Johannes Mario Ballweg

Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm


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Pavillon am Acer Creek

      „Schon ein bisschen kalt hier, oder nicht Bubi? Ich werde uns ein kleines Feuerchen machen, hilfst du mir dabei?“ Ich antwortete: „Soweit das mit meinem Fuß möglich ist, gerne.“ Wir gingen aus dem Pavillon heraus und Alph meinte, ich solle mich auf die Bank vor der Feuerstelle setzen und mit ein paar Streichhölzern, welche an der Zigarettenstange befestigt waren, dort ein bisschen Reißig anbrennen, sodass wir gleich eine gute Flamme haben. Aha, jetzt verstand ich, wozu er die Stange Zigaretten gekauft hatte, wegen… wegen den Streichhölzern? Nein! Das ist doch hirnrissig, da könne man sich doch direkt Streichhölzer im Pack kaufen und nicht noch extra das Tabakprodukt? Ich war mit meinen Vermutungen über die Zigarettenstange wieder am Anfang angelangt. Ich werde es schon noch herausfinden. Ich für meinen Teil verabscheue das Rauchen, in der Schule sagen sie, es sei schädlich, verstopft die Lunge und Atemwege und es nimmt einem die wertvolle Lebenszeit. Aber leben und leben lassen. Jeder soll tun und machen, was er für richtig hält, solange er mir damit nicht zu Schaden kommt ist das alles legitim. Der Zunder war etwas angefeuchtet vom Nieselregen, welcher uns ja schon auf der Brücke überraschte. Aber ich hielt ihn direkt unter die heiße Stichflamme der Maplewood-Streichhölzer und es entfachte sich nach kurzer Zeit ein Feuer. Ich blies die Flamme weiter an, in der Hoffnung, sie werde immer größer und es funktionierte. Ich legte den Reißig in die Feuerstelle und Grandpa kam einen Moment später mit ein paar Ästen und etwas Holz. Es rußte sehr, das Holz war nicht das Trockenste, aber es hielt das Feuer im Gange. Langsam wurde uns auch wärmer. Wir setzten uns wieder in den Pavillon, öffneten alle Fenster und Türen und die Wärme des Feuers gelangte schnell in das Innere, wir hatten es nun richtig gemütlich. Grandpa schnappte sich zwei „Autumn 4.9“, öffnete diese an einer Kante des Tisches und gab mir eine Flasche. „Zum Wohl Bubi, auf uns, auf diesen Abend, auf dass er uns für immer in Erinnerung bleibt.“ „Bei drei Pils per-Capita bleibt es dies sicherlich.“, antwortete ich mit lachender Stimme. Alph grinste mich an: „Ich bin mir sicher, den Humor und den Genuss…, das hast du von mir geerbt.“ „Gott sei Dank.“, erwiderte ich und nahm einen kräftigen Schluck des leckeren „Autumn 4.9“ Bieres. Grandpa stellte sein Bier ab und schaute mich fragend an: „Wollen wir es wagen?“ Ich nickte und lächelte ihn an. „Einen perfekteren Ort finden wir dafür sicherlich nicht mehr.“ Ich griff nach meinem Memories-Buch und schlug hastig die erste Seite auf.

       - SEITE 1 – Der Morbus Hodgkin

      

„Polaroids und Erinnerungsfotos von John ab 1980“. Meinen Namen konnte man nicht richtig erkennen, ein Tintenklecks verdeckte die Schrift. Die Fotos sollten etwas ganz Besonderes sein, denn damals, also 1980 beginnend, hatte man noch keine so modernen Kameras, man hatte nur Sofortbildkameras, sogenannte Polaroid-Kameras, die das Bild Sekunden nach der Aufnahme ausdruckten. Man musste nur ein Polaroid-Papier einlegen, das Foto schießen, das Papier entnehmen und durch leichtes Herumwedeln im Wind dann das Foto entwickeln.

      Ich war schon sehr gespannt und gleichzeitig so aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten, denn irgendwie wirkte allein der Gedanke an diese speziellen Polaroids und anderen Erinnerungsfotos sehr tiefgehend. Als ob man die Zeit zurückdrehen konnte, sich in einen bestimmten Lebensabschnitt wieder einnistet und diesen erneut durchlebt. Herrlich! Unter der Überschrift des Buches war ein Foto von mir und meiner Großmutter zu sehen, kurz nach meiner Geburt. Das Foto entstand im Krankenzimmer meiner Mom, Grandma saß mit mir auf dem Bett, auf dem Nachttisch standen verschiedene Tablettenverpackungen und ein Glas Wasser. Mom war nicht zu sehen. Beth hielte mich in ihrem Arm und sah sehr glücklich aus. Unter dem Bild war eine Bildunterschrift zu finden: ~ Die glücklichste Grandma aller Zeiten – 08.01.1980 ~. Alph fing an zu erzählen: „Ist...Ist sie nicht wunderhübsch?“ Ich legte meine Hand um ihn und lächelte ihn an. „Ja, in der Tat“, antwortete ich. Grandpa fuhr fort: „Es war ein kalter Wintertag damals. Am 08. Januar 1980 kamst du um 13:57 zur Welt. Aber nur, weil deine Mom eine Kämpferin war, weil sie sich für dich entschieden hatte. Wir wissen beide, was sie vor und nach deiner Geburt durchstehen musste.“ Mir wurde auf einmal sehr kalt und schaurig, es fuhr mir richtig den Rücken herunter. Meine Gedanken schweiften ab, tief in mich hinein, in eine Erinnerung, in der mir Mom etwas von meiner Geburt erzählte. In Moms Körper wurde während der Schwangerschaft mit mir ein bösartiger Lymphknotentumor diagnostiziert. Morbus Hodgkin sagten sie zu diesem abscheulichen Ding. Er streute schon enorm und die Lunge, der Blutkreislauf und viele andere überlebenswichtige Organe waren befallen. Die Ärzte gaben ihr nicht mal mehr ein halbes Jahr zu leben, ihre Überlebenschancen strebten gegen Null. Eines Tages, so erzählte mir es Mom, meinten die Ärzte, sie müsse sich zwischen ihrem Leben und dem meinem entscheiden. Dass sie weiterleben könne, müsse man mich wegmachen, abtreiben, vernichten, ungeborenes Leben töten, so wie die Frau es an der Brücke getan hätte, wenn wir nicht angehalten wären. Doch Mom sagte, lieber solle ich geboren werden und sie solle sterben, als dass sie mir den Anblick dieser schönen Welt verweigere. Die Ärzte willigten ein und somit setzten sie die Chemotherapie ab, was zur positiven Folge hatte, dass ich mich gut und gesund entwickeln konnte, jedoch zur negativen Folge hatte, dass der Krebs in meiner Mutter immer mehr streute und ihr Körper immer mehr kaputtging. Grandpa stupste mich an: „Bist du noch da? Ist alles okay bei dir? Du wirktest gerade sehr in dich gekehrt.“ Ich entfernte mich von meinen Gedanken und schüttelte nur den Kopf und sagte mit freundlicher Stimme, dass er doch bitte fortfahren möge. Er setzte seine Gedanken fort: „Es hatte geschneit, dass es gerade so krachte. Über 1,2m Neuschnee in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar. Dein Dad und ich schoben den ganzen Morgen Schnee. Die Front Porch war so zugeschneit, dass wir im 1. Stock aus dem Wintergarten herausklettern mussten, um von außen die Tür und den Weg frei machen zu können. Die Wehen von Alexa setzten morgens schon ein, also war schneller Handlungsbedarf erforderlich. Wir setzten deine Mom in Grandmas alten BMW und fuhren durch das komplett verschneite Acer Falls County. Die Nachbarskinder Donny Jefferson und Miranda Ash liefen mit ein paar Freunden aus dem Nachbarsgut Schlittschuh auf dem zugefrorenen Red-Lake und an der einen oder anderen Ecke wurde auch eine wilde Schneeballschlacht veranstaltet. Die Straßen waren so glatt, dass wir gerade mal 20 Miles per Hour schafften. Das ist nicht gerade viel, aber das Acer Falls Hospital war ja Gott sei Dank nur 3 Meilen westlich von unserem Gut. Wir kamen also dort relativ schnell an, ich glaube es waren 15 Minuten Autofahrt. Sie erwarteten Alexa bereits und schoben sie mit einem Rollstuhl in die Entbindungsstation.

      Deine Mom war damals sehr schwach, sie litt sehr unter ihrer schweren Krankheit und das sah man ihr auch an. Wir setzten uns draußen in den Gang der Entbindungsstation und warteten ab. Wir waren alle vor Ort. Tante Simona war aus Wakecreek, Wisconsin angereist. Dein Onkel Marius von den Special Forces hatte seinen Auslandseinsatz unterbrochen und ist aus Afghanistan in einer Nacht- und Nebelaktion nach Acer Falls geflogen. Ich trank eine Coke, ich brauchte nach all den Anstrengungen erstmal was für meinen Kreislauf, nicht, dass der mir auch noch abhauen würde. Wir sprachen draußen sehr wenig, waren alle sehr angespannt. Nach einer mehrstündigen Operation kam eine nette Schwester aus dem Entbindungstrakt heraus, lächelte uns an und berichtete uns, du seist per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen und seist putzmunter und gesund. Wir schauten uns gegenseitig an, nahmen uns in die Arme und waren so überglücklich, dass es dir gut ging. Das Bild von dir und Grandma hatte Simona geschossen. Deine Grandma, dein Dad, Tante Simona, Onkel Marius und ich kümmerten uns alle sehr um dich. Wir zogen dich auf. Du warst was ganz Besonderes für uns, du warst neben Alexa, Simona und Marius unser viertes Kind. Wir gingen immer mit dir zusammen in die Kirche und beteten für deine Mom.“ Ich begann zu weinen, denn die Situation überkam mich. Meine Tränen liefen wie die Acer Falls herunter und platschten auf das Memories-Buch. Ein paar Tränen trafen die Worte „glücklichste Grandma“ und die Tinte verlief ein wenig. Es waren teils Tränen der Trauer aber auch Tränen der Freude. Trauer, weil Mom dem Tod so nahestand, Tränen der Freude, weil sie ihr Leben aufs Spiel setzte, um das meine zu retten und der Gedanke an meine religiöse Überzeugung, daran, dass Gott den Menschen das Leid nimmt und, dass es nach dem Tod weitergeht, das ewige Leben. Meine Mom ist eine wahre Kämpferin. Alph nahm mich in den Arm: „Alles ist gut, deiner Mom geht es wieder gut, sie ist gesund und hat alles überlebt, das weißt du doch. Krebs sollte nur ein Sternzeichen sein, ja… es sollte nur ein Sternzeichen sein!“ Grandpa drückte mich schon etwas zu fest und begann ebenfalls zu weinen. Nach kurzer Zeit fand ich mich wieder,