Moritz Liebtreu

Wer zählt die Völker, nennt die Namen


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Mann, von der Toilette kam. Die geringe Distanz zu dem Mann irritierte ihn, und er rückte unauffällig ein Stück zur Seite. Dieser stierte ihn jedoch ohne Scheu direkt an, deutet mit einer Kopfbewegung auf den älteren Wirt: "Das war einer von denen, ist als junger Mann noch bei den Nazis gewesen, wohl das letzte Aufgebot?, wollte die Welt erobern, da steht er nun, in dieser schäbigen alten Kneipe, hat bis heute nichts gelernt, gehört dieser Nationalen Bewegung an oder wie heißt ihr jetzt?"

      Der Wirt nur mäßig ärgerlich, mit einem etwas gequältem Lächeln: "Das geht dich überhaupt nichts an, lass bloß deine Sprüche sein" und zu Pupidu gewandt, der noch keine Meinung dazu hatte, sich hier in ein Gespräch verwickeln zu lassen, "das ist unser Hausphilosoph, der kostenlos Vorträge hält, hören sie besser gar nicht hin."

      Pupidu sah seinen Thekennachbarn nun doch genauer an: Ein noch Jugendlichkeit ausstrahlendes schmales Gesicht, hellblonde, etwas rötliche Haare, aufgedunsen, unnatürlich rötlich braun gefärbte Hautfarbe, die Augen einen eigenartigen Glanz, als ob sie durch einen tiefen Schleier, einem dichten Nebel, aus einer größeren Entfernung blickten. Die Kleidung ziemlich heruntergekommen, gräuliches, farbig kaum mehr zu identifizierendes verschossenes Jackett, die Seitentaschen weit ausgebeult, die dunkelbraune Hose, verschmutzt, staubig und die arg mitgenommenen Schuhe hatten schon lange keine Pflege mehr abbekommen.

      Nun mischte sich der Gast auf der anderen Seite seines Nachbarn, "der hat studiert, Geschichte, Politik oder?", mit schwerfälliger Zunge ein, ebenfalls schon gehörig angetrunken.

      Der Wirt, ohne besonderen Nachdruck: "Wenn ihr beide euch nicht benehmen könnt, fliegt ihr auf der Stelle raus."

      Kichern, "Unterschreibst du endlich?", wieder hämischeres Kichern auf der anderen Seite. Dabei klopft sich der eine auf die Brusttasche, tut so, als wolle er etwas hervorholen.

      "Du kannst mich mal", der Wirt, wehrt mit der Hand entschieden ab, geht zur anderen Thekenseite, beschäftigt sich intensiv mit den Gläsern.

      Nimmt seine Hand wieder aus der Jacke, hilflose Geste: "Bisher ist mir niemand begegnet, dem persönlich etwas leidgetan, der sich persönlich schuldig bekannt hätte, bei alledem, was geschehen ist."

      Alle sahen nun auf ihn, der sich nur einiges zusammenreimen konnte, worum es hier ging, wie er reagieren würde.

      "Geschweige denn, allzu viele hätten etwas daraus gelernt, hätten je einen eigenen Bezug zur Demokratie gefunden, vermittelten außer den offiziellen Phrasen Toleranz und Verständnis für Andersdenkende und Minderheiten. Schon dieses Abwägen, es sei auch etwas gut gewesen und von wann an sie denn verbrecherisch gewesen sei, diese Diktatur. Als könne es in einer Diktatur überhaupt Gerechtigkeit geben, schlösse sich das nicht gegenseitig aus. In meinem Bekanntenkreis ist mir ebenfalls niemand begegnet, der persönliche Trauer empfunden hätte, es sei denn, wegen des verlorenen Krieges, der negativen allgemeinen und persönlichen Folgen und Beeinträchtigungen.

      " Oh je", der Wirt schaut halb erschrocken, halb amüsiert herüber, "da haben sich die richtigen getroffen."

      Der Philosoph schien seine Äußerungen weniger als Bestätigung, vielmehr als Herausforderung anzusehen, es dem Jüngeren nun zu zeigen, ihm in nichts nachzustehen und ereiferte sich: "Das Gefühl, Herrenmenschen zu sein, haben die meisten doch nie aufgegeben, haben ihre Frustrationen dann an ihren Kindern ausgelassen und rassistische Studien in ihrer näheren Umgebung, in ihren eigenen Familien weitergeführt."

      Pupidu erinnerte sich daran, dass zumindest noch in den fünfziger, sechziger Jahren, die Menschen viel über die Kopfformen, das Aussehen, des Nachwuchses diskutierten, wobei die äußeren Merkmale überhaupt einen großen Stellenwert einnahmen. Was hat denn der für einen Hinterkopf, so ein Monds Gesicht, sieht ja fast aus wie ein ..., unglaubliche Kommentare waren da zu hören. Kleine Kinder, die völlig normal waren, wurden gnadenlos abqualifiziert. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, ließ er sich dann noch zu einem Bier einladen, das heißt, der andere bestellte einfach für ihn mit, "gib dem auch eins", ließ sich die drei Biere großzügig auf seinen schon beinahe kreisrund gefüllten Deckel schreiben. "Was machst du denn?", fragte er dann.

      "Chemie", antwortete Pupidu, "arbeite in der Chemischen Industrie, Herstellung von Grundstoffen", ohne sich daran zu stören, dass er geduzt wurde.

      "Und sie?", sagte er aber.

      Der andere murmelte fast unverständlich, "schon einmal bessere Zeiten gesehen, zur Zeit Hochbau." Dabei starrte er in sein Glas, redete zunächst mehr zu sich selbst, starrte auf den Tresen, fuhr dabei mit den Fingern durch die kleinen Wasserlachen, die sich neben seinem Bierdeckel gebildet hatten: "Chemie", wenn Größe relativ ist, dann könnte sich doch in einem Glas Bier, einem Tropfen Wasser hier oder in einem Atom noch ein ganzer Kosmos befinden?" und schaute ihn jetzt mit einem schon beinahe aggressiven Blick an.

      Pupidu hatte die Zeit jedoch längst überschritten, die er bleiben wollte und konnte sich vorstellen, dass die Atmosphäre mit der Zeit ungemütlicher werden konnte. Sein Gesprächspartner war mit diesem abrupten Ende aber nicht einverstanden, hielt ihn plötzlich am Ärmel fest, griff in die Innentasche seines Jacketts und überreichte ihm mehrere zusammengefaltete, ziemlich speckige vergilbte Papiere: "Ist von mir selbst geschrieben, wenn du mal Zeit hast, reden wir darüber - nimm mit", sagte er sehr bestimmt, als der andere zögerte.

      Ziemlich verwirrt steht Pu, wie er oft gerufen wird, dann wieder vor der Tür der Gastwirtschaft, spürt die leicht benebelnde Wirkung des Alkohols, vertrage doch nichts mehr und vermisst im ersten Augenblick sein Fahrrad, das ihm Halt und Sicherheit bieten kann. Erinnert sich dann daran, dass er es in einem Fahrradständer auf der gegenüberliegenden Straßen-seite abgestellt hat, wo im Augenblick eine größere Menschentraube aus der Volkshochschule quillt.

      Ich drehe nur eine Runde

      Die Dämmerung ist bereits angebrochen, sein üblicher alltäglicher Trott ins Wanken geraten. Eine Lücke im Verkehr abwartend, steht er in dem Getümmel der heimwärts strebenden Schulbesucher und ist endlich an der Stelle angekommen, wo er ungefähr sein Gefährt vermutet. Hat er jemanden angerempelt?, sieht sich um, da steht ihm plötzlich eine etwa gleichaltrige Frau, Anfang bis Mitte vierzig, wie er nur vermuten kann, gegenüber, die er schon seit vielen Jahren flüchtig kennt, für die er sich schon lange interessiert, die er aber nur aus der Entfernung bewundert, sich ihr lediglich in der Phantasie, im Tagträumen nähert.

      Er hat zeitweise mehrere solcher Phantasiegestalten, die mit der realen Person aber nur wenig gemeinsam haben müssen, und seit er verheiratet ist, hat er keinen wirklichen Versuch unternommen, so jemanden kennen zu lernen, seine Eindrücke zu überprüfen oder sich überhaupt darüber zu äußern. Dennoch hat ihn schon öfter die Frage beschäftigt, ob das Interesse gegenseitig sei. Vom Namen her kannte man sich und hatte bei gemeinsamen Freunden ein paar Worte miteinander gewechselt und bei anderen Begegnungen flüchtige Blicke ausgetauscht.

      Stimmte es, dass man dabei einmal den Blickkontakt ungewöhnlich lange festhielt, ein auffällig freundliches Lächeln austauschte? Das musste nichts heißen, er konnte sich täuschen.

      Dann hatte er das Gefühl gehabt, dass sie wegschaute, als sie in einem Laden direkt nebeneinander standen, wo er allerdings zu befangen war, sie anzusprechen, nicht mal etwas Belangloses sagte. Hinterher dachte er, gut, dass er es nicht getan hatte und legte sich für solche Ereignisse den Spruch zu Recht, die verpassten Chancen seien vielleicht doch die Besseren. Fehlte ihm da eine Leichtigkeit, war er zu schüchtern, ärgerte er sich dann doch öfter. Zu leicht befürchtete er, aufdringlich zu sein, war vielleicht gerade diesen Personen gegenüber besonders zurückhaltend, wollte sich nicht verraten und wozu sollte eine Annäherung führen?

      Sie lebte allein mit ihrem Kind, und er hatte sie in den ganzen Jahren seltsamer Weise nie mit einem anderen Mann zusammen gesehen oder ignorierte er das geschickt, wusste außerdem,- dass sie aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus stammte, was sie eher noch interessanter erscheinen ließ, ihn gleichzeitig verunsicherte und befangen machte, aber in keinem Fall den starken Anreiz auslöste, den er bei jeder Begegnung verspürte. In dieser Situation musste man schon irgendetwas sagen, so dicht standen sie beieinander und schauten sich an.