Tabea Thomson

INGRATUS - Das Unerwünschte in uns


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den Amphispray entfernte geriet das mürbe mit Tränen überflutete Antlitz des Bruders in den Fokus. Knall auf Fall wurde all ihre Zuversicht zerstört.

      Adrians stummer Hilfeschrei galt hauptsächlich Melinas Medizin Experimenten. Denn sie lag meilenweit neben dem Volltreffer. Er wollte den trägen Verstand auf die Sprünge helfen, dazu setzte er sich hin und hechelte wie ein Gebärender. Die vor Schweiß triefenden Hände umklammerten ihren linken Arm und die spitzen Fingernägel bohrten ungebremst in die zarte weiße Haut. Selbst die Hinweise brachten der Schwester keine zündende Idee. Adrian hoffte dennoch sehnlichst auf ein gedankliches Wunder. Doch weit gefehlt, Melina litt stumm und blickte, wie sie dachte – von ihm nicht bemerkt –, unentwegt zum virtuellen Biodaten Display. Aber es erfolgte keine Mixtur Annahme und über Adrians Leib rutschte ein leises Knistern.

      »Wieso aktiviert sich ständig sein körpereigenes Sicherheitssystem ...«, fragte sie kummervoll.

      Ein Blick in ihre Kalab und sie hätte binnen Sekunden die Erklärung. Leider kam sie auch diesmal nicht auf die simple Idee. Hinzu kam noch: Melina war wie immer vollends davon überzeugt, dass sie für den Bruder keinerlei Bedrohung darstellt. Aber genau darin lag Melinas Irrtum. Ihre Medizin und Heil Experimente deutete Adrians Kalab als Angriff auf seine Gesundheit. Folglich fuhr sein Sicherheitssystem hoch.

      ~

      (Kalab; in diesem Teil des Skylup – des Gehirns –, ist das Wissen ihrer Shumerer Vorfahren abgelegt.)

      ~

      … Da ...!

      Für den Bruchteil eines Augenblicks zuckten drei Balken auf dem virtuellen Display. Melina verspürte einen winzigen Funken Hoffnung. Doch seine verkrampften Finger in Melinas Arm sagten, der Körper lehnt es komplett ab. Umgehend veranlasste sie auf dem virtuellen Biodisplay, das weitere Vorgehen. Aus dem Stand, einem Sturzbach gleich, schoss das Betäubungsmittel über die Infusionseinheit in seine Vene.

      Als die Wirkung einsetzte, schaute er seine Schwester traurig an und ihre Worte: »Schlaf Süßer, Schlaf«, vernahm er bereits wie durch eine Nebelwand. Melinas zaghaften Kuss auf seiner Stirn spürte Adrian nicht mehr, er lag bereits in einen alles vergessen lassenden Beta-Phi Traum.

      *

      Wie sie ihn so daliegen sah, kam das ›warum bekam er diese Kolik‹, ins Bewusstsein zurück. »Seit wann hatte er erste Anzeichen?«, Melinas Stimme forderte eine rasche Aufklärung.

      Anstatt sofort zu antworten, zupfte die Sartor nervös am Schürzenband. Erst ein ermahnender Blick von Melina veranlasste sie zu berichten: »Als Mister Sawons Besuch kam, ging es ihm gut. Damit ich nicht störe, habe ich die Belegzelle verlassen. Ich gestattete mir, in der nahen Messe eine Mahlzeit einzunehmen. Und als ich zurückkam, ging es ihrem Bruder immer noch gut«, so wie die Sartor das sagte, hörte es sich nach einer Verteidigung ihrer Handlung an, »Magister ich hatte seit dem frühen Mittag nichts mehr an Nahrung«, ihre Tiefe stimmliche Verbeugung verstärkte Melinas Empfindung.

      »Ist in Ordnung. Ich mache ihnen deswegen keine Vorwürfe.« Den Worten zum Trotz sah sie die Sartor mit stechendem Blick an.

      Es wirbelte ihr die Gedanken durcheinander. Sie starrte zum Boden. »Als ich zurückkam«, stammelte sie mit kleinlauter Stimme, lag Adrian entspannt auf dem Bett. Er führte via Interface ein Gespräch mit der Mom. Nichts deutete da auf eine beginnende Kolik hin. Erst Minuten später ging es ihm nicht mehr gut ...«

      Unterdessen die Sartor sprach, setzte sich Melina mit nachdenklicher Mimik ans Fußende von Adrians Biobett, dabei verrutschte die Bettdecke. Zeitgleich stöhnte er matt. Melina wiederum strich ihm beruhigend über die Hand. Schlagartig spürte sie seinen nur betäubten Schmerz. In Gedanken fragte sie sich: »Wieso bekommst du nur aus heiterem Himmel Koliken? Wenn ich dich doch wenigstens abtastend untersuchen könnte ...«, mitten im Selbstgespräch entdeckte sie auf der blütenweißen Bettdecke ein langes, nachtblaues leicht lockiges Haar. Es lag wie bestellt da. Melina zupfte es ab, dabei schielte sie flüchtig zur Sartor. In Gedanken schlussfolgerte sie: »Von der Sartor kann es nicht sein. Ihr kurzes Haar ist fast weiß. Und Marte ist blond.« Am Ende ihrer Überlegung hielt sie der Pflegerin das Haar unter die Nase und dabei warf sie ihr einen misstrauischen Blick zu. Bevor die Sartor auch nur ansatzweise etwas zur Entlastung sagen konnte, quetschte sie Melina stimmgewaltig aus: »Wer besuchte meinen Bruder noch?«

      In eine schüchterne Unschuldsmiene gehüllt antwortete die Sartor mit blecherner Stimme: »... als ich ihn verließ, weilte nur die Studentin bei ihm.«

      Ohne weiter darauf einzugehen, verwies Melina die Sartor mit einer zornigen, wegweisenden Geste des Raumes. Schleunigst machte sie, was die Heilerin verlangt. Ihr unterwürfiges Verhalten verdoppelte nahezu Melinas argwöhnisches Gefühl. Grimmig zur Tür sehend zischte sie: »Da stimmt was nicht. Ohne Anweisung des behandelnden Heilers verlässt niemals eine Sartor den anvertrauten Patienten.«

      Kopfschüttelnd dreht sie sich wieder zum schlafenden Bruder, die Finger veranlassten derweil, dass der lahmende Scanner ansprang. Ruckelnd tastete der Strahl über Adrians matten Leib.

      Zähneknirschend verfluchte sie die unbrauchbare, nur sporadisch arbeitende Heiler-Technik. Ihre erzürnte Mimik zeigte, was im Inneren ablief. Sie glaubte nicht daran, dass sie mit diesen Scandaten etwas anfangen kann. Doch allen bösen Vorahnungen zum Trotz wartete sie auf das Ergebnis.

      Bis es soweit war, dachte Melina über die letzten drei Jahre nach. Was nicht heißen soll; dass ihr Ehegatte Erimo und sie nicht zufrieden sind. Allerdings wächst seit neuesten das Gefühl heran, hier scheint irgendetwas nicht so zu sein, wie es ist. So zum Beispiel hört sie auf den Korridoren ab und an fremde Stimmen. Ebenso sah sie dort Personen, die, sowie sie um die Ecke bogen, verschwunden waren. Des Weiteren hörte sie auf dem Deck, wo ihr Quartier war, Respekt einflößende Kampfgeräusche von Pogna cor Klingen. … Und dann die Technik!, Schrott ist dazu noch zu gelinde ausgedrückt. … Nicht zu vergessen ihr Freund Amadou Baston. Sein Verhalten ist mehr als bedenklich. Kurzum sie will darüber Aufzeichnungen anlegen, vielleicht sind sie einmal nützlich. Weil der Scanner ohnehin noch einige Minuten braucht, beschloss sie, sofort damit zu beginnen. Hierzu nahm sie das handflächengroße PAD aus der Brusttasche der Dienstjacke. Währenddessen ihr Datenspeicher einige holografische Papierblätter erzeugte, rückte sie einen Stuhl beim Wandtisch zurecht. Als ihre üppig gebaute Statur lässig an der kühlen Wand lehnte, tauchte sie in alte Erinnerungen ein. Obgleich Melina wusste, dass sie auch diesmal in etliche Gedächtnislücken purzeln würde, begann sie zu diktieren: »... Einleitend noch einige Sätze vorweg. Mein Studium zur Gattenheilerin endete im Jahr zweiundzwanzig einundfünfzig mit dem Abschluss zum Macister. Wo ich in den Jahren bis Mitte neunundfünfzig überall gearbeitet habe, fällt mir im Moment nicht ein. – Egal. Jedenfalls habe ich seit Anfang des achten Erden Monat desselben Jahres als Heilerausbilderin gearbeitet. Mein Einsatzort als solcher befand sich an einer Sternen Kinder Universität auf dem Planeten Polaris in der Stadt Zkyl. Mein Betätigungsfeld umfasste ausschließlich den praktischen Ausbildungsteil in Umgebungs-Simulations-Räumen. … Wieso eigentlich nur da? … Hmm! … Unerheblich. … Wurde eh mies bezahlt! Alte Geschichte. Abgehackt und mit dem Schwamm drüber. Zum Glück erhielten wir Job Angebote auf dem privaten Rettungsraumschiff Concordia α U P. Man bot meinem Ehegatten Erimo dort eine Stelle als Lehrer an, und mir eine Stellung als leitende Heilerin sowie erster Heilerin in der Studentenausbildung.

      Am zwanzigsten September zweiundzwanzig sechzig, exakt einen Monat nach dem Untergang vom Planeten Vulkan, Unterzeichneten wir die Arbeitsverträge. Und weil ich während meiner Studienzeit noch einige Semester in der Sparte Raumfahrt besuchte, erwarb ich den Status eines Freien Captains. Als solcher habe ich mich ebenfalls verpflichtet. Sodass ich, wenn das Raumschiff in besondere Situationen gerät, den kommandierenden Captain unterstützen oder im Notfall sogar ersetzen kann. –

      Unsere Dienste begannen hier am vierundzwanzigsten Neunten.

      Beim Quartiersbezug stellte ich mit Freude fest, dass Amadou Baston – mein Freund aus Kindertagen – gleich nebenan wohnt. Wir hatten uns unseligerweise vor Jahren aus den Augen verloren. Auslöser dessen war ein Anschlag auf Amadou. Bei diesem wurde er niedergeschlagen