Tabea Thomson

INGRATUS - Das Unerwünschte in uns


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Ralph nickte anerkennend. Der schwer verdauliche Lesestoff, er schleuste ihn persönlich ein, hatte den gewünschten Effekt gebracht.

      Als sein Schützling eine Seite umblätterte, machte sich Ralph durch Klopfen an jener Wand bemerkbar.

      Melina schaute kurz auf. Mit einer freundlichen Geste forderte sie den davor stehenden auf, zu ihr hereinzukommen. Ralph winkte dankend ab. Jedoch mit Handzeichen wünschte er der Kollegin eine gute Nacht.

      * *

      Nachdem Ralph aus Melinas Blickwinkel verschwand, legte sie das Buch beiseite und dabei stand sie ruckartig auf. Langsamen Schrittes lief sie zur interaktiven Displaywand – den Indy's. Zwei waren aktiv. Ihre Zeigefinger strebten dort auf je einen daumengroßen weißen Punkt zu. Sie symbolisieren deren Positionen. Ein Fingerzeig auf diese genügte und in den ausgewählten Belegzellen wurden die I P S – fliegenden Augen aktiv.

      ~

      (Die I P S sind lose im Raum schwebende bildgebende Sensoren. Sie übertragen das in "Echtzeit" geschehene aus den Belegzellen.)

      ~

      Auf dem Echtzeit Szenarium sah sie, das es den drei Patientinnen bestens ging. Es gab wiedermal nichts für sie zu tun. Betrübt aufstöhnend ging sie mit gelangweilter Mimik zum Schreibtisch zurück und in entspannter Lesehaltung verschlang sie noch weitere Seiten des Fachschmökers. Erst gegen dreiundzwanzig Uhr beendete sie die Lesung, und ohne Eile begab sie sich zu den Indy's.

      Wie davor schenkte sie den Biowerten keine Aufmerksamkeit. Diese zeigten sowieso alles Mögliche an, nur nicht das, was wirklich ist. Mit der anderen Heiler-Technik verhielt es sich ähnlich. Folglich vertraut sie lieber ihren Augen, Ohren sowie abtastenden Händen. Und neuerdings kann sie sogar noch auf eine neue Gabe zugreifen. Sie erwachte quasi über Nacht, genauer gesagt geschah es am zwölften Tag, des elften Monats. Damit konnte Melina, von einem zum anderen Moment, fühlen wie es dem gegenüber geht. Inzwischen setzt sie diese Gabe ein, wann immer sie es benötigt. Es klappte prima, nur das Ausblenden von schmerzlichen Empfindungen, bereitete ihr noch ein wenig Probleme. Um das in den Griff zu bekommen, hatte sie hier ja mehr als genug Zeit.

      So auch jetzt. Melina lauschte in sich hinein. Beruhigt stellte sie fest: »Meinen Patienten geht es gut.« Das Gefühlte verglich sie umgehend mit dem Echtzeit Szenarium. Es zeigte exakt das mental Vorhergesagte: der Vater und sein Neugeborenes schlafen. Nur der dritte Patient, ihr Bruder Adrian, verspürte noch keine Müdigkeit. Seine Nervosität übertrug sich auf seine bloßen Füße, sie wippten oder schaukelten abwechselnd. Adrians Kleidung, er trug auf seinem muskulösen samtig glänzenden Leib keinen weißen Patientenoverall, sondern er hatte sich lediglich mit einem anschmiegsamen hauchzarten, knapp übers Gesäß reichenden Schurz umhüllt. Das bisschen Stoff raubt seinem unschuldigen Wesen noch mehr Ruhe.

      »Na sieh mal an der Süße wird mutig«, flüsterte sich Melina zu. Sie kannte ihren Bruder bisher als ziemlich verklemmt, was solche anwerbende Umhüllungen in der Öffentlichkeit betraf. Belustigt schlussfolgerte sie: »Seit seiner Ankunft ist Adrian wie überdreht. Und wer es nicht besser weiß, könnte annehmen: Das Verhalten entspricht einem frisch verliebten Teenager, der auf einem gewaltigen Pheromon Trip ist. Dummerweise hat er keine Pheromon-Spenderin, und sein Körper setzt ihm zudem immerfort mit sporadisch auftretenden Koliken auf kalten Entzug. Wäre er gesund, suchte er sicher den Kontakt zu Weibern. Eine Prise seines zarten Duftes genügt und ihm klebt mindestens ein Dutzend, schmachtende Verehrerinnen an den muskulösen Armen. Nur so miserabel, wie es ihm zurzeit geht, verspürt er mit Sicherheit keinen Drang, eine kennenzulernen«, an der zweifelnden Mimik sah man, das Melina die letzte Feststellung sofort wieder strich. In dem Moment, wie sie das gedanklich machte, betrat eine Sartor (Pflegerin) die Belegzelle. Sie schien vom sehr ungewöhnlichen Verhalten, ihres zu betreuenden Patienten, nicht sonderlich angetan. Im Gegenteil die erfahrene Sartor tätschelte Adrians Hände geradezu aufmunternd.

      Mit jeder weiteren verstrichenen Sekunde spürte Melina, wie Adrians innere Anspannung stieg. Damit sie nur ja nicht die Lösung verpasst, stierte sie auf das Indy. Doch was sie stattdessen erblickte, verschlug ihr schier den Atem. Im nunmehr weichem Zellenlicht kommt Adrians makelloses, charismatisches Profil als auch der geschmeidige und schlanke Corpus, erst so richtig zur Geltung. Alleinig sein fransiger, kupferrot leuchtender lockiger Bob gab dem ganzen was Solides. Jedoch Dutzende verzwirbelte Haarsträhnen, die wie feurige Hörner aussahen, behaupteten das Gegenteil. Und sein wiegender Gang, in seinen Hüften schwang pure animalische Lust, beschwören das übrige Herauf.

      »Lediglich seine kratzige Stimme beweist, dass dieser schnuckelige, volljährige Teenager noch nicht gereift ist. Ansonsten ist das ein Prachtkerl, wäre er nicht mein Bruder, würde ich ihn nicht verschmähen«, raunte Melina voll Bewunderung. Je länger sie ihren Bruder beobachtet, um so mehr fand sie an ihrer zuvor gestrichenen Erkenntnis gefallen: »Sein verhalten entspricht doch einem erwartungsvollen bis hinter beide Ohren verliebten. … Wer ist das, und warum habe ich darüber keine Kenntnis.« Gleichlaufend zu ihrer Fragen wiegte Adrian sein anmutiges Wesen durchs Echtzeit Szenario. Sein Hüftschwung ähnelte dem geschmeidigen Gang eines Panthers. Der Anblick entriss Melina einen anerkennenden Pfiff.

      Gleichlaufend mit ihrem Pfiff setzte sich Adrian wieder neben die Sartor. Sie hatte, während seiner letzten Runde, ihr PAD hervorgeholt. Bevor sie zu schreiben begann, lenkte sie ihren nachdenklichen Blick auf den Patienten. Im nächsten Moment bewegten sich ihre stummen Lippen. Melina wiederum fixierte ihre Münder. Ihr Mitgefühl machte es manchmal erforderlich, das sie von allzu geschwächten Patienten, Worte von den Lippen ablesen musste. Sie hatte daraus eine Passion gemacht. Nur die nutzte ihr jetzt nichts, denn sie hielten mittlerweile ihre Häupter zu dicht beieinander. Grummelig und ohne den Blick vom Indy zunehmen, führte sie eine Hand übern Touchscreen. Ohne hinzusehen, war es nicht so leicht einen Button der Lautstärkeregelung zutreffen. Mit jedem Vertipper wurde sie ungeduldiger. Dann endlich wagte sie einen flüchtigen Blick. Begleitend schnippte sie mürrisch auf den erforderlichen Button. Zu ihrem Ärgernis erfolgte die Lautstärkesteigerung etwas versetzt. Dadurch hörte sie von den Worten der Sartor nichts mehr. Melina lauschte trotzdem weiter. Nach etlichen Sekunden kam sie murrend zu dem Entschluss: »Es geht nur um belangloses Zeug.« Das wiederum missfiel ihr. Melina kannte ihren Bruder in derlei Hinsicht, und es wäre nicht das erste Mal, dass Adrian seine Schwester auf eine falsche Fährte lockt. Um vielleicht doch was zu erfahren, lauschte sie weiter.

      Nichts ...! Enttäuscht wollte sie die I P S (bildgebenden Sensoren) Verbindung kappen. Kurz bevor eine Fingerspitze den Button berührte, bemerkte sie, Adrian kommuniziert mental mit irgendjemand. Das Gespräch erregte ihm so emotional, dass jetzt sogar seine eben noch farblosen Wangen gut durchblutet glühten. Die Sartor wollte ihm beruhigend über die Schulter streichen, jedoch Adrian entschlüpfte ihr. Ohne sich umzudrehen, lief er erneut zum Spiegel. Für Melina bestand nunmehr kein Zweifel, er erwartet ein Weib. Nur wer ist sie?

      Von Adrians Unruhe angesteckt überlegte Melina, wem er alles an Bord kannte. Wie sie es auch betrachtete außer ihrem Ehegatten Erimo, einigen Studenten, ihre Sartor, Doc Eric und ihre Wenigkeit fiel ihr niemand ein. Kopfschüttelnd sortierte sie weiter aus. Zu guter Letzt blieb nur noch eine Studentin übrig. »Marte Blom. Nur die kann es sein!«, Melinas stimmliche Freude hielt sich in Grenzen. Gleichwohl die Studentin die Beste war, die sie jemals im praktischen Teil ausbildete. Aber! Das zuvorkommende und sehr gewissenhafte Weib hatte bereits jetzt, im ersten praktischen Teil, ein so umfangreiches Wissen intus, das Melina nicht Drumherum kam; sie als gleichgestellte Heilerin zu behandeln. Merkwürdigerweise wird Marte deswegen von Studenten nicht als Streberin verschrien. Im Gegenteil sie sahen in ihr eine Ausbilderin. Das machte Melina misstrauisch. Ja schlimmer noch, sie sah in Marte eine nicht zu unterschätzende Rivalin. Melina beschloss, das Weib besonders im Auge zu behalten. Ihre Observierung umfasste auch Marte's außerdienstliche Aktivitäten. Nur leider gibt’s dazu nicht viel zu sagen. »Obwohl Melina ganz brauchbar aussieht, bändelt niemand mit ihr an. Nun ja zuweilen ist sie recht unterkühlt und spröde.« So wie Melina das zu sich sprach, korrigierte sie den letzten Teil: »Das stimmt nicht ganz. Zu Adrian ist sie stets nett. Außerdem wuselt sie ziemlich oft bei ihm herum, und sie ist in einem fesselnden Duft gehüllt. Ein ahl pii kann es nicht sein, denn Marte ist ein