Moritz Liebtreu

Wer zählt die Völker, nennt die Namen


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bis zu den dunkel glänzenden Haaren, die locker sanft herunterhingen, öfter von ihr mit der Hand zurückgestreift wurden, was sehr elegant, weiblich wirkte.

      "Gab wohl früher keine Gelegenheit, sich anzusprechen, sich näher kennen zu lernen - hätte es wohl nicht gewagt."

      "Warum nicht gewagt?", ging sie sofort auf seinen Vorstoß ein.

      Die erste etwas umständliche Aussage brachte ihn aber weiter. Jetzt hatte er ungefähr, was er sagen wollte: "Fand Sie, glaube ich, zu attraktiv."

      "Kann ich mir nicht vorstellen", sagte sie ehrlich erstaunt, "dass sie da Komplexe gehabt haben, sie doch nicht, oh nein", schaute sie ihn skeptisch an. Oder, warten sie, ging es mir ganz ähnlich? Darf ich das ganz offen sagen?

      "Ja, auf jeden Fall, ohne Scheu."

      "Sie sind mir so arrogant vorgekommen, unnahbar."

      "Wer weiß immer, wie er auf andere wirkt?"

      "Hatte aber später gar nicht mehr das Gefühl", schickte sie schnell hinter her, als sie sein zweifelndes, bedauerndes Gesicht sah.

      Pu wusste nun, dass an diesem Tag wirklich alles anders war, er sich auf eine sehr riskante Sache einließ, alle bisherigen Grenzen überschritt, aber nun nicht mehr zurück wollte oder konnte.

      Es war ihr in diesem Augenblick gleichgültig, welche Konsequenzen diese Begegnung mit sich brachte, gab sich ganz einem Hochgefühl hin, das sie so schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie konnte seine abtastenden neugierigen Blicke regelrecht körperlich spüren, bot sich ihm an und spürte seine unterschiedlichen Regungen, je nachdem, wie sie sich setzte, ihre Schenkel leicht öffneten, die Beine übereinander schlug oder ihr Rückgrat durchdrückte und sich ihre Brüste leicht anhoben oder senkten. Wahrnehmung und Gestik verhielten sich wie in einem berauschenden Tanz und keiner von ihnen konnte genug davon kriegen, zu schauen und angeschaut zu werden.

      Sie hatte sehr ebenmäßige Gesichtszüge, und er mochte ihre Frisur, die ihr Gesicht so gleichmäßig umrahmte, sehr glatte Ränder warf, sehr exakt geschnitten sein musste. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass sie keine Mannequin-Figur hatte, in den Hüften breiter, weiblicher, nicht völlig schlank war.

      Als er sich leicht vorbeugte, um seine Sitzhaltung zu verändern, spürte er ein Knistern in der linken Innentasche seines Blousons und erinnerte sich an die Papiere, die er dort in der Kneipe provisorisch verstaut hatte. Es passierte leicht, dass sich seine Aufmerksamkeit abrupt veränderte, holte ohne eine Erklärung die Blätter hervor, war auf einmal gespannt, was sie enthielten.

      Zu seinem Erstaunen war das erste Blatt keine Kopie, sondern eine Originalschrift, wie man es deutlich an den ausgestanzten und verschmierten Buchstaben einer wohl schon älteren Schreibmaschine feststellen konnte. Es waren mehrere Dokumente, zum Teil mit der Hand geschrieben und unterschiedlich alt, wie es an dem Papierzustand und teilweise angebrachten Datierungen abzulesen war.

      "Haben sie etwas geschrieben?", fragte sie und wunderte sich etwas über sein Verhalten.

      Er leicht verlegen: "Hm, von einem Bekannten, bin noch nicht dazu gekommen, es mir anzuschauen, ist wohl gar ein Gedicht dabei?"

      "Wenn du willst, lies doch laut, vielleicht passt es zu dem Vortrag?"

      Pu, der nicht gerne laut vorliest, schon gar keine Gedichte, liest aber nur für sich ein paar Worte, überfliegt schnell den Text. „Vorlesen war leider nie meine Stärke. Aber es geht wohl um die Bürgerkriege, über die jeden Tag im Fernsehen berichtet wird. Schlimm, wie viel heute noch mit Gewalt geregelt werden soll -kann ich selbst auch nicht mehr sehen“, letzteres etwas heftiger.

      „Mudidingo“, „Dingomudi“, das sind wohl die Parteien, die miteinader im Krieg liegen.“

      Und nur zu sich selbst: Muss die Sachen wohl gut aufheben (s. Archiv 1, letzte Seite des Buches), der war vielleicht zu betrunken und weiß heute nicht mehr, wo seine Aufzeichnungen geblieben sind.

      Pu schaut auf, " was machen wir nun, wie geht es weiter?" Sie weiß, dass er nicht den Text meint, sagt dennoch: "Es interessiert mich, wie das Gedicht weitergeht - sollen wir nicht Du sagen?"

      "Mein Vorname, François, ist etwas schwierig auszusprechen, ich mag ihn auch nicht, so dass mich alle Pu nennen."

      "Ich finde das originell - dann sag doch einfach C zu mir, dann haben wir etwas gemeinsam", erwidert sie ganz ernsthaft.

      "Gut, C", die Zeit drängt und beide fürchten sich davor, die Situation abzubrechen, wissen nicht, was dann passieren soll.

      Geht man jetzt auseinander, lässt alles wie es war, trifft sich so nicht wieder, sondern nur in Tagträumen? Täuscht man sich in seinen Gefühlen, ist alles nur Einbildung? Nein, das ist keine flüchtige Bekanntschaft mehr - keiner will das. Sie zahlen und draußen, sie steht ganz dicht neben ihm, leicht berühren sich ihre Arme - "vielleicht kannst du mich morgen anrufen, dienstlich, im Büro, sagt er endlich die befreienden Worte und denkt gleichzeitig, nie geht das gut, niemals.

      "Die Nummer?" "Warte!"

      "Ja, fahr du nur, ich habe es nicht so eilig."

      Gefährliche Unterforderung

      Am nächsten Morgen hat er wie fast jeden Tag Schwierigkeiten, aufzustehen. Der Gedanke an die Arbeit, das schmucklos kühle Büro, an die schlechte Atmosphäre im Betrieb, bedrückt ihn jeden Tag aufs Neue; warum kann er sich bloß nicht an diesen Alltag gewöhnen, geht es anderen auch so? Ein ständig wachsender Berg von Routinearbeit, diese Regelmäßigkeit, ist es das? Protokolle lesen, die gleichen Begriffe, Sachverhalte, diktieren, kontrollieren, abzeichnen.

      Manchmal arbeitet er hektisch, nur weg damit, weg, obwohl ihn nichts treibt, - dann sitzt er stundenlang da, tut nichts, träumt vor sich hin, geht auf und ab, möchte einfach nach Hause, die Arbeit ist doch getan, mehr wollten sie heute nicht von ihm. Aber die Rituale sind wichtig, festgelegte Zeiten, Arbeit als Götze. Vorschriften ersetzen Sinn: Produzieren, wegwerfen, recyceln, produzieren. Viele ruinieren nach wie vor ihre Gesundheit, verschleißen sich, bauen auf Verschleiß, gehorchen der Mode und verbrauchen dabei wichtige unersetzbare Vorräte an Rohöl und anderen Stoffen auf der Welt, während ein großer Teil der Menschheit nicht mal das Nötigste hat. Working for Nonsens, hat jemand an die Fabrikmauer gepinselt. Der Götze Arbeit lässt nicht los, hört der Fortschritt da auf, wo der Mensch krank, die Umwelt zerstört wird, es nicht für alle reicht?

      Ständiger Blick zur Uhr, noch ein paar Minuten sind drin, aufstehen erst sieben nach sechs, das ist seine magische Zahl. Ist die Erde eine Frucht, die irgendwann reif ist, zerplatzt, ihre Samen auf den Weltraum verteilt, um irgendwo anders eine ähnliche Entwicklung hervorzurufen? Aber noch ist es nicht so weit, sondern es ist gleich sieben nach sechs.

      Etwas als sinnlos oder unnatürlich zu bezeichnen, ist viel- leicht nur ein Anhaltspunkt für mangelnde Erkenntnis? Überhaupt findet er es mehr als erstaunlich, dass die Menschen fast alles, was sie zusammenbrauen als unnatürlich empfinden, sich selbst außerhalb der Ordnung stellen. So als sei eine Frucht von Würmern befallen und die Würmer seien nicht Teil des Ganzen, hätten keinen Sinn, keinen Auftrag zu erfüllen.

      Es hilft alles nichts, vor allem den Kindern kein schlechtes Vorbild sein, zusammenreißen, den Widerwillen bekämpfen. Morgens spricht er noch eine Art Gebet, in dem er um Schutz für die Kinder bittet, dass sie durch den mörderischen Straßenverkehr, den gnadenlosen Konkurrenzkampf in der Schule keinen Schaden nehmen und bei seiner teilweise sehr brisanten Arbeit keine gravierenden Fehler passieren, die andere gefährden könnten. Für sich selbst wünscht er sonst nichts, glaubt, dass solche Gebete keinen Sinn haben. Nachdem wieder Rassismus, Fremdenfeindlichkeit gegenüber anderen Menschen, Religionen, aufgeflammt sind, hat er sich entschlossen, seine kurze Andacht an alle guten Götter zu richten.

      Die Gedanken an C lassen sich nicht länger zur Seite schieben und er versucht, seine Gefühle ihr gegenüber zu überprüfen.

      Nein, die Nacht, die bei ihm oft eine starke innere Erneuerung bewirken kann, Entschlüsse revidiert oder ins Wanken bringt, hat seine Gefühle eher bestärkt.