tag muss ich mich gedulden.

      Mit dem Mountainbike fahre ich den neuen Eisklotz zu einer alten Eisenbahnbrücke. Bevor ich mein Experiment durchführe, fahre ich ein paar Runden um die alte Brücke. Die vielen Stechmücken in dieser Ecke machen ein längeres Verweilen von Jugendlichen in Feierlaune oder Liebespärchen, die ein paar romantische Stunden verbringen möchten unmöglich. Trotzdem vergewissere ich mich, ob ich allein bin.

      Nach diesen Sicherungsmaßnahmen fahre ich auf die Brücke und simuliere das Auftreffen des Eisklotzes auf der Autobahn. Der Klotz fällt und zerschellt. Zerborsten liegen einige Teile am Boden. Sie sind so groß wie eine Männerfaust, zu groß, um keine Aufmerksamkeit zu riskieren. Wenngleich die Temperaturen des lauen Sommerabends die Eisbrocken in wenigen Stunden zu unscheinbaren Pfützchen entsorgen würden, gehe ich auf Nummer sicher und werfe die Brocken in den angrenzenden Fluss.

      Die Sicherungsmaßnahmen kosten mich viele Tropfen Blut, da die Stechmücken von meinem durchgeschwitzten Körper unwiderstehlich angezogen werden. Ich nehme eine wichtige Erkenntnis mit nach Hause. Der massive Eisklotz ist ungeeignet. Ich hinterlasse zu viele mögliche Spuren. Das Eis muss sich schneller auflösen. Es darf kein massiver Eisklotz sein. Viele kleine Eisklötzchen haben im Moment des Aufpralls die gleiche Schlagkraft, zerfallen dann aber und lösen sich in der Wärme schnell auf. Das Problem ist jedem Chemiker bestens bekannt: Styropor. Das Problem ist damit so gut wie gelöst. Styropor ist im Prinzip nichts anderes, als Kunststoff mit vielen eingeschlossene Luftbläschen. Schnee ist im Prinzip auch nichts anderes als Eiskristalle mit vielen Lufteinschlüssen.

      Ich werde einen instabilen Eisklotz erstellen. Eine kleine Pumpe aus meinem Labor bläst bis zum Durchfrieren genügend Luft in meinen neuen Klotz. Ein paar Versuche und Veränderungen der Bedingungen und ich bin mit meinem neuen Klotz durchaus zufrieden. Ich lege ihn auf die Waage und aufgrund der deutlichen Gewichtsreduzierung weiß ich, dass genügend Luftbläschen eingeschlossen sind. Zwei Tage später mache ich mich wieder auf den Weg zur alten Eisbahnbrücke, checke schon routiniert die Umgebung und lasse wieder meinen Klotz in die Tiefe fallen. Tausend Splitter liegen weit verstreut um den Aufschlagpunkt.

      Ich muss nur wenige Minuten warten und fast ausnahmslos haben sich die kleinen Eisbröckchen bei den abendsommerlichen Temperaturen rückstandsfrei in Wasser verwandelt. So werde ich es machen. Die zahlreichen Mückenstiche nehme ich fast mit Genugtuung hin. Wieder Zuhause angekommen gönne ich mir einen Drink und gehe wie in einem Film immer wieder meinen Plan durch. Zufrieden schlafe ich ein, werde irgendwann mitten in der Nacht meinen Schlafplatz verlassen und gehe ins Bett. Ich fühle mich einfach gut.

      Seit Tagen grübele und grübele ich. Es gibt nach wie vor ein ungelöstes Problem. Ich werde kein Alibi haben und muss eventuell meine Nähe zum