Till Angersbrecht

Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein


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      Du kannst ja nichts dafür!

      sagte Ella, und das war die reine Wahrheit. Ego konnte wirklich absolut nichts dafür.

      Sie sagte das wieder auf ihre verträumte Art, und diesmal berührte sie Ego auch, aber an seiner Hand und zog ihn zu sich auf das Sofa. Er sollte neben ihr sitzen.

      Du hast recht, sagte er. Hat mich denn jemand gefragt, ob ich ein Mann werden will? Oben im Vierten Reif haben mich die Genies nach letzten wissenschaftlichen Erkenntnissen entworfen. Du weißt ja, die Produktion neuer Geschöpfe liegt völlig in ihrer Hand. Wissenschaftlich gesehen, bin ich ok - das setzte er mit einem Anflug von Selbstbewusstsein hinzu. Hier bei uns auf Marsopolis kriecht keiner mehr blutverschmiert aus dem Leib einer Frau wie die Gebürtigen unten auf Gaia. In einer Petrischale angesetzt haben sie mich, die Genies, und den Zellhaufen anschließend sorgfältig gezogen, nicht ein einziger Blutstropfen wurde dabei vergossen. Dann haben sie mich – ich meine diesen winzigen, anfänglich kaum sichtbaren Zellklumpen - in den Brutgenerator gelegt, und daraus ist dann erst einmal der Embryo entstanden, bevor ich am Ende das wurde, was Du jetzt vor Dir siehst, nämlich ein Mann namens Ego.

      Ja, ja, sagte Ella, das weiß ich, und ich freue mich, dass es so ist.

      Er nickte. Insoweit hatte alles durchaus seine Richtigkeit. Aber gerade, weil Ella so verständnisvoll sprach, weil sie immer noch neben ihm saß, und sein Gehirn auf Hochtouren lief, statt dass er seine Pflicht erfüllte, wurde ihm auf einmal sein ganzes Unglück bewusst. Er war eine Sonderanfertigung und als solche wurde er Tag für Tag erneut mit der Grundfrage konfrontiert: Warum gerade ich? Warum musste ich, Ego, diese Welt als ein Mann betreten?

      Im Grunde war Ella schuld an diesem Schwächeanfall. Normalerweise wäre er doch längst in Aktion getreten, während er jetzt immer noch unbeschäftigt neben ihr saß. Aber sie war scheu wie ein Reh, eine Anfängerin, deswegen überkam ihn gerade jetzt wieder die Erinnerung an sein Unglück. Er bedeckte mit der Hand seine Augen, damit die Frau neben ihm seinen Schmerz nicht bemerkte, denn natürlich benahm er sich in diesem Moment auf geradezu beschämende Art unprofessionell.

      Damit der Leser dieses Berichts keine voreiligen Schlüsse über die Zustände auf dem Mars daraus zieht, möchte ich zu Egos Gunsten betonen, dass er sich nie zuvor derart gehen ließ.

      Warum, rief er mit gepresster Stimme, denn natürlich durfte niemand auf den Gängen oder in den Nachbarräumen seine rebellischen Worte hören, warum gibt es hier all diese hübschen, zierlichen, rundlichen, gefälligen Wesen, Frauen mit makellosen Leibern und hellen Gesichtern, während ich und die wenigen Männer, die sonst noch in der Oberwelt von Marsopolis leben, dazu verurteilt sind, mit diesem verunstalteten Leib zu leben?

      Und er erzählte der immer noch still neben ihm sitzenden Frau, wie er fast jede Nacht davon träumte, eine der ihren zu sein. Wie er sich manchmal mit strahlendem Lächeln von seinem Bett erhob, zum Spiegel stürzte, weil ein glücklicher Traum ihm den Wahn eingeflößt hatte, die Nacht hätte ein Wunder an ihm vollbracht. Doch kaum enthüllte das verräterische Glas ihm seine wahre Gestalt, bricht die Welt gleich wieder für ihn zusammen.

      Dann stehe ich vor dem Spiegel – Ego flüsterte jetzt mit gepresster Stimme -, und er ist immer noch da: dieser hässliche Schlauch, dieser Regenwurm, diese Liane, die mir wie ein Knüppel zwischen den Beinen hängt, ein durch und durch ungestaltes Gebilde, das mich auf jedem meiner Schritte schlenkernd begleitet. Gar nicht mehr anzusehen ist es, das Unding, wenn es sich in die Höhe richtet und dabei wie eine auf rot geschaltete Ampel Schreck oder Erstaunen um sich verbreitet. Jedenfalls fehlt dem Ding jeder praktische Wert, seit die rohe Natur auf Marsopolis von den Genies gezähmt und zur höchsten Vollkommenheit weiter entwickelt wurde. Wir alle wissen, das Ding ist so nutzlos wie der Blinddarm, die Weisheitszähne oder das Steißbein. Ja, die Gebürtigen auf Gaia waren noch darauf angewiesen, schon richtig; das archaische Instrument diente ihnen zur Befruchtung weiblicher Keimzellen. Aber wir, wir haben dieses Stadium doch längst überwunden!

      Während Ego sich ganz in dieses Gejammer verlor, geschah auf einmal das Wunder, Ella küsste ihn ganz zart auf die Wange und, um ihn zu trösten, streichelte sie auch das Ding.

      Es ist gar nicht wahr, sagte sie, dass wir Frauen schöner sind als die Männer. Ich jedenfalls finde den kleinen Wurm durchaus interessant. Er steht Dir doch, Du solltest mit Deinem Schicksal zufrieden sein!

      Und mit leichtem Erröten fügte sie hinzu:

      Auf jeden Fall hat er einmal eine ganz wichtige Funktion besessen. Manche Frauen auf Marsopolis behaupten, dass das Ding ihnen immer noch wichtig sei.

      Ego nickte beflissen, glücklich darüber, dass er auf diese verständnisvollen Bemerkungen als halbwegs gebildeter Mensch sehr wohl zu antworten wusste. In seiner Freizeit hatte er nämlich ausgiebig gelesen. Marsopolis besitzt eine große Stadtbibliothek mit vielen Bänden, die noch vom blauen Planeten stammen. Zwar sind Abenteuer- und Liebesgeschichten schwer zu bekommen, da sie von einer Frauenhand in die andere wandern, doch daran war Ego kaum interessiert: In seiner Eigenschaft als öffentlicher Besitz durfte er ja von Liebe nichts wissen. Vorrangig hatte er sich daher mit der sogenannten ernsten Literatur befasst, also mit der Geschichte des Alls, des Menschengeschlechts und überhaupt mit den Wissenschaften. So hatte er sich mit der Zeit eine hübsche kleine Bildung in Sachen Gaia angelesen und war daher sehr froh, dass Ella ihm nun die Gelegenheit gab, etwas von diesem Wissen preiszugeben. Ein solcher Anlass wurde ihm bei seinen üblichen Frauenbesuchen leider so gut wie nie geboten.

      Sogleich kam ihm ein kürzlich studiertes Buch aus der Hand eines Genies in den Sinn, auf dessen Umschlag der wunderbare Titel „Eanas Plan oder das Geheimnis der Schöpfung” prangte.

      Sanft lehnte er sich gegen Ella, die ihre Brust schon entkleidet hatte, und flüsterte ihr ins Ohr.

      Das Ding wurde zu Anfang noch gar nicht gebraucht - das haben die neuesten Forschungen ergeben. Denn in der frühesten Zeit hat sich der Mensch noch ohne alle Anstrengung fortgepflanzt. Das kannst Du an seinem anatomischen Aufbau erkennen, wenn Du mich oder auch Deinen eigenen Körper genau betrachtest. Nicht ohne Grund besteht jeder von uns aus zwei symmetrischen Teilen, nämlich einer rechten und einer linken Hälfte. Er hat ein Bein rechts und ein Bein links, er hat ein rechtes sowie ein linkes Auge, und so ist es auch bei Ohr, Arm und vielem anderen mehr. Die ursprüngliche Fortpflanzung fand also, wie wir heute wissen, einfach in der Weise statt, dass sich die beiden Hälften vertikal in der Mitte trennten, wobei dann der jeweils fehlende Teil aus jeder der beiden Hälften allmählich nachwucherte. Das war die sogenannte Fortpflanzung durch Hemitomie, die im Reich der primitivsten Wesen, der Bakterien, bis heute die Methode der Wahl darstellt.

      Diese Sätze gingen Ego ganz flüssig über die Lippen. Er erstaunte selbst über seine umfängliche Bildung und geriet geradezu in Verlegenheit, weil Ellas Blicke mit wachsender Ergriffenheit auf ihm ruhten. Um aber vor ihr nicht als trockener Wissenschaftler zu erscheinen, denn er wusste wohl, dass so ein Eindruck der Leidenschaft wenig bekömmlich ist, drückte er ihr schnell einen Kuss auf die Wange und fügte, gleichsam als Entschuldigung, hinzu.

      Dieses Fremdwort musst Du Dir aber nicht merken.

      Er konnte es aber doch nicht lassen, sie weiter über das Geheimnis der Fortpflanzung aufzuklären:

      Natürlich wies das Verfahren der Hemitomie, so schlicht und elegant es auch war, einige nicht zu vernachlässigende Nachteile auf. So konnten sich die ursprünglichen, über längere Zeit unvollständigen Hälften nicht normal fortbewegen, sondern nur auf hüpfende Art wie die Kängurus.

      Ella lachte: Oh, das hat doch sicher sehr komisch ausgesehen!

      Gewiss, pflichtete Ego ich bei, das war gewiss überaus komisch, aber die nachwachsenden Hälften haben außerdem noch an Phantomschmerz gelitten. Sie spürten bereits ein Reißen und Ziehen in den nachwachsenden Gliedern, als diese praktisch noch gar nicht vorhanden waren. Aufgrund der vielen Vorwürfe, denen sich unsere Urmutter Eana wegen dieses Missstands von ihren eigenen Geschöpfen ausgesetzt sah, fühlte sie sich schließlich genötigt, ein anderes Verfahren zu erproben.

      Ego machte ein betrübtes Gesicht und zeigte auf sein Geschlecht. Ja, siehst Du, so hat es sich zugetragen. Eana