Dietrich Novak

Götzenbild


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in der Nähe des Großen Tiergartens gefallen. Von dort konnte man das Präsidium im sprichwörtlichen Katzensprung erreichen, und mehr Grün konnte man sich kaum wünschen. Selbst Valeries Katze Minka, die auf dem Weg war, eine ältere Katzendame zu werden, kam dabei auf ihre Kosten. In einer Hinsicht eiferte sie nämlich ihrem Frauchen nach – die Alleingänge. Mehr als einmal hatte Valerie befürchtet, dem geliebten Haustier wäre etwas zugestoßen, aber Minka war stets reumütig mehr oder minder unversehrt zurückgekehrt.

      »Ich würde es begrüßen, wenn sich die Dame und der Herr etwas beeilten«, sagte Hinnerk gespielt streng. Dabei breitete sich in seinem herbmännlichen Gesicht ein Lächeln aus. »Die Arbeit wartet, und auf dich der Kindergarten.«

      »Du redest so komisch, Papi«, sagte Ben.

      »Das kennst du doch von deinem Vater«, meinte Valerie, »er hat sich zwar seinen Zopf abschneiden lassen, aber die mitunter antiquierte Ausdrucksweise hat er beibehalten.«

      »Was ist antiquiert?«, wollte der Kleine wissen.

      »Altmodisch, von gestern, aus der Zopfzeit eben.«

      »Na, wenn es noch gestern modern war, ist es ja noch nicht so lange her und müsste noch gelten …«

      »Was ich doch für einen klugen Sohn habe«, grinste Hinnerk. »Und was den Zopf angeht, das habe ich längst bereut. Jetzt sehe ich morgens aus wie der Bär um die Eier.«

      Ben quiekte. »Wie sieht der Bär denn da aus?«

      »Na, eben wie ich am Morgen.«

      »Das sagt man nur so. Es ist eine Redewendung, allerdings eher aus der Gossensprache«, sagte Valerie tadelnd. »Und wenn man von gestern sagt, meint man nicht den Tag zuvor, sondern aus einer längst vergangenen Zeit.«

      »Und was ist eine Gossensprache?«

      »Gosse nannte man eine Straße oder Gegend, wo die einfachsten Leute lebten. Zwielichtige Gestalten, oft Verbrecher, die eine raue, ordinäre Ausdrucksweise hatten.«

      »Jetzt musst du mir nur noch sagen, was zwielichtig und ordinär bedeutet«, ließ Ben nicht locker.

      »Das hast du nun davon«, feixte Hinnerk. »Was die beiden Wörter bedeuten erklärt dir Frau Voss, ihres Zeichens deine Mutter, ein andermal. Wir müssen uns jetzt nämlich sputen.«

      »Schon wieder, Mami … Sag Papi, er soll normal sprechen.«

      »Da hören Sie es Herr Lange. Also bitte …!«

      Die beiden nannten sich gerne bei ihren Familiennamen, denn sie hatten sich nicht entschließen können, einen gemeinsamen Ehenamen anzunehmen. Was heutzutage kein Problem mehr darstellte. Valerie hatte nicht Lange heißen wollen und keine Lust auf einen Doppelnamen gehabt, und Hinnerk hatte aus Respekt vor seinen früh verstorbenen Eltern nicht Valeries Namen annehmen wollen. Die nicht ganz alltägliche Lösung war im Präsidium oft Anlass für Witzeleien. Einige zweifelten sogar an, ob Valerie und Hinnerk wirklich verheiratet waren.

      »Sag deiner Mutter, dass Sie ebenso von gestern ist wie ich«, forderte Hinnerk seinen Sohn auf. »Die Zeiten, in denen sich Ehepartner gesiezt haben, sind nämlich längst Geschichte.«

      »Ihr seid beide komisch. Die Eltern der anderen Kinder sprechen ganz normal, und Tante Edeltraud auch …«

      »Und eben die sollten wir nicht länger warten lassen. Also Abmarsch!«

      Bevor Hinnerk noch etwas hinzufügen konnte, läutete das Telefon. Am Apparat war Lars Scheibli, der inzwischen den Sprung vom Kommissaranwärter zum Kommissar gemacht hatte.

      »Ihr braucht gar nicht erst herzukommen«, sagte er. »Im Volkspark Friedrichshain hat man eine unvollständige, weibliche Leiche gefunden.«

      »Unvollständig? Was heißt unvollständig?«

      »Na ja, ihr sollen ein paar Gliedmaßen fehlen.«

      »Verstehe. Da sie schon tot ist, kann sie noch einen Moment warten«, antwortete Hinnerk. »Ich muss erst noch meinen Sohnemann in den Kindergarten bringen. Aber wenn es dir ein Trost ist, schicke ich Valerie.«

      »Gut, dann fahre ich schon mal voraus. Bis dann.«

      »Halt mal, der Park ist groß. Geht es etwas genauer?«

      »Ach so, entschuldige. Es ist der Bereich an der Friedenstraße. Dort, wo es einige Parkbuchten gibt. Ich warte da.«

      »Alles klar. Bis später im Präsidium.« Hinnerk legte auf.

      »Wohin schickst du mich«, wollte Valerie wissen. »Ich hoffe nicht in die Wüste …«

      »Im Gegenteil, mein Schatz, dorthin, wo es ziemlich grün ist. Volkspark Friedrichshain, Friedenstraße, Parkbuchten. Lars erwartet dich. Komm, Ben! Du ziehst schon mal deine Jacke an. Das kannst du doch schon allein.«

      Der Fünfjährige gehorchte und ging auf den Flur.

      »Weibliche Leiche, die nicht ganz vollständig ist«, flüsterte Hinnerk. »Du wirst ja sehen.«

      »Und warum kommst du nicht nach?«

      »Du kennst doch Lars. Er brennt darauf, etwas zu tun zu haben. Und zu dritt müssen wir wirklich nicht dort auftauchen. Unser Chef würde glatt von Verschwendung reden.«

      »Unser aller Paul soll sich Sorgen um sein Haupthaar machen, dann hat er genug zu tun«, frozzelte Valerie und spielte damit auf den alten Joke an, der im Präsidium die Runde machte. Der Chef der Abteilung hieß nämlich Schütterer und hatte eher lichtes Haar. Und respektlose Zeitgenossen wie Valerie meinten mitunter: »Paul wird auch immer schütterer.«

      »Wann gibst du deinen Widerstand gegenüber dem Boss eigentlich endlich auf?«

      »Und wann hörst du auf, ihm in den Arsch zu kriechen?«

      Hinnerk räusperte sich lautstark. »Ähem … das Kind. Soviel zum Thema Gossensprache …«

      »Der schnappt von dir noch ganz andere Sachen auf. Und ich möchte gar nicht so genau wissen, was er alles im Kindergarten hört.«

      Als Valerie in der Friedenstraße ankam, sah sie schon Lars am Straßenrand winken. Sie parkte ein und stieg aus dem Wagen.

      »Guten Morgen, Herr Kollege. Hast du im Präsidium übernachtet, oder was?«

      »Ich bin gerne sehr pünktlich«, sagte der jugendlich wirkende Mann etwas pikiert. »Und von wem ihr die Nachricht erhaltet, ist doch letztendlich egal.«

      »Ja, es kommt nur öfter vor, dass du der Erste bist … aber egal, wo müssen wir hin?«

      »Wir können uns direkt von hier aus in die Büsche schlagen. Der Täter hat sich nicht besondere Mühe gegeben, die Leiche zu verstecken. Schließlich gibt es ganz andere Orte in Berlin …«

      »Kann sein, dass er Aufmerksamkeit erringen will …«

      An der Fundstelle wuselten schon die Kollegen der KTU herum. Der Bereich war weiträumig abgesperrt. Auch Rechtsmedizinerin Tina Ruhland war schon bei der Arbeit. In früheren Zeiten hatten Tina und Valerie eine sexuelle Beziehung gehabt, bis es mit Hinnerk ernst geworden war, was Tina Valerie gerne unter die Nase rieb. An passender oder unpassender Stelle.

      »Hallo Tina, kannst du schon Näheres sagen, wie Todeszeitpunkt und Fundort gleich Tatort?«

      »Guten Morgen, sind Mann und Kind schon versorgt?«

      »Du kannst es nicht lassen …«, sagte Valerie gereizt.

      »Man wird doch mal ein Späßchen mach dürfen. Oder haben wir heute schlechte Laune. Wird der Familienstress langsam zu groß?«

      »Das hättest du wohl gerne. Und wir haben keine schlechte Laune, aber du vielleicht. Also, beantworte bitte meine Fragen. Für Späßchen dürfte das hier nicht der rechte Ort sein.«

      »Weibliche Leiche, zirka fünfundzwanzig Jahre, Todeszeitpunkt nicht feststellbar, da die Leiche präpariert wurde. Deshalb Fundort mit Sicherheit nicht