Moritz Liebtreu

Wer zählt die Völker, nennt die Namen


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wartest du denn schon?" "Ich wollte dich einfach sehen. Jeder weiß doch, Schluss macht, kann man doch die Uhr nach stellen, müde aus, war es anstrengend?"

      "Nein, langweilig, nervend."

      "Aber das ist vielleicht besonders anstrengend. Findest du es blöd, dass ich hergekommen bin?"

      "Nein, bestimmt nicht komm wir setzen uns ins Auto. Das wird wohl ein Teil unseres Lebens, irgendwo warten, sich kurz treffen."

      "Das klingt so traurig?"

      "Nein - ich glaube, noch trauriger sind wir, wenn wir es nicht tun. War gespannt, ob du anrufst."

      "Das war mir zu unpersönlich, aber das nächste Mal halte ich mich an die Absprache."

      "Na ja", sagte er, "wenn die Handvoll netter Kollegen nicht wäre, hier und da ein Schwätzchen halten, könnte man es gar nicht aushalten, nimmt man das Grau des Büros an, der schäbigen Möbel, das Grau der staubigen Maschinen, der schlecht verputzten Wände."

      "Du bekommst schon wieder Farbe", sagt sie, "erzähl ruhig."

      "Sie mögen es aber nicht, wenn man mal miteinander redet, außerhalb der Konferenzen."

      "Ist ja furchtbar."

      "Die Kommunikation läuft fast ausschließlich über Computer und die Arbeitsleistung kann man damit genau überprüfen, muss allmählich über jede Minute Rechenschaft ablegen. Einige Kollegen sind schon verpflichtet worden, genaue Aufzeichnungen darüber anzulegen und demnächst soll eine Beratungsfirma die Verwaltungsarbeit genau überprüfen. Jeder Arbeitsablauf wird geplant und die Zeiten dafür festgelegt. Bestimmt mehr als die Hälfte der Leute werden dann überflüssig", sagte er sarkastisch.

      "Meinst du so viele?"

      "Eher mehr. Der Leerlauf in der Verwaltung ist gewaltig, wenn die Arbeitsabläufe überschaubarer werden, dann geht es los mit der Einsparung - Ende offen."

      "Was machen die Leute dann? Hast du Angst davor, vor dieser

      Entwicklung?"

      "Möchte da ohnehin nicht alt werden, zu stupide. Im Moment ist die Arbeit noch besser als keine, denken allerdings viele so, heute. Habe aber den richtigen Beruf, es nie bereut, viel Spaß an dem Fach, wären nur die verdammten Arbeitsbedingungen nicht. Diese Form der Arbeit wird sich die Menschheit auf Dauer ohnehin nicht mehr leisten können, nicht mal dieses irrsinnige Hin- und Herfahren der Massen jeden Tag. In der Zukunft muss man viel sorgsamer mit der Energie umgehen, die da verbraucht wird, und man wird gezwungen sein, sich zu fragen, was man überhaupt produzieren kann, um die Umwelt nicht überflüssig zu strapazieren und Rohstoffe zu verschwenden. Vielleicht gibt es für ein bis zwei Tage eine Art Beschäftigung, den Rest übernehmen die Maschinen."

      "Dann hältst du Vorträge", sagt sie."

      "Genau."

      "Und die anderen?"

      Allmählich knurrt ihm der Magen: "Hm, sagt er, die verbringen die Zeit mit essen", sagt er nicht ganz ernsthaft, lacht.

      "Wieso essen?", geht sie auf den scherzhaften Ton ein.

      "Das verbraucht die wenigste Energie, und wenn die Leute dann ein entsprechendes Übergewicht haben, wie sich dies schon in einigen Industrieländern andeutet, sind sie genug damit beschäftigt, sich selbst in der Gegend rumzuschleppen."

      "Du hast vielleicht Ideen und weiter, wie geht die Geschichte weiter?"

      "Sie gehen nicht mehr aus dem Haus, ist viel zu anstrengend. Die Straßen sind so leer wie am autofreien Sonntag, von ganz alleine. Die Einkäufe werden ins Haus gebracht, das besorgt man über Computer. Das bisschen noch vorhandene Arbeit lässt sich vom Bett erledigen und dann immer hinein."

      "Wieso hinein?"

      "Hinein mit den leckeren Sachen, vor allem Süßigkeiten, die lassen sich billig herstellen und so viel essen Dicke gar nicht."

      "Ist das nicht zu langweilig?"

      "Aber sieh mal, alles kommt direkt ins Haus, die Fernsehsendungen, über Telefoncomputer kannst du dich an den Spielen beteiligen, sogar Einsätze an der Börse machen und die neueste Mode, das Sortiment des Kaufhauses, Sonderangebote, direkt per Bildschirm kommen sie zu dir ans Bett, selbst überflüssige Bewegungen in der Wohnung lassen sich so vermeiden. Die Bäume könnten sich von der Umweltbelastung erholen, du wirst es nicht glauben, teilweise würden in Europa wieder riesige Urwälder zurückkehren und nur wegen dem Essen."

      "Igitt, hör auf, und die Kinder?"

      "Leider haben die heute schon ganz früh mit der falschen Ernährung zu kämpfen, fangen schon in der Grundschule an, Diät zu halten, na ja und die Karies, die ständig kaputten Zähne. Massives Übergewicht führt aber auch zur Unfruchtbarkeit, wo- mit sich das Bevölkerungsproblem dann noch von ganz alleine regelt, auf natürliche Weise."

      "Na dir kann da im Moment wenig passieren, schaut ihn etwas provozierend von oben bis unten an, scheinst noch einiges an Energien frei zu haben, aber bei mir und blickt an sich herunter?"

      Sie legt ihre Hand vorsichtig auf die seine. Es wundert ihn, dass sie sich das traut - wie nahe man sich dabei kommen kann, lässt sie einfach da, und er rührt sich nicht.

      "Energieübertragung", sagt er dann.

      "Genau."

      "Und du", sagt er, "was war bei dir?"

      "Um deine Interessen kann ich dich nur beneiden, glaube ich, du bist so engagiert, in vielen Dingen, bestimmt."

      "Warum beneiden?"

      "Verbringe zu viel Zeit mit Einkäufen und so was - essen", lacht.

      "Du hast eine sehr weibliche Figur, nicht dick, finde ich, sehe dich ja heute nicht zum ersten Mal", sagt er, mustert sie nun ganz ohne Hemmungen.

      "Darauf hast du vorher schon geachtet?" und verschluckt gera-de noch, ihn zu fragen, ob er sie schon früher gemocht hat.

      "Ja", antwortet er nur.

      Sie nimmt die Hand weg: "Findest du, möchte gerne etwas abnehmen, klappt aber nicht, esse zu gerne - willkommen im Land der Fetten", beide lachen.

      "Möchtest du wie dieses blonde deutsche Superstar-Mannequin aussehen, wie heißt die noch?"

      "Du weißt nicht mal wie die heißt, der Traum aller Männer?"

      "Nein, ist mir egal."

      "Findest du die nicht reizvoll, attraktiv? Was ist denn dein Typ?"

      "Weiß nicht, das wechselt irgendwie, hat wenig mit dem Aussehen zu tun. Wenn ich mal dachte, ich stehe auf hell blond, langhaarig, lange Beine, habe ich mich garantiert in eine kleine schwarzhaarige mit Kurzhaarschnitt äh, verknallt,

      ist vielleicht der richtige Ausdruck. Mit der Figur hat es noch weniger zu tun, glaube ich. Außer, dass man sich manchmal danach sehnt, was man gerade nicht hat", flüchtete er sich ins Allgemeine.

      "Du meinst nicht, man hat etwas und ist damit zufrieden", geht sie ironisch auf seinen Ton ein, merkt aber, dass sie sich da auf dünnes Eis begeben hat - "entschuldige, war blöd."

      Es passiert selten, dass er zu spät nach Hause kommt, zu sehr bestimmt das Heulen der Sirene den Tagesrythmus. Nachdem man früh zu Abend gegessen hat, geht er öfter noch einmal raus, Literatur für einen neuen Aufsatz zu besorgen, ständig Probleme mit dem PC, kommt er mit dem Textprogramm nicht zurecht, Informationen sind einzuholen, Besorgungen zu machen und jetzt begleitet sie ihn ab und zu, hilft bei der frustrierenden Suche in der Fachbibliothek, möglichst geschieht dies so, als wären sie sich zufällig begegnet. Sie kann ihren Tagesablauf freier gestalten, arbeitet hier und da ein paar Stunden, für die Betreuung des Kindes und Versorgung des Haushalts ist ständig jemand da. Sie ist zupackend, fackelt nicht lange, geht viel praktischer an Dinge heran als er. Zielstrebiger und bestimmter tritt sie auf, lässt sich nicht leicht abschütteln und nimmt ihm, ohne ihn zu verletzen, die eine oder andere Sache aus der Hand. Es ist für ihn eine neue Erfahrung, dass er sich dabei wohl fühlt, wenn ein anderer den Ton angibt.

      "Gib