Jean-Pierre Kermanchec

Das Grab in der Ville-Close


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hatte vor einigen Wochen einen Mann kennengelernt, der als Schiffsbauingenieur auf einer Werft in Concarneau arbeitete. Er war ein profunder Kenner der Inseln rund um die Bretagne. Mit seiner kleinen Segelyacht unternahm er regelmäßige Ausflüge dorthin. Er versuchte die Geheimnisse der Inseln zu erkunden. Anaïk war am letzten Wochenende zum ersten Mal seiner Einladung gefolgt und hatte zwei Tage mit ihm auf dem Boot verbracht. Sie waren zur Île de Sein, oder Enez Sun wie die Bretonen sagen, gesegelt. Die Insel, südsüdwestlich von der Pointe du Raz gelegen, gehört zu den am meist gefährdeten Inseln rund um die Bretagne. Ihre knapp 200 Einwohner müssen bei jedem Wintersturm um ihre Insel fürchten. Regelmäßig zerstören die Orkane einen Teil der Insel und verkleinern so den Lebensraum der Insulaner, der Suniz. Im Gegensatz zur Insel Ouessant, die bis zu sechzig Meter aus dem Meer emporragt, erreicht der höchste Punkt der Île de Sein gerade einmal 9 Meter. Es ist daher kein Wunder, dass die exponiertesten Stellen der Insel immer wieder überschwemmt werden.

      Brieg Pellen führte Anaïk über die Insel mit ihren 1,8 Kilometern Länge und 800 Metern Breite an der weitesten Stelle. Sie hatten den Grand Phare, den großen Leuchtturm der Insel, bestiegen und den Blick über die zahlreichen kleinen Felsenriffe bis zur Pointe du Raz genossen. Sie waren durch die kleinen Gassen spaziert, über die Hafenmole geschlendert und hatten in einem Restaurant am Hafen ausgezeichneten Fisch gegessen. Die Insulaner, größtenteils Fischer, große Landwirtschaft gab auf der kleinen Insel nicht, landeten kleine Teile ihres Fanges auf der Insel an, der größere Teil wurde in Douarnenez abgeliefert, so dass die wenigen Restaurants immer mit frischem Fisch versorgt waren. Haupteinnahmequelle der Bewohner war der Tourismus. Jetzt im Herbst kamen die Touristen nicht mehr so zahlreich, so dass die Bewohner immer öfter unter sich blieben. Brieg war auf der Insel bestens bekannt. Der Briefträger, inzwischen ein guter Freund, grüßte von Weitem, der Inhaber des Souvenirladens auf der Hafenmole lud sie heute zu einem Kaffee ein, und der etwas schrullige Künstler, der sein Atelier auf der dem Westen zugewandten Seite der Insel hatte, führte sie durch seinen Kunstgarten und sein Atelier. Auf Anaïk machte der Garten eher einen verwahrlosten Eindruck.

      Brieg informierte sie über die Druiden, die einst hier auf der Île de Sein eine Zufluchtsstätte gefunden hatten, er erzählte von den Fischern, die sich während des zweiten Weltkriegs von hier aus mit ihren Schiffen auf den Weg nach England gemacht und sich den Streitkräften des freien Frankreichs angeschlossen hatten. Anfangs machten sie fast ein Viertel der sogenannten freien französischen Marine aus, was General de Gaulle zu dem Ausspruch verleitet hatte „Die Île de Sein ist ein Viertel von Frankreich.“ Anaïk lauschte Briegs Erzählungen mit Interesse.

      Jetzt saß sie wieder in ihrem Büro und ließ das Wochenende Revue passieren. Sie musste zugeben, dass es sich sehr gut angefühlt hatte einmal wieder eine Nacht gemeinsam mit einem Mann verbracht zu haben.

      Monique Dupont klopfte, dann betrat sie Anaïks Büro.

      „Hallo Anaïk, hast du dich am Wochenende gut erholt?“

      „Es war ein tolles Wochenende, Monique, das schönste seit Monaten.“

      „Das hört sich spannend an, ein bisschen nach neuer Errungenschaft und ein bisschen nach Befriedigung?“

      „Du liegst genau richtig. Bei Gelegenheit erzähle ich dir davon. Gibt es etwas Neues?“

      „Aus meiner Sicht nicht, ich habe wenigstens nichts vernommen. Es gibt nur kurze Zeiten, in denen Quimper ein totes Nest zu sein scheint, eine Stadt in der nichts passiert.“

      „Ich bin froh, wenn die Menschen ihre Probleme nicht mit der Pistole oder einer Eisenstange lösen.“

      „Da bin ich bei dir! Aber wenn nichts passiert sitzen wir hier und drehen Däumchen.“

      „Ich ziehe Daumendrehen vor, besser als Tote sezieren zu lassen und nach Mördern zu fahnden.“

      Kapitel 3

      Tanguy Trébaul war zu dem kleinen Bagger zurückgegangen, neben dem er gestanden hatte als sein Chef auf der Baustelle erschienen war. Seine Leute waren dabei, an der inneren Ostseite der Ville Close, Teile der Stadtmauer freizulegen. Zahlreiche Steine der unteren Lagen des Mauerwerks, die die mächtigen Aufbauten trugen, mussten erneuert werden. Der kleine Bagger hob bei jedem Eintauchen in den Boden vierzig bis fünfzig Zentimeter von dem steinigen Erdreich aus. Jede Schaufelladung kippte er auf einer großen Plastikfolie aus. Die Erde musste nicht abgeführt werden, sie brauchten sie später zum Verschließen des Lochs. Seit drei Stunden baggerte der Arbeiter jetzt schon an der Mauer, der Graben war bestimmt schon dreißig Meter lang. Deutlich waren die beschädigten und verfallenen Stellen der Mauer zu erkennen. Im Untergrund hatten die Erbauer damals nicht so sorgfältig gearbeitet wie an den oberen Mauerabschnitten. Wieder führte der Baggerfahrer die Schaufel in den Graben und hob die nächsten Zentimeter, in einer Tiefe von etwa einem halben Meter, aus. Die Schaufel fuhr hoch, der Arbeiter schwenkte sie wieder nach links zur Folie und kippte ihren Inhalt aus. Er wollte die Schaufel gerade wieder zurückführen als er plötzlich innehielt. Er blickte wie gebannt auf ein menschliches Skelett. Er ließ die Schaufel oben stehen, stoppte den Bagger, schaltete den Motor aus und stieg aus. Er trat an den Aushub.

      Es gab keinen Zweifel, es handelte sich tatsächlich um ein menschliches Skelett. Francis Merer schluckte mehrmals. Es war das erste Skelett, das er mit seinem Bagger freigelegt hatte. Auch wenn es sich nur noch um Knochen handelte, er empfand Pietät und ehrfürchtigen Respekt vor dem Toten.

      „Tanguy, Tanguy, schau dir das an!“, rief er aufgeregt zu seinem Vorarbeiter.

      Tanguy kam näher und folgte dem Blick seines Kollegen.

      „Scheiße!“, rief er.

      Tanguy wusste genau, dass dieser Fund das Zeug hatte ihre Baustelle für Stunden, wenn nicht sogar für Tage, lahm zu legen. Dieser Fund würde den Zeitplan und die Kalkulation von Yann Goarec durcheinanderwirbeln. Aber welche Möglichkeiten gab es sonst noch? Weitermachen und sich nicht um die Knochen kümmern, so zu tun, als habe man das Skelett nicht bemerkt? Nein, das konnten sie nicht bringen. Wenn später durchsickern würde, dass sie ein Skelett gefunden hatten, kämen sie in Bedrängnis und sogar in Erklärungsnot. Es blieb nichts anderes übrig, er musste die Polizei informieren. Vielleicht hat der Mensch ja schon seit zweihundert Jahren an dieser Stelle gelegen, das sollten die Fachleute ermitteln. Sie könnten sagen, ob es sich um einen gefallenen Soldaten handelt, der damals bei der Verteidigung der Ville Close ums Leben gekommen war.

      Tanguy griff zu seinem Mobiltelefon und wählte die Notrufnummer, teilte den Fund mit und erhielt die Anweisung, alle Arbeiten sofort zu stoppen. Nachdem er aufgelegt hatte rief er seinen Chef an und informierte ihn über den grausigen Fund. Yann Goarec bestand darauf die Autoritäten zu informieren.

      „Wir nehmen lieber ein paar Stunden Verzögerung in Kauf, als dass wir uns der Mittäterschaft oder des Vorwurfs der Vertuschung aussetzen.“

      Die Polizei von Concarneau war nach wenigen Minuten vor Ort und begutachtete das freigelegte Skelett. Schnell war entschieden, dass es sich hier um eine Aufgabe für die Mordkommission handelt. Der Beamte informierte umgehend Quimper und riegelte die Umgebung der Fundstelle ab.

      Tanguy Goarec, der sich bereits auf den Weg zur nächsten Baustelle nach Trégunc gemacht hatte, machte auf der Stelle kehrt und fuhr zurück nach Concarneau. Er wollte die Information aus erster Hand erhalten. Die Information über eine mögliche Verzögerung oder schlimmstenfalls über eine Einstellung der Arbeiten. Wieder stellte er sein Fahrzeug auf dem Parkplatz gegenüber der Ville Close ab, überschritt den Quai Peneroff und die Brücke zur Ville Close und durchquerte die Rue Vauban. Schon von Weitem sah er die weitläufige Absperrung und alle Besucher, die, angezogen von den Polizisten, an der Absperrung standen und gafften. Obwohl es nichts zu sehen gab, außer einem großen Erdhaufen, starrten die Zuschauer auf die Fundstelle, so als gäbe es etwas wahnsinnig Sehenswertes zu begutachten. Jeder fragte seinen Nachbarn worum es sich hier handelte. Und jeder Nachbar zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Aber den Platz verlassen wollte dennoch niemand.